Anne

„Das ist ja nicht so gut…“
sage ich, streiche mir eine lästige Strähne aus dem Gesicht und drehe meine Frühstückszigarette fertig.
„Und was machst du nun in der Sache?“

Der Typ, der mir für die vergangene Nacht Obdach gewährt und gerade wohl etwas trauriges oder unerfreuliches erzählt hat, steht mit verschränkten Armen an sein Küchenfenster gelehnt und mustert mich. Nicht forschend oder abschätzend, sondern eher so, als wäre er in Gedanken.

Eine kleine Uhu-Falte bildet sich an seiner Nasenwurzel. Sein Blick wandert über meinen Körper, während ich im Schneidersitz auf seinem Küchenstuhl hocke und meine erste Zigarette anzünde.
Versucht der mir in den Ausschnitt zu starren? Instinktiv raffe ich das doch ziemlich offene Hemd, das er mir zum Überziehen gegeben hat, mit der freien Hand über der Brust zusammen.
Nein, sein Gesichtsausdruck ändert sich nicht. Also doch nur verträumt.

Na toll. Ich sitze hier halbnackt in seiner Küche und er träumt sich woanders hin?
Tolles Kompliment.
Dabei sehe ich bei Weitem nicht so zerstört aus wie er, nehme ich an. Gestern abend waren seine etwas spärlichen Haare noch akurat zum Scheitel gekämmt, jetzt sieht sein Kopf eher aus wie ein Hamster-Böller-Experiment.

Überhaupt, jetzt so im trüben Tageslicht eines eher belanglosen Novembersonntagmittag muss ich erkennen, dass 3 Shots und 4 Rotwein, gepaart mit einer fortgeschrittenen Uhrzeit und einem perspektivisch relativ langen Heimweg, meine Prioritäten bezüglich der Männerauswahl wohl eher auf die Entfernung zur Wohnung herabsetzen.

Wobei, beschweren will ich mich nicht. Die Nacht, soweit ich noch alles weiß, war angenehm und fein. Kein ewiges Geplänkel, keine Celine-Dion-CD vorweg, kein langes Drumrum. Einfach Spaß und Sex. Der Typ ist schon witzig, dass war er in der Bar schon. Und doof ist er auch nicht. Ganz im Gegenteil. Aber eben auch kein Keanu Reeves oder gar ein Hedlund. Wahrscheinlich wäre ich ohne die Shots nicht mit zu ihm gegangen. Dann doch lieber die 40 Minuten Bahn. Wenn noch eine gefahren wäre.

Mittlerweile bin ich mir sicher, dass er tief in seinen Gedanken ist. Sein Blick ruht verträumt auf mir, sein Gesicht verrät aber eine innere Anspannung. Ob er wohl darüber nachdenkt, wie ich heiße? Soll ich einfach mal meinen Namen sagen? So ganz dezent? Vielleicht in der dritten Person: „Hey, gib doch der Anne mal bitte die Milch!“
Obwohl, dann tut er so, als hätte er den sowieso gewusst. Nein, soll er mal ruhig grübeln. So schwer ist mein Name ja nun auch nicht. Den wird man sich ja wohl mal 12 Stunden merken können, erst recht, wenn man noch ganz andere Sachen geteilt hat.

Oder hat er vielleicht eine Freundin und überlegt jetzt, wie er die vergangene Nacht vertuschen kann? Obwohl, wenn ich mich so in seiner Küche umsehe, sieht es nicht so aus, als würde hier dauerhaft eine Frau wohnen. Das Bett im Schlafzimmer war zwar groß, aber ansonsten macht die Wohnung doch eher den Eindruck einer Räuberhöhle. Bei der Farbgebung der Wände war auf jeden Fall eine Frau involviert, aber der Rest ist doch schon ziemlich unkuschlig. Es gibt haufenweise technischen Krimskrams, Kabel, Stecker, Werkzeug und nerdiges Zeug. Zum Teil auch wieder interessant, zum Beispiel diese Gitarre an der Wand über dem Küchentisch. Die hat gestern Nacht geleuchtet. Ich greife zum Schalter an dem Kabel, dass von der Gitarre herunter zur Steckdose verläuft und schalte die Gitarre ein. Ja, sie leuchtet. Eigentlich doch ganz nett.

