Noten – Fluch oder Segen?

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Diese Woche durften meine Frau und ich zum ersten Elterngespräch unserer Tochter im ersten Kindergarten. Das Gespräch war sehr angenehm, es wurde viel positives berichtet. Wir haben besondere Eigenheiten, Talente und Schwierigkeiten besprochen und haben im Bild der Lehrerin unsere Tochter sehr gut wiedererkannt. Auf dem Tisch lag auch ein Formular, auf welchem der Entwicklungsstand eines Kindes in allen Bereichen mit Kreuzchen in jeweils 5 Kästchen (Problem bis Stärke) beurteilt werden kann. Das Formular wurde uns nicht offiziell gezeigt, aber es lag offen auf dem Tisch. Und da sahen wir unsere Tochter in Noten. Die vielen Talente und Stärken wurden plötzlich zu „alles nur Durchschnitt“.

Dieses Erlebnis hat mir wieder einmal gezeigt, wie unzulänglich unser Notensystem ist und wie stark es Menschen in eine klare Reihenfolge einteilt. 5.5 ist besser als 5 ist besser als 4, unter 4 ist ganz schlimm, über 5 sind wir stolz.

Wenn Noten etwas taugen würden, dann würden auch Erwachsene beim Verlassen einer Arbeitsstelle Noten statt einem Arbeitszeugnis bekommen.

Das notwendige Übel

Aber leider ist es der Auftrag aller Lehrpersonen, unsere Schüler mit Noten zu beurteilen. Die einzige Noten, die ich gesetzlich geben muss, ist die Zeugnisnote. Ich finde aber, dass wir den Schülern regelmässige Einschätzungen in Form von Noten schulden, damit sie nicht Ende Semester von der Zeugnisnote überrumpelt werden. Bei mir ist die Zeugnisnote auch ausschliesslich der gerundete Durchschnitt aller Zwischennoten in einem Fach. Ich möchte meinen Schülern gegenüber transparent und nachvollziehbar sein.

Kompetenzen beurteilen

Der neue Lehrplan fordert Kompetenzen, statt reinem Wissen. Lernprodukte statt Tests. Und leider trotzdem noch die selben Noten. Ich versuche möglichst unterschiedliche Beurteilungsformen einzusetzen. Ein Kriterium ist für mich auch die Vorbereitung auf Anschluss-Schulen wie Gymi, Berufsschule, BMS, FMS, usw. Deshalb gehören auch ganze klassische Frage-Antwort-Tests zu meinem Unterricht. Besonders in der Mathematik arbeite ich mit meinem „Notenkalkulator“ und mache damit sehr gute Erfahrungen.

Klassische Tests mit Aufgaben und Punkten

Das Schwierige bei klassischen Tests ist eine faire Punktevergabe. Hier nutze ich die digitalen Möglichkeiten einer Tabellenkalkulation um eine faire Verteilung zu berechnen. Ich überlege mir bei jeder Frage bzw. Teilfrage, ob damit eine Grundkompetenz geprüft wird (zur Erreichung einer 4), eine Hauptkompetenz (zur Erreichung einer 5) oder einer erweiterten Kompetenz (zur Erreichung einer 6). Die Summe aller mit Grundkompetenzen zu erreichenden Punkte müsste etwa die Note 4 ergeben. Die Summe aller Punkte für Grund- und Hauptkompetenzen eine 5 und für eine 6 benötigt man die Punkte der erweiterten Kompetenzen.

Hier das Dokument als Google Doc (kann unter „Datei > Herunterladen als“ als Excel gespeichert werden). Veröffentlicht unter einer Creative Common Lizenz zum beliebigen Bearbeitung und Weitergabe (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de)

Die Punktevergabe nach diesem System funktioniert bisher sehr gut. In der Mathematik kennzeichne ich alle Aufgaben mit diesen Schwierigkeitsgraden. Schüler, welche für eine 4 kämpfen müssen, sollen nicht die schwierigsten Tüftelaufgaben lösen müssen. Von Schülern mit einer 5 und mehr im Zeugnis verlange ich hingegen das Lösen aller Aufgaben. Dieses Vorgehen gleicht die ungleichen fachlichen Möglichkeiten und vor allem die Arbeitsgeschwindigkeit relativ gut aus. Wichtig ist jedoch, dass die Schüler lernen eine Prüfung nicht einfach von vorne nach hinten zu lösen, sondern systematisch nach gut lösbaren Aufgaben suchen.

In anderen Fächern überlege ich mir die Schwierigkeitsgrade erst beim Schreiben der Prüfung. Auch da hilft mir der Notenkalkulator, eine ausgewogene Gewichtung der Punkte herzustellen.

Beurteilung von Lernprodukten

Vorträge, Mindmaps, Lernjournale, Portfolios, Videos, Skizzen, Texte, Collagen, usw. sind Lernprodukte mit welchen Schüler ihre Kompetenzen besser zeigen können, als mit den klassischen Wissenstests. Für die Bewertung solcher Lernprodukte mache ich mit Kompetenzrastern gute Erfahrungen. Die Arbeit damit ist mir jedoch einen eigenen Beitrag wert.

Schlusswort zu Schulnoten

Ich würde mir wünschen, dass wir Schulnoten als Beurteilungssystem nochmals überdenken. Es gibt bestimmt geeignetere und motivierendere Beurteilungsmethoden. Kompetenzen lassen sich nur ungenügend durch Zahlen ausdrücken. Zudem arbeiten sehr viele Schüler nur noch für ihre Noten, ohne intrinsische Motivation. Lehrpersonen erleben täglich, wie frustrierend dieses seelenlose Notenstreben ohne inneren Antrieb ist. Zur Inspiration ein kurzes Video:

3 Kommentare

  1. Vielen Dank für den Notenpunktrechner. Die 4 habe ich auch immer so festgelegt, aber noch mit dem Taschenrechner…;-)
    Ich bin kein Fan des Formulars für das Standortgespräch. Es besteht die Gefahr, dass man sich in den vielen Punkten in Belanglosigkeiten verliert. Aus meiner Sicht handelt es sich um Kompetenzen und nicht um Noten. Es wird kein Schnitt berechnet oder Punkte zusammengezählt. Der Raster dient vor allem dafür, mögliche Entwicklungsmöglichkeiten zu erkennen und zu besprechen. Es ist aus meiner Sicht ein reines Förderinstrument. Vorgesehen ist eigentlich, dass auch die Eltern das Formular ausfüllen, was aus meiner Sicht auch Sinn macht. Mit dem «Durchschnitt» bringst du eine soziale Bezugsnorm ins Spiel, die für mich nicht vom Instrument stammt.

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    1. Ich stimme dir zu. Trotzdem ist die Versuchung zu vergleichen bei LP und Eltern gross. Förderorientierte Rückmeldungen – aus welchen das Gespräch ausnahmslos bestand – lassen den sozialen Vergleich viel weniger zu. Ich bin wahrscheinlich zu vorbelastet, aber die Kreuzchen waren für mich bereits die Vorboten der bald folgenden Noten und Zeugnisse.

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