Ebbe und Flut in den Sand geschrieben
Ebbe und Flut

Die Rakete im Eimer

„He, Herr Wolkenstein, was machst du denn da? Kannst du dich nicht ganz in Ruhe sonnen, so wie alle anderen auch?“

Herr Wolkenstein schwang einen Eimer in der Luft herum.
Seinen Strandbedarf hatte er immer dabei. Eine Schaufel, einen Eimer, Förmchen, eine Spielzeugautofähre und ein Seil. Gerade war er zum Wasser gerannt und hatte seinen Eimer aufgefüllt. Er hatte etwas herausgeschüttet, dann wieder nachgefüllt und war zur Decke zurück gerast. Den gefüllten Eimer schwang er in der Luft herum. Ich duckte mich unweigerlich, denn es spritzten noch einige Tropfen vom Eimer ab.

„Was machst du da, Herr Wolkenstein?“

„Du hattest mir mal gesagt, dass es in einer Rakete Ebbe und Flut gibt. Der Eimer ist jetzt meine Rakete die mich umkreist, ich will in meinem Eimer auch Ebbe und Flut sehen.“

„Das habe ich gesagt, stimmt. Aber das stimmt auch nur so in etwa. Auf eine Rakete in einer Umlaufbahn um einen Planeten wirken Gezeitenkräfte. Und Gezeitenkräfte sind die Kräfte, die Ebbe und Flut bewirken.“

„Kuck, habe ich doch gesagt. Das will ich ich jetzt ausprobieren. Der Eimer ist meine Rakete!“

Herr Wolkenstein schwang den Eimer schneller. Er wirbelte um ihn herum, das Wasser wurde auf den Boden des Eimers gedrückt. Der Boden zeigte vom Schwung nach außen.

„Wo ist denn jetzt im Eimer Ebbe und Flut?“

„Okay, wir müssen da nochmal etwas weiter vorn anfangen, glaube ich“, sagte ich. „Wenn du den Eimer schwingst, spürst du eine Kraft auf das Seil, oder?“

„Jo!“

„Das ist die Fliehkraft, auch Zentrifugalkraft genannt. Der Eimer möchte nämlich eigentlich von dir weg fliegen. Genauer gesagt, seine Geschwindigkeit in seine Flugrichtung beibehalten. Die ist aber geradeaus gerichtet und nicht um die Kurve. Geradeaus bedeutet aber, dass er sich von dir entfernt. Klar?“

„Also so wie ein Wurfhammer beim Hammerwurf? Der fliegt ja auch irgendwann weg, wenn der Werfer ihn loslässt.“

„Genau, das ist ein guter Vergleich. Probier das jetzt bitte nicht aus, hier sind überall andere Leute! Die Fliehkraft des Eimers musst du ausgleichen, indem du den Eimer zu dir hin ziehst. Aus der Geschwindigkeit an dir vorbei und der Kraft zu dir hin entsteht die Flugbahn im Kreis. Okay?“

„Okay.“

„Was passiert, wenn du dich schneller drehst? Ist die Kraft auf das Seil gleich?“

„Nein, die wird stärker.“

„Und wenn du dich gleich schnell drehst, aber etwas mehr Seil gibst?

„Dann brauche ich auch mehr Kraft.“

„Genau. Das eine ist dabei die Geschwindigkeit des Eimers auf seiner Bahn. Die heißt deshalb auch Bahngeschwindigkeit. Eine andere Geschwindigkeit ist die Winkelgeschwindigkeit, die beschreibt, welchen Winkel die Flugbahn in einer bestimmten Zeit überstreicht.“

„Puh, das ist verzwickt: ich will ein Beispiel!“

Ebbe oder Flut auf Schiemonnikoog
Bald kommt die Flut: Am Strand von Schiermonnikoog

Bahngeschwindigkeit oder Winkelgeschwindigkeit?

