Mittwoch, 24. April 2024

Gefahrverbote - FAZ sieht Historikerin als "Gouvernante"...

 ... in einer Art Selbstattacke, was den klugen Kaube-Kopf hinter dieser Zeitung ehrt. So greift heute der Chef des Feuilletons unter der Überschrift "Die Gouvernante" dieselben Kritikpunkte an dem  am 18. April veröffentlichten Artikel der Historiker Hedwig Richter auf, wie wir hier in der Journalyse bereits am selben Tag angemerkt haben. Ja, Jürgen Kaube geht sogar noch ausführlicher auf die etwas seltsamen Vorstellungen der Professorin ein. Später (muss jetzt weg) eventuell mehr dazu. Raimund Vollmer

Zum Tage

 Eine der niedrigsten Tendenzen des Menschen ist: irgendwo dazu gehören zu wollen.

Heimito von Doderer (1896-1966), österreichischer Autor

Dienstag, 23. April 2024

Und erlöse uns von der Lösung...

Von Raimund Vollmer

Es ist das ewige Lied der IT: Immer steht irgendeine Lösung im Raum, die dann, wenn man meint, sie packen zu können, sich in irgendetwas anderes transformiert. Sie zerrinnt unter unseren Fingern. Nicht Lösungen sind das Geschäft der KI, die als die große Lösung für alle Probleme der IT und der sonstigen Welt daherkommt, sondern die Transformation. Deswegen dürfen und werden wir ewig warten. Auch der Bericht „Wann übernimmt KI das Steuer?“, der heute im Lokalteil des Reutlinger  General-Anzeiger erschien, erzählt unterschwellig diese Geschichte. Es geht immer um das Wie, das ja nur auf die Methode zielt, nicht auf das Ergebnis. Das Was rückt stets in jene Ferne, die man braucht, um an Subventionen heranzukommen, ohne gleich in die Verantwortung (für eine Lösung) genommen zu werden.Die Lösung ist nur ein Köder.

KI ist eine Fata Morgana, die inzwischen als solche von Investoren, die mit eigenem Geld handeln, erkannt wird. Es geht allein um die Finanzierung von Projekten, wie auch offenbar die Veranstaltungsreihe zeigen soll, die an der Reutlinger Hochschule nun startet, zu belegen scheint. Es geht nicht wirklich um Produkte. Zumindest gilt dies in Deutschlands IT-Landschaft so, seitdem es seit den sechziger Jahren staatliche Förderprogramme gab, die übrigens nach meiner Erinnerung nie das Ziel erreichten, für das sie geplant worden waren. (Ich erinnere nur an die Entwicklung von Supercomputern in den achtziger Jahren, oder habe ich da etwas nicht mitbekommen?)

Joseph Weizenbaum, der Mann, der am MIT vor 60 Jahren das erste Sprachmodell als eine digitale Psychiaterin namens Eliza entwarf, war entsetzt, als er sah, dass sich seine Studenten und Studentinnen mit seinem genialen Programm tatsächlich therapierten (oder sollte man sagen: transformierten?). Es war für ihn, der damit den Weg in Richtung ChatGPT wies,  doch nur ein Versucherle gewesen, mit der er die Absurdität der KI gegen deren Apostel demonstrieren wollte. Eliza zu entwickeln, das – so gab er in einem Interview zu – habe ihm großen Spaß gemacht.Da war er ein Entwickler wie jeder andere.

Daran sollten wir immer denken: die Informatiker wollen etwas entwickeln. Das ist ihr eigentliches Ziel – dieses Transformieren von irgendeiner Idee in eine programmierte Funktion, die dann nach noch mehr Funktionen schreit. Dafür geben sie alles, dafür brauchen sie Geld – in Deutschland besteht das dann aus Subventionen. Erst wenn es die nicht mehr gibt, wird es tatsächlich Fortschritt geben – und nicht nur Veränderungen.

Hinter dem Fortschritt in der IT standen immer nur ganz wenige geniale Köpfe, die oft mit minimalem Budget arbeiten mussten und häufig ihr eigenes Geld wagten. Und sie schafften dies, ohne auf sich aufmerksam machen zu müssen. Im Übrigen haben die Götter von heute am meisten Angst vor genau diesen Typen, die irgendwo im Verborgenen an dem arbeiten, was zukünftige Professoren dann zu ihrem eigenen Ruhm und für ihre eigenen Projekte lehren werden.

Zum Artikel im Reutlinger General-Anzeiger „Wann übernimmt KI das Steuer?“ von Anja Weiss, 23. April 2024

Zum Tage

 Sorge dafür, das zu haben, was du liebst, oder du wirst gezwungen werden, das zu lieben, was du hast.

