Betroffenheit verkloppt Kampfgeist – oder: meine persönliche Zwietracht mit der Inklusion

In meiner Kindheitsstraße gab es einen Mann, dessen Alter ich nicht schätzen kann. Er war jünger als meine Eltern und älter als meine großen Geschwister. Er war behindert und er tauchte immer mal auf, wenn wir draußen waren. Genauso schnell war er wieder weg, denn zu Hause bei ihm waren wir nie und er war nie bei uns. Er hat gern mit uns gesprochen – mehr noch mit den Erwachsenen. Die waren nett zu ihm, aber auch irgendwie verstellt …

Ehrlich gesagt hatte ich vor der Geburt von H nur mit ihm eine Art alltäglichen Umgang. Zu sonst keinem behinderten Menschen. Und das ist nicht untypisch, oder? Berührungspunkte mit Behinderten sind hauptsächlich: Verwandtschaft, Nachbarschaft, beruflicher Kontakt „zur Klientel“ oder mal ein berührendes Dokumentar-Filmchen.

Das geht doch auch anders, oder?

Inklusiv macht flexibel

Die Schulen Bremens sind mittlerweile alle theoretisch inklusiv – irgendwie gibt es da aber Unterschiede. Die genaue Zuordnung ist für kaum jemanden zu durchschauen.

Wenn von ‚inklusiver Beschulung‘ gesprochen wird, geht es natürlich nicht nur um die Unterrichtung von behinderten Kindern und Jugendlichen an Regelschulen. Es geht auch um alle anderen mit Förderbedarf. Ich will über die Inklusion von geistig behinderten Kindern sprechen, denn ich habe ein geistig behindertes Kind.

Vorweg: Ich finde Inklusion einen gesellschaftlich fundamental wichtigen Weg. Warum? Die Top drei meiner Gründe:

1. Kein Mensch sollte ausgegrenzt werden. Erst recht nicht beeinträchtigte Kinder, die in keiner Form mitentscheiden können, ob das Draußenbleiben in ihrem Sinne ist.

2. Ich glaube, dass behinderte Menschen kostbare Werte vermitteln. Was ich schon durch H lernen durfte an Offenheit, Direktheit, purer Freude, kontemplativer Konzentration und, ja, schlicht an Menschlichkeit – das macht mich sogar während des Schreibens glücklich.

3. Ich weiß, wie komisch es schon für Kinder im Schulalter ist, wenn jemand etwas deutlich anders macht, als der Durchschnitt. Je älter sie werden, desto komischer wird dieses Andere. Es scheint, als verlernten wir alle mit jedem Jahr ein bisschen mehr über den Tellerrand zu schauen. In der Begegnung mit Behinderten ist das aber ein Muss: Kreativ werden in der Kommunikation, sich einlassen auf eine andere Art der Begegnung, entschleunigen des sonst so schnellen eigenen Tempos. Das schult die Flexibilität immens – ein Argument für alle Leistungsorientierten.

Inklusiv macht Bauchschmerzen

Wie wichtig Inklusion ist, vertrete ich beherzt, aber mit bangem Herzen, weil es H gibt. Er muss als eigentlicher Draußenbleiber in der inklusiven Welt klarkommen. In einer Welt, die oft alles andere als inklusiv will. Und zwar vor allem in Bezug auf geistig Behinderte: Eine Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt ein eindrückliches ‚Ranking‘:

Befürworten Sie das gemeinsame Lernen von Kindern ohne Behinderung/sonderpädagogischen Förderbedarf und Kindern mit …

… körperlichen Beeinträchtigungen?
90 Prozent

… traumatischen Erfahrungen?
56 Prozent

… geistigen Behinderungen?
36 Prozent

(„Wie Eltern Inklusion sehen: Erfahrungen und Einschätzungen“, Bertelsmann Stiftung 2015, Seite 19)

Da soll er also hin, mein lieber H, in eine Umgebung, in der ihn 64 Prozent der Eltern schon mal als Störenfried betrachten. Bei dieser Perspektive erwacht leider nicht die Kämpferin in mir, sondern die schützende Mutter und die hat dabei fürchterliche Bauchschmerzen.

Schonfrist bis zur Schultüte

Jetzt, im Kindergarten ist alles noch sonnig. H ist – wie die anderen Kinder auch – in einem niedlichen Alter. Zwar wurde M ungefähr zehnmal so oft zu einem Kindergeburtstag eingeladen wie H, aber das ist wohl ein anderes Thema.

Während M im Sommer eingeschult wird, haben wir beantragt, dass H ein weiteres Jahr im Kindergarten bleibt. Sicher hat er hier noch eine Menge zu lernen und er hat einen grandiosen Assistenten, der H rundheraus guttut.

Vor allem aber freue ich mich über ein weiteres Jahr Schonfrist für uns. So steht erst 2019 die Entscheidung an, H entweder auf eine Regelschule, in ein Förderzentrum mit täglich fast zwei Stunden Fahrt im Schulbus oder in eine in meinen Augen recht dogmatische Privatschule, die monatlich über 400 Euro kostet, zu geben.