„Also wenn dein Seil einen Meter lang ist, legt der Eimer bei einer Umrundung ungefähr 6,3 Meter zurück. Wenn er dafür eine Sekunde braucht hat er eine Bahngeschwindigkeit von 6,3 Metern pro Sekunde. Wenn das Seil zwei Meter lang ist und er ebenfalls in einer Sekunde eine Runde fliegt, hat er eine Bahngeschwindigkeit von 12,6 Metern pro Sekunde, denn die Kreisbahn ist dann doppelt so lang. In beiden Fällen ist die Winkelgeschwindigkeit aber gleich, nämlich ein voller Kreis pro Sekunde. Da sagt man 360° pro Sekunde. Genau genommen spricht man von Radianten, das ist jetzt aber wirklich zu kompliziert.“

„Hm, das klingt logisch, das glaube ich dir einfach mal. Ich brauche mir das aber nicht zu merken, oder?“

„Nicht unbedingt, nur das Prinzip.“

„Und wo ist jetzt in meinem Eimer Flut?“

„Im Eimer leider noch nicht, denn dann müsstest du gleichzeitig unterschiedlich stark ziehen können.“

„Hä? Das geht doch gar nicht!“

„Es ist im Prinzip auch etwas verzwickt, aber auch nicht wirklich kompliziert, warte …“

„… und warum fliegt der Eimer überhaupt und fällt nicht auf den Sand?“

Herr Wolkenstein schwang den Eimer so, das er manchmal beinahe den Boden berührte und dann wieder einen hohen Bogen durch die Luft machte. Dabei kam er auch meiner Stranddecke bedenklich nahe.

„He, pass doch auf! – Das hat nichts mit Ebbe und Flut zu tun, das erkläre ich dir ein andermal.“

„Das ist jetzt eine faule Ausrede!“

„Das stimmt!“

„Erst einmal merken: bei gleicher Winkelgeschwindigkeit brauche ich bei einem kürzeren Seil weniger Kraft, bei einem längeren Seil mehr Kraft, um den Eimer zu schwingen.“

„Okay, ist gemerkt! Jetzt Ebbe und Flut!“

Ebbe und Flut: Möwen in Hoek van Holland
Ebbe und Flut: Möwen in Hoek van Holland

Gezeitenkräfte in der Umlaufbahn

„Erst brauchen wir die Rakete. Der Eimer ist quasi die Rakete und du ein Planet. Grins nicht! Du hast selbst gesagt, du wolltest Rakete spielen. Also ist die Zugkraft auf das Seil die scheinbare Fliehkraft der Rakete. Scheinbar deshalb, weil sie nur durch die Geradeausgeschwindigkeit der Rakete entsteht, die vom Planeten weg gerichtet ist. Das entspricht einer scheinbaren Kraft.
Das Seil ist die Gravitation oder die Schwerkraft des Planeten. Genau genommen, die Kraft mit der du am Seil ziehst.“

„Okay. Ich bin ein scheinbarer Planeeeeet!“

„Sogar ein sehr guter! Die Rakete hat jetzt eine feste Umlaufbahn, also immer die gleiche Höhe. Das geht nur mit der Geschwindigkeit, bei der die Fliehkraft gleich groß ist, wie die Gravitation.“

„Jetzt sind wir aber immer noch nicht bei Ebbe und Flut!“

„Noch nicht ganz. Jetzt müssen wir noch wissen, dass die Gravitation, also die Kraft, die die Rakete zur Planetenoberfläche zieht, vom Abstand zum Planeten abhängt.“

„Na das ist doch klar, sonst würden wir schwupps zur Sonne gezogen, die wiegt ja viel mehr, als die Erde!“

„Genau!“

„Eine zweite Rakete, die mit gleicher Winkelgeschwindigkeit, wie die erste den Planeten auf einer niedrigeren Umlaufbahn umkreist, was wird wohl mit der passieren?“

Herr Wolkenstein probierte es mit seinem Raketeneimer direkt aus.