George Bernhard Shaw (1856-1950), britischer Schriftsteller

Montag, 22. April 2024

Zum Tage

Wer ständig glücklich sein möchte, muss sich oft verändern

Konfuzius (551-479 v. Chr.), chinesischer Philosoph

 

Sonntag, 21. April 2024

Zum Tage

 Gegen Angriffe kann man sich wehren, gegen Lob ist man machtlos.

Sigmund Freud (1856-1936). Österreichischer Arzt und Begründer Psychoanalyse

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 18)

 Unter Zeitzwang

 Von Raimund Vollmer 

1989: „Es gibt keine Vergangenheit, weil man sie beliebig für den momentanen Gebrauch auswechseln kann. Es gibt keine Zukunft, weil eine Zukunft ohne Geschichte nicht existiert. Es gibt nur eine Gegenwart, doch auch sie ist ein wenig aus den Fingern gesogen, denn ohne Gestern und Morgen wird der heutige Tag zum leeren Klang.“

Andrzej Szczypiorski (1924–2000), polnischer Schriftsteller[1]

 

Zeit ist etwas, in das wir hineingeworfen werden wie in einen Fluss – in die „Wolga der Menschenzeit“, lässt der georgische Dichter und Futurist Wladimir Majakowski (1893-1930) in seinem satirischen Stück „Das Schwitzbad“ den Erfinder Käuzerich sagen. Der Kauz hat eine Zeitmaschine gebaut. Sie überwindet den alten Zeitfluss, in dem wir uns – wie er sagt – müde strampeln und uns dennoch nur mit der Strömung treiben lassen können. Doch jetzt – mit dieser Erfindung – wird alles anders: „Ich zwinge die Zeit stillzustehen oder dahinzurasen, in jeder gewünschten Richtung und Geschwindigkeit“, rühmt sich Käuzerich großspurig in dem 1930 erstmals aufgeführten Theaterstück.[2] Mit Käuzerichs Erfindung nimmt die Gegenwart Fahrt auf durch „Herauslösung des funktionalbestimmten Zeitbegriffs aus der metaphysikalischen Substanz“, parodiert Majakowski trefflich den technisch-wissenschaftlichen Jargon – bis in unsere heutige Zeit hinein.

„Metaphysikalische Substanz“ – ein herrlicher Begriff, mit dem der Dichter die Existenz der sozialen Netzwerke gleichsam vorwegnahm. Sie sind die wahren Zeitmaschinen. Denn in ihnen zählt nur die Zeit. Als Prozess, als Verweildauer, als Datenfluss und Kommunikation, zugleich aber auch als Produkt, manifestiert in Form der Werbung.

Ja, das ist sie – die Zeit, ein Fortschreiten und ein Festhalten, beides zugleich. Sie ist Unruhe und Uhr. In den Sozialen Medien ist sie ihre eigene Sphäre. Wie über Jahrtausende hinweg im Glauben, dem insgeheimen Vorbild, dem wahren Geschäftsmodell der Sozialen Medien.

In der Sprachwelt des Glaubens hört sich das viel edler und salbungsvoller an: Zeit ist auch hier Prozess und Produkt zugleich. Bei ihm hält der Augenblick alles im Fluss, während die Zeit klumpt. Glaubensprozess und fester Glaube.

Kostbar sei allein, sagt der Jesuit Pater Adolph von Voß, „der Augenblick, der jetzt rinnt; denn aus solchen Augenblicken besteht die Zeit, gleichwie ein Klumpen Goldes aus vielen Goldstäubchen besteht“. Und was er 1894 gottfromm formulierte, landete 100 Jahre später als geniale Geschäftsidee im Cyberspace. Bei Google, Facebook & Co.

Einen Gott im Hintergrund brauchen sie da nicht.

Die Zeit materialisiert sich in Augenblicken, die sich aneinander reihen in unendlicher „Jetztfolge“, den Posts. Jeder Augenblick ist dabei Zukunft und Vergangenheit zugleich, er ist ganz Gegenwart für dich und deine zwei, drei Sekunden permanenter Gegenwart. Voß meint: „Er ist deine Zeit“, der Augenblick. Und für Zuckerberg ist jeder deiner Augenblicke sein Geld, nicht deins, sondern seins.

Ein geniales Konzept – von den klügsten Menschen vor Jahrhunderten erdacht, von den schlauesten Menschen nunmehr genial ausgebeutet. Nur dürfen sie’s nicht übertreiben. Dann fallen sie im Kurs. Im Börsenkurs. Brutal.

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Der Augenblick – das ist meine ganz persönliche Zeit. Der Augenblick bin ich. Jeder Einzelne. Was gerade noch guter Glaube war, präsentiert sich heute als profaner Werbespruch. Werbung ist Glauben, bis er bricht. Und das ist dann unser Augenblick. Dann holen wir uns alles zurück. Plumps macht’s, nicht Wumm.