Der Baumstamm, der als Fuss für den Küchentisch dient, ist eigentlich auch cool. Oder das er das Licht in seinem Schlafzimmer über eine App steuert. Aber das eben überall Sachen rumliegen, die der Wohnung dann doch den Touch einer Reparaturwerkstatt für „Wasweißichfürelektrischerscheiß“ zur Hochsaison geben, macht das alles wieder kaputt. Ist das vielleicht Absicht? Sollen sich Frauen hier vielleicht gar nicht wohl fühlen? Braucht er die ganzen Werkzeuge, Elektroteile und Kabel gar nicht und hat sie einfach nur vorsorglich platziert? Ein Trick?
Ha! Da kennt er mich aber schlecht, davon lasse ich mich nicht aus der Fassung bringen. Wenn ich wohnen würde, dann könnte er den ganzen Kram hier auch liegen haben.

Nach und nach würde ich ihn dann fragen, ob er die Sachen gerade in Benutzung hat oder ich würde sie einfach wegräumen. Merkt er sowieso nicht. Am Besten in eine der großen Kisten in seinem Schlafzimmer. Die kann man dann prima unters Bett schieben und gut ist. Aus den Augen, aus dem Sinn. Ein paar schöne Bilder an die Wände, mal gründlich durchwischen und mit dem Lappen über die wenigen Möbel und schon kann es hier auch wohnlich sein. Teppiche braucht der Kerl auf jeden Fall auch. Das ist vielleicht sogar ein ganz guter Einstieg. Wir beide mal einen Tag durch IKEA schlendern und Teppiche, Bilder und vielleicht auch diese kleinen Zierkissen und einen Überwurf für sein Sofa kaufen. Einen vernünftigen Hängeschrank für die Küche könnte man dann auch gleich mitnehmen. Die nächste Frau würde sich bedanken.
Ach, Anne!
Ich bin wohl noch betrunken. Jetzt richte ich hier einem fremden Kerl die Wohnung ein, damit seine nächste Übernachtungsgefährtin es etwas wohnlicher hat. Wie blöd ist das denn. Wenn, dann würde ich hier sowieso nur für mich neu dekorieren. Und das ist wohl nach einer Nacht etwas frühzeitig.
Sortiere deine Gedanken!

Sieh ihn dir an. Mach dir eine Liste. Was haben wir hier?
Also, auf der PRO-Seite steht: er kann gut küssen. Der Sex war fein, hab selten so viel gelacht und Spaß gehabt. Genau, er bringt mich zum Lachen. Man kann sich mit ihm unterhalten und er scheint was im Kopf zu haben. Er ist musikalisch. Er kann sich benehmen und hat noch ein wenig was von „alter Schule“. Tür aufhalten, in den Mantel helfen. Und seine Augen sind süß.
Auf der CONTRA-Seite steht: er ist klein. Etwas lichtes Haar und einen komischen Kleidungsstil hat er. Und seine Wohnung geht ja mal gar nicht. Also nicht ohne strenge Führung.
Und man muss auf jeden Fall…

„Du solltest jetzt gehen, Anne“ sagt er und drückt mir meine Klamotten in den Arm. Ich habe gar nicht bemerkt, dass er weggegangen war. Was ist denn mit ihm kaputt?
„Man kann Menschen nicht einfach formen!“ sagt er noch, bevor er mich sehr bestimmt durch seine Wohnungstür schiebt, dabei habe ich noch nicht mal meinen zweiten Schuh richtig an.
Verrückter Kerl…