„Bei meinem Eimer brauche ich weniger Kraft.“

„Und wenn die Gravitation dort stärker ist …“

„… landet die Rakete auf dem Planeten! Ha! Und da wo sie landet, ist bestimmt Flut!!“

„Da hast du sogar recht, Herr Wolkenstein! Zumindest …“

„… im Prinzip! Ja, ja!“

„Genau. Wir brauchen aber noch eine dritte Rakete. Diese hat die gleiche Winkelgeschwindigkeit auf einer höheren Umlaufbahn, was passiert jetzt?“

„Die wird weniger stark angezogen, also kann sie vom Planeten weg fliegen.“

„Richtig!“

„Also hat die doch Flut, weil das Wasser von der Erde weg fliegen kann und die andere hat Ebbe, weil das Wasser zur Erde hin gedrückt wird …“

„Klingt plausibel ist es aber leider nicht.“

„Nein?“

„Nein.“

„Schade.“

„Aber die Kraft, die die eine Rakete zum Planeten hinzieht und die andere vom Planeten weg, heißt Gezeitenkraft. Wir müssen uns nur noch überlegen, dass eine Rakete ja kein Punkt ist, sondern ein ausgedehntes Objekt. Und dass schon an der Innenseite der Rakete eine größere Gravitation zieht als an der Außenseite der Rakete. Das ist nicht viel, aber größere Objekte, als unsere Rakete können durch Gezeitenkräfte zerbrechen.“

Ebbe und Flut: Waddenzee-Seite auf Texel
Ebbe und Flut: Wattensee-Seite auf Texel

Wer macht Ebbe und Flut, Sonne oder Mond?

„Echt? Das ist ja gruselig. Und das macht die Flut?“

„Genau.“

„Aber das ist doch Blödsinn, weil die Erde umkreist doch nichts, nur die Sonne. Dann müssten wir einmal im Jahr Flut haben!“

„Ich hatte dir doch auch erzählt, wer noch für Ebbe und Flut verantwortlich ist, oder?“

„Der Mond, genau! Also der zieht mit seiner Gravitation das Wasser an, dann ist da wo der Mond ist immer Flut?“

„So einfach leider nicht. Der Mond umkreist die Erde scheinbar in ungefähr 24 ½ Stunden. Und wenn du mal nachschaust, wie lange es von Flut zu Flut dauert, sind es ungefähr 12 ¼ Stunden, also die halbe Zeit.“

„Du immer mit deinem scheinbar! Wieso scheinbar?“

„Weil einerseits der Mond die Erde umrundet, in etwas mehr als 28 Tagen, und zusätzlich die Erde sich dreht. Das sieht von der Erdoberfläche so aus, als ob der Mond die Erde in 24 ½ Stunden umrundet. Wenn wir also hier auf dem Strand den Mond aufgehen sehen, dauert es 24 ½ Stunden, bis er das nächste Mal wieder aufgeht. Ungefähr. Das ändert sich auch von Jahreszeit zu Jahreszeit. Das nur nebenbei, das ist für Ebbe und Flut nicht wichtig.“

„Das ist mir jetzt zu blöd, ich gehe lieber gleich schwimmen, denn gleich kommt die Flut, dann gibt es schöne Wellen!“

„Moment, wir sind doch fast da! Wir müssen jetzt nämlich die Erde und den Mond zusammen betrachten. Eigentlich umkreist nämlich nicht der Mond die Erde, sondern beide umkreisen einen gemeinsamen Schwerpunkt. Dieser liegt aber innerhalb der Erdkugel. Soll ich dir einmal vorrechnen, wo genau?“

„Weiß noch nicht. Ist das wichtig für Ebbe und Flut?“

„Eigentlich nicht, ist aber schön für die Anschauung.“

„Na gut.“

Erde und Mond: zusammen ganz schön eierig!

„Also: die Erde wiegt rund 80 Mal so viel, wie der Mond. Der gemeinsame Schwerpunkt liegt daher 80 Mal so weit vom Mond entfernt, wie von der Erde. Beide sind im Durchschnitt 384.000 Kilometer von einander entfernt, der Schwerpunkt ist damit 4.700 Kilometer vom Erdmittelpunkt entfernt, das heißt 1.700 Kilometer unter der Erdoberfläche.“

„Und da drum dreht sich die Erde?“

„Ja, genau.“

„Das ist ja voll eierig!“

„Na ja, irgendwie schon. Wichtig ist, dass aus der Umkreisung dieses gemeinsamen Schwerpunktes eine Zentrifugalkraft an der Erdoberfläche herrscht. Die ist übrigens überall gleich!“

„Erst zerreißt uns sie Gravitation, weil sie am Fuß stärker ist, als an unserm Kopf, dann eiert die Erde komisch herum. Ich mach jetzt einfach mal Kopfstand, dann können die Füße ruhig abhauen!“

Ruckzuck stand Herr Wolkenstein auf seinem Kopf, die Füße in den Himmel gestreckt.