Nicht wir sind in der Welt, wie Heidegger sagt, sondern unsere Daten. Sie überleben uns alle. Sie existieren auch ohne uns. Anonym sowieso. Aber sie können uns nicht ersetzen. Das dämmert ganz allmählich den Big Metas und Datas.

„Dass das Individuelle und die Individuen allein das wahrhaft Wirkliche seien“, das war ein idealistischer Ansatz, der im Zeitalter des Kapitalismus als zu eng angesehen wurde. Hier herrsche vielmehr ein Wertgesetz, das sich im Kapitalismus „über den Köpfen der Menschen realisiert“, meinte 1966 der Philosoph Theodor W. Adorno (1903-1969), der Großsoziologe der Frankfurter Schule, in seinem Buch „Negative Dialektik“.[3] Vielleicht drehen wir es ganz allmählich ins Positive.

Zeit ist im Kapitalismus etwas, das als Wertesystem, am besten noch als Geld, über unseren Köpfen hinwegrauscht. Es ist aber auch etwas, das zwischen den Augenblicken, zwischen unseren Ich-Zuständen, zwischen den Ereignissen, vergeht – oder gar, wie Heidegger beim Betrachten der Zeit anmahnte, nicht nur vergeht, sondern auch entsteht. Und wo etwas Neues emporkommt, da wird der Erfinder sehr schnell durch den Unternehmer ersetzt.

Die Zeit ist wie der Zwischenraum in einem Comic-Heft. Sie ist die Lücke zwischen den Bildern, zwischen den Ereignissen, zwischen den Momenten. Das Unsichtbare. Im Comic ist die Zeit ein Nirgendwo, das uns nicht gehört, in dem sich alles bewegt. Rasend schnell oder ganz langsam. Eine gewaltige Logistikmaschine setzt sich in Gang – von der Bestellung bis zur Lieferung. Sie eilt uns sogar voraus. Weil das, was wir wünschen, bereits produziert wurde. Unsichtbar für uns. Auf Wegen, die wir nicht kennen. In Räumen, die es nicht gibt. Gesteuert im Cyberspace des Nichts.

Zeit wird zum ungeheuerlichen, unbegreifliches Phänomen. Ein Schockerlebnis, vor dem uns nur die Vernunft schützen kann. Die Vernunft – sie hat seit der Aufklärung eine zentrale Bedeutung.

„Die Welt wie sie ist wird zur einzigen Ideologie und die Menschen deren Bestandteil“, schrieb Adorno ohne Komma.[4] Die Welt, wie sie ist. Die Vernunft. Ihr haben wir uns unterworfen. Als Subjekte, als Unterworfene der Zeit, die allen gehört. Das Ich gibt es nicht mehr, verschwunden in den Lücken zwischen den Augenblicken. Wir sind ohne „Ich“. Ohne uns selbst. Pure Vernunft. Zu Daten verdampft, zu metaphysikalischer Substanz.

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„Die Lebenden werden notwendigerweise immer mehr durch die Toten regiert werden.“

Auguste Comte (1798-1857), französischer Philosoph[5]

 

Die britische Schriftstellerin Pat Barker (*1946) meinte einmal in Anlehnung an den russischen Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky (1940-1996), dass jede Generation versuche, „der Vergangenheit Sinn zu geben, und jede Generation bringt ihre Fähigkeiten und Erfahrungen ein in dieses Projekt. So wird eine Geschichte an die jeweils nächste Generation weitergegeben, die in gewissem Sinn bereichert wurde durch diese Anstrengungen. Eine Generation, der das nicht gelingt, ist nicht länger Teil der zivilisierten menschlichen Gesellschaft.“[6]

Nun – manchmal könnte man meinen, dass wir genau auf diesen Punkt zutreiben. Die Generationen haben sich nichts mehr zu sagen. Wir leben in einer fremden Zeit. Wir sind ohne uns. Amazon ist das einzige Verbindungsglied, das wir noch haben. Doch das Netz, das uns in seinen Lieferketten gefangenhält, ist das Untote, das über uns, die Lebenden, herrscht. Ein Prozess, der sich durch unsere Moderne windet, seit der Industrialisierung. Das Tote herrscht. „Im Staat, in der Gesellschaft und auch in der literarischen Tradition“, schrieb 1925 der österreichische Literaturkritiker Otto Forst de Battaglia. [7]

Und nun geben wir ihr den Rest. Bis in den letzten Winjkel unserer Existenz. Wir schlagen die Zeit tot. Jetzt.

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Als der mexikanische Schriftsteller und Nobelpreisträger Octavio Paz (1914-1998)  im ungefähren Alter von sechs Jahren, also etwa 1920, erlebte, dass ein Foto von heimkehrenden Soldaten nicht aus der Vergangenheit kam, sondern aktuell war, fühlte er sich „buchstