Priestertochter vs Orakel von Rethra

Rethra, ein altes slawisches Heiligtum in Mecklenburg-Vorpommern, Schauplatz zweier historischer Romane. Sie ähneln einander frappierend in der Grundstruktur: Die Tochter eines Heidenpriesters verliebt sich in einen Christen und muss eine schwere Entscheidung treffen. Das Schicksal ihrer Familie hängt davon ab. Sowohl das Heiligtum Rehtra als auch die slawischen Stämme spielen eine große Rolle.
So viel zu den Ähnlichkeiten. Betrachten wir nun die frappierenden Unterschiede. Ich zitiere Ausschnitte im Rahmen von § 51 UrhG.
„Die Priestertochter“ Autor: Titus Müller, 1. Auflage 2008

Die Finger der Flötenspieler hüpften auf den Löchern. Ihre Füße klopften den Boden. Es erhob sich eine schrille, fröhliche Melodie in den Himmel, und obwohl sie neu war, sangen Dutzende aus vollem Hals mit. Dunkel quäkte eine Birkentute. […]
Alena lächelte den jungen Tessiner an, der sie im Tanz am Unterarm umgriffen hielt und mit sich wirbelte. Die Schritte lief sie von allein, sie verschwendete keine Aufmerksamkeit darauf; lang, lang, kurz, kurz, lang. Die Musik befahl, und Alenas Füße gehorchten willig.
Er hatte keine Ahnung, wer sie war. Auch die anderen Kessiner nicht. Auf eine vergnügte Art machte es sie unsicher. Der hübsche Schwarzkopf tanzte mit ihr, weil sie ihm gefiel, nicht, weil sie die Tochter ihres Vaters war.

Analysieren wir die Vorstellung der Hauptfigur Alena. Zuerst wird die Kulisse gezeigt. Sie ist erfüllt von Bewegung. Finger hüpfen auf Löchern der Flöten, Füße klopfen auf den Boden, Personen singen aus vollem Hals. Die Beschreibung ist lebendig, vermittelt ein anschauliches Bild der Vorgänge, liefert genug Stoff für das Kopfkino des Lesers.

Alena selbst ist Teil dieser Choreographie. Sie tanzt, die Füße handeln selbstständig. Eine leichte Andeutung macht neugierig. Alenas Tanzpartner weiß nicht, wessen Tochter sie ist. Anscheinend ist das von Bedeutung, denn offenbar behandeln die Leute sie anders, sobald sie Bescheid wissen. Mit 80 Worten (Absätze Zwei und Drei) erfährt der Leser indirekt durch Zeigen viel über die Hauptfigur des Romans.

Derartige Andeutungen sind ein Stilmittel. Sie erzeugen Neugier, vermitteln das Gefühl, dass hier kein normales Mädchen tanzt. Auf diese Art und Weise setzen Autoren Anreize für das Weiterlesen.

Die Sprache selbst ist lebendig. Es finden sich leider einige „war“, drei Stück in den insgesamt 119 Worten des Textauszuges. Hier hätte man noch gegensteuern, einen Ersatz für das Wort „war“ finden sollen. Aber das ist nur ein kleiner Schönheitsfehler.

Nun das zweite Buch:
„Das Orakel von Rethra: Dana, die Tochter des Priesters“, Autor: Heinz Günther, 1. Auflage 2011

Dana war die Tochter des Priesters und Anführers der Kriegers des Slawenstammes der Redarier. Sie genoss im ganzen Stamm wegen ihres stets freundlichen, offenen Wesens eine Sympathie und Achtung wie kaum ein anderes Stammesmitglied.
Ihr Vater Risan hatte vor ihrer Geburt immer gehofft, dass seine Frau ihm einen Sohn schenken würde. Das wusste auch seine Frau, die bei der Geburt ihrer Tochter gestorben war. Sie hätte statt Freude eher Enttäuschung empfunden, da sie den Wunsch ihres Mannes nicht erfüllen konnte.
Jetzt, im achtzehnten Lebensjahr verfügte Dana über alle Attribute einer slawischen Schönheit, die weit und breit keine Konkurrenz zu fürchten hatte. Ihr langes, dunkles Haar trug sie nach hinten zu einem Zopf zusammengebunden. Tiefbraune Augen, die immer zu strahlen schienen, verbreiteten einen Liebreiz, dem sich kaum jemand entziehen konnte.