„Warum merken wir das alles nicht?“

„Tun wir doch!“

„Und wie?“

„Na, schau halt mal auf’s Wasser!“

„Ach so. Also wir merken es nicht, sondern nur das Wasser! Aber so ganz hast du es noch nicht erklärt. Auf Raketen in der Umlaufbahn wirken Gezeitenkräfte und die Erde ist irgendwie auch in einer Umlaufbahn.“

„Genau. Der Ort an der Erdoberfläche, der dem Mond gerade zugewandt ist, hat den geringsten Abstand zum Mond. Hier ist die Gravitationskraft des Mondes größer als die Zentrifugalkraft aus der eirigen Umdrehung. Das Wasser wird hier hingezogen. Der gegenüberliegenden Punkt der Erde ist am weitesten vom Mond entfernt. Die Zentrifugalkraft ist dort also größer als die Gravitation des Mondes: dort wird das Wasser also von der Erde aufgrund der Fliehkraft weg geschleudert.“

„Da ist dann Flut?“

„Dort wird das Wasser zunächst einmal angezogen, es dauert eine Weile, bis es da ist. Dann ist aber endlich Flut. Juhu!!“

„Mensch, das war jetzt ganz schön kompliziert. Und wir hatten noch nicht mal die Ebbe. Irgendwas muss das Wasser doch auch verscheuchen. Gibt es Gravitation auch als Abstoßung? So wie beim Magneten? Das habe ich nämlich schon mal gesehen.“

„Das gibt es bei Magneten, bei der Schwerkraft aber nicht. Es gibt Erdanziehungskraft, aber keine Erdabstoßungskraft. Das wäre auch wirklich tragisch! Aber das Wasser für die Flut muss ja irgendwo herkommen, oder? Es kommt von dort, wo keine anziehenden Kräfte herrschen. Genauer, von dort, wo die Gravitation des Mondes die Zentrifugalkraft der Eierschwingung gerade ausgleicht. Da fließt das Wasser weg und irgendwann ist dort Ebbe.“

Ebbe und Flut: Möwenparadies
Ebbe und Flut: Möwenparadies

„Puh. Ich gehe gleich schwimmen. Ich brauche aber noch drei Sätze zum Merken.“

„Okay:

1. Auf ausgedehnte Objekte in einer Umlaufbahn herrschen Gezeitenkräfte durch unterschiedlich starke Gravitation an der Innenseite und Außenseite des Objekts.

2. Die Erde umkreist den gemeinsamen Schwerpunkt von Erde und Mond, der innerhalb der Erdoberfläche liegt, dadurch entsteht eine Fliehkraft.

3. Auf der mondzugewandten Seite der Erde ist die Gravitation des Mondes größer als diese Fliehkraft, auf der abgewandten Seite ist die Fliehkraft größer. Beides führt zu anziehenden Kräften auf das Wasser und mit zeitlicher Verzögerung zur Flut.

So ungefähr?“

Endlich ließ Herr Wolkenstein seinen Eimer in eine Sandkuhle plumpsen. Zum Glück wurde dabei niemand nass! Er ging langsam zum Wasser und betrachtete es ungewöhnlich lange. Er ging bis zu den Knien hinein und kehrte dann um.

„Danke, dass Du mir das erklärt hast. Aber ich denke jetzt erst einmal nicht mehr daran und gehe schwimmen.“

Herr Wolkenstein nahm Anlauf und stürzte sich mit einem lauten Jubeln in die erste hohe Welle.

**********

Diese Geschichte ist mit vier weiteren Dialogen mit Herrn Wolkenstein Teil des ersten Buches von Blog speciaal:
„Herr Wolkenstein fragt nach – Naturphänomene an der Küste“, Verlag Blogwerk, 2020

**********

Danksagung:
Die Figur Herr Wolkenstein entstand in Erinnerung an den wundervollen Herrn Sonntag von der grandiosen Julia Gräfner, beide waren ein besonderer Teil von Schmalz & Marmelade, der unvergessenen Lesebühne in Schwerin.