Ich muss sagen, als Behinderten-Mutter fühlt sich die verordnete Inklusion bedrohlicher an, als in all meinen früheren Rollen. Mein Kampfgeist in dieser Sache ist momentan eher ein Kleingeist. Vielleicht sollte ich mir auch hier einfach ein Beispiel an H nehmen. Würde ich ihm eine Schultüte in die Hand drücken und die Tür zur Grundschule um die Ecke aufhalten: Er würde mit leicht torkelndem aber aufrechtem Gang das Gebäude betreten und das Abenteuer Inklusion einfach beginnen …

6 Antworten auf „Betroffenheit verkloppt Kampfgeist – oder: meine persönliche Zwietracht mit der Inklusion“

  1. Liebe Nicole,
    ich habe Deinen Blog heute neu entdeckt (auf Empfehlung). Toller Blog- macht Spaß zu lesen!
    Mein H ist ein S und geht inzwischen in die dritte Klasse einer „inclusiven“ Grundschule. Deine Bauchschmerzen kann ich gut nach vollziehen! Ob dogmatische Privatschule, Förderschule oder Regelschule – eine Kröte muss man schlucken.
    Bei uns ist eigentlich alles schief gelaufen was schief laufen konnte. Obwohl wir uns im Vorfeld sehr viele Gedanken machten, Vor- und Nachteile der jeweiligen Schulen abwogen und glaubten die bestmögliche Entscheidung getroffen zu haben. Leider waren wir Eltern an der von uns gewählten Schule dann doch nicht so willkommen – zu kritisch mit appliziertem Autoritätsproblem 🙂
    Der Vollständigkeit halber würde ich als vierte Option noch die Kinderschule in Betracht ziehen. Also wenn H. ein Abenteurer ist könnte das gut passen.
    Liebe Grüße!

    1. Hallo Tina, schön, dass du den Weg zum Hibbelmors gefunden hast.
      Habt ihr denn die Schule gewechselt? Ist dein S jetzt auf der Kinderschule?
      Ich weiß um diese Option, habe aber auch hier bereits die ein oder andere Kröte identifiziert, die ich schlucken müsste – oder zumindest meine, schlucken zu müssen. Aber du hast recht. Ich werde auch die KiSchu nochmals genauer unter die Lupe nehmen.
      Ich wünsche euch Elten ab jetzt einfach immer ein Gefühl des Willkommenseins und deinem S sowieso!

  2. Liebe Nicole,
    mich berührt das Thema, auch als nicht Betroffene! Zumal gerade Euer H in mir etwas angerührt hat, was zu einer riesen Veränderung bei mir innerlich geführt hat.
    Ich hatte vorher auch noch nicht wirklich Kontakt zu geistig eingeschränkten Kindern/Menschen.
    Letztendlich scheint es die Angst der Menschen, vor Ihrer eigenen Unzulänglichkeit und Unvollkommenheit zu sein?? Durch H habe ich mein Herz für die Einfachheit, Stille und meine eigene Unvollkommenheit geöffnet und ganz viele in mir abgetrennten Anteile wieder integriert. Ich hab mich zwar im Nachhinein betrachtet auf diesen Moment lange vorbereitet, aber H war der Auslöser!
    Deswegen ist angeordnete Inklusion immer noch besser, als gar keine…glaube ich. Deine Ängste kann ich natürlich auch verstehen… Vielleicht bei einem Elternabend die Eltern aufklären? Um evt. Berührungsängsten zu begegnen?
    Irgendein Projekt starten?
    Vielleicht KinderYoga für die Klasse anbieten (soll jetzt keine Werbung sein, ich hab eh eigentlich gar keine Zeit) aber da geht’s auch immer um“ Integration“,“ Vereinigung“ und Herzöffnen.
    Generell bin ich mir sicher, daß H – egal wo er hinkommt- eine Bereicherung sein wird – gerade in der heutigen Zeit des immensen Leistungsdrucks. Und davon mal abgesehen, hat er sich echt wahnsinnig entwickelt!!
    Ich hoffe, ich durfte mich auch als nicht direkt-Betroffene hier äußern …
    Liebe Grüsse aus dem Viertel

    1. Liebe Tania,
      wer ist schon nicht betroffen von Inklusion? Deshalb finde ich es sogar richtig toll, dass du dich als nicht direkt Betroffene an der Diskussion beteiligst. Und ich freue mich, dass du H als solche Bereicherung erlebst. Ich werde es ihm mal stecken in einer stillen Minute.
      Außerdem fühlt sich die angeordnete Inklusion durch deine Worte sogar wieder ein bisschen friedfertiger an, als ich sie in meiner jetzigen Rolle manchmal einschätze. Danke dafür!

  3. Liebe Nicole,
    Danke für den Bericht. Das ist wohl eines unserer Dilemmata. Ich habe mir nach einigen Problemen mit Eltern anderer Kinder in der Kita meines H’s gedacht, ja, Inklusion ist das, was ich mir wünsche, was ich aber nicht auf dem Rücken von meinem H für die Gesellschaft erkämpfen werde. Da bin ich offenbar nicht stark genug. Erst letzte Woche äußerte mir gegenüber eine Mutter angesichts eines autistischen Jungen, der sich gegen die Prozedur der Schuleingangsuntersuchung wehrte, dass sie wüsste, wenn dieser Junge in die Klasse ihres Sohnes käme, für ihren Sohn von Lehrers Seite keine Zeit wäre. Was soll ich dazu sagen.

    Die Schule, an die mein H gehen wird, setzt auf gemischte Klassen von lernbehinderten und geistig behinderten Kindern, und das schon erfolgreich seit 25 Jahren. Mathe und Deutsch haben die L-Schüler extra, den Rest der Zeit lernen alle zusammen. Das bringt viele positive Aspekte für alle mit sich.
    Ihr habt ja nun noch ein Jahr länger Zeit.
    Zur Not: Schulneugründung:-)
    Liebe Grüße aus Dresden

    1. Liebe Maxie, deinen H scheint dann ja ab Sommer ein guter Ort zu erwarten.
      Ich hoffe, du blickst dem Schulleben rundum positiv entgegen und ihr müsst dafür keinen zu langen Anfahrtsweg in Kauf nehmen!
      Und wegen der Schulneugründung spreche ich dich beizeiten noch einmal an. Vielleicht lässt sich da ja gemeinsam was auf die Beine stellen 🙂
      Auf bald!

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