Hier heißt die Tochter des obersten Priesters Dana. Das ist nicht der einzige Unterschied. Das Wort „war“ kommt im Textauszug mit 129 Worten zwei Mal, „hatte“ und „hätte“ insgesamt drei Mal vor. Kulisse existiert nicht, stattdessen erzählt der Autor. Bewegung ist nicht vorhanden, was mit der fehlenden Kulisse zusammenhängt. Berichtet wird in einem langweiligen Stil ausschließlich Backstory. In den vorgestellten 129 Worten regiert der Stillstand. Gezeigt wird absolut nichts. Stattdessen erfährt der Leser Details über Dana ähnlich dem Text eines Bewerbungsschreibens:

Ich heiße Dana und bin die Tochter des Risan. Meine Mutter starb leider bei der Geburt. Vater wollte immer einen Sohn, war enttäuscht über die Tochter. Trotzdem mauserte ich mich zu einer slawischen Schönheit. Ich bin jetzt 18 Jahre alt und sehr beliebt in meinem Stamm. Meine Haare sind dunkel und meine Augenfarbe ist braun. Für die angebotene Stelle als Hauptfigur des Romans halte ich mich aus den genannten Gründen für sehr geeignet. Es würde mich freuen, wenn Sie mir eine Zusage geben könnten.

Für das Kopfkino des Lesers liefert dieser Romanbeginn leider nichts. In der vorliegenden Form handelt es sich um einen Bericht, der die nüchterne Langeweile verbreitet, die Berichten leider anhaftet.
Wie geht es nach dem Textauszug auf den nächsten 5 Seiten weiter:

Roman Priestertochter

Alena tanzt weiter und auch heftiger, will einen Slawenfürsten durch ihr Verhalten beeindrucken. Sie fragt ihren Tanzpartner über den Fürsten aus. Man erfährt durch die Dialoge, dass der Stammesführer eine Frau sucht. Der Tänzer ist beeindruckt vom Tempel, meidet ihn aber wegen der dortigen Geister. Alena antwortet spöttisch darauf. So besonders sei es im Inneren nicht. Ein Bote taucht auf, enttarnt Alena als Tochter des Hohepriesters. Sie soll ihn aufsuchen. Der Tanzpartner reagiert nun verschüchtert, beinahe unterwürfig. Alena ist wütend, da sie es genoss, als Unbekannte beim Stamm der Kessiner zu tanzen. Sie geht widerwillig zum Tempel, redet mit ihrem Vater.

Fazit: Alenas persönlicher Hintergrund und ihre Planungen werden dem Leser durch ihre Handlungen gezeigt.

Roman Orakel von Rethra:

Der Erzähler im Hintergrund berichtet, dass Danas Vater sich verpflichtet fühlte, sie als Krieger zu erziehen. Ferner wird erzählt, dass sie gut mit Pfeil und Bogen umgehen kann. Die Kulisse taucht erstmals auf. Risan sitzt vor einer Hütte in der Abendsonne und beobachtet seine Tochter beim Reiten. In einer weiteren Backstory wird erzählt, dass Dana gerne reitet, ihr Pferd liebt und ihre Pfeile stets das Ziel treffen. Der Erzähler lässt sich aus über das wehende Haar und die wohlgeformten Rundungen Danas. Danach erfolgt ein Schwenk in die Gedanken von Dana. Es wird erzählt, dass sie den Sohn eines anderen Priesters beeindrucken will. Es folgt eine Art innerer Monolog Danas über den Priestersohn, den Stamm und das Zeitgeschehen. Danach wird berichtet, dass im Heiligtum ein Feuer ausbricht. Der Erzähler versichert, dass man das Feuer schnell löschen konnte.

Fazit: Danas persönlicher Hintergrund und ihre Planungen werden durch Backstory und sonstige Zusammenfassungen erzählt.

Vergleich der Leserbewertungen bei Amazon Stand September 2017:

Priestertochter: 13 Bewertungen, Durchschnittsnote 4,5

Orakel von Rethra: 4 Bewertungen, Durchschnittsnote 5,0

Also eine bessere Note als der Roman von Titus Müller. Analysieren wir deshalb die Details der Lesermeinungen. Eine der 4 Bewertungen ist merkwürdig: Transaktion sehr gut verlaufen. Ware war wie in der Beschreibung und gefällt mir daher entsprechend auch sehr gut. Sehr empfehlenswert.

Hat der Kerl statt eines Buches irgendwas anderes gekauft? Kühlschrank? Blumenvase? Diese nichtssagende Bewertung sollte man bei der Zählung also unberücksichtigt lassen.

Aus einem weiteren Leserkommentar erschließt sich, dass der Rezensent sich intensiv mit der Handlung beschäftigte und einige schwere Recherchefehler des Autors aufdeckte. Trotz dieser bedenklichen Tatsachen vergibt der Leser die volle Punktzahl. Faszinierend.

Ein anderer Rezensent lässt sich überraschend zu folgendem Kommentar hinreißen: Filmkritiker sollten sich dafür interessieren. Hier fänden sie Stoff für einen sicher mitreißenden, spannenden und zugleich gesellschaftlich lehrreichen Film!

Ich habe es mir angewöhnt, aus den ersten Seiten auf den Rest eines Romans und das handwerkliche Geschick eines Autors zu schließen. Es funktioniert bisher einwandfrei.

Was verrät mir Titus Müller? Die Vorstellung der Kulisse anhand der Handlungen der agierenden Personen ist gut gelungen. Dass Alena die Tochter eines bedeutenden Mannes ist, erfahren wir indirekt im Rahmen der Geschehnisse. Die Sprache ist lebendig, vermittelt ein anschauliches Bild der Szene. Die Worte lassen auf ein gutes Buch schließen.

Was verrät mir Heinz Günther? Die Hauptfigur wird im langweiligen Erzählstil in Form eines Berichtes vorgestellt. Kulisse findet so gut wie nicht statt. Ich erkenne keinerlei Gespür für ein Szenenbild. Die Ablieferung eines Reports ist kein Grund für Applaus. Jeder ist fähig, einen Bericht schreiben, sofern er Ereignisse in einer chronologischen Reihenfolge sortieren kann. Das ergibt aber keinen spannenden Roman.

Es kommt mir deshalb sehr merkwürdig vor, wenn ein Rezensent meint, in dem Bericht den Stoff für einen packenden Film finden zu können. Solche „Drehbücher“ findet man höchstens in der US-Filmschmiede „The Asylum“ oder bei SchleFaZ (bzw. beiden, da die Billigschinken von Asylum stets ein dankbares Opfer darstellen. (SchleFaZ, „Schlechteste Filme aller Zeiten“, ist eine Sendung auf Tele5)
Andererseits existieren durchaus Gemeinsamkeiten zwischen Filmschmiede und Buchautor. Das Geschäftsmodell von „The Asylum“ ist es, einen hervorragenden und erfolgreichen Film, z.B. Titanic von James Cameron, mit Änderungen billig zu kopieren. Die Handlung spielt nun in der Gegenwart, ein originalgetreuer Nachbau der Titanic gerät auf der Jungfernfahrt in böse Schwierigkeiten. Die Schauspieler sind talentfrei, die Kulisse sieht aus wie vom Sperrmüll und das Drehbuch ist ein Witz. Drei Punkte, die Titanic 2 zu einem SchleFaZ-Film machten.

Das „Orakel von Rethra“ handelt ähnlich wie „The Asylum“. Man nehme den Plot eines erfolgreichen Autors wie Titus Müller, verlege ihn vom Jahr 874 ins Jahr 1066, belasse aber die Handlung mit Priestertochter und Glaubensstreitigkeiten. Mangels handwerklicher Fähigkeiten schwelgt man gleich am Anfang in Backstory und Erzählungen, anstatt wie Titus Müller eine lebendige Kulisse zu präsentieren.

Interessant, diese Ähnlichkeiten.

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Bildquelle

  • Priestertochter: www.amazon.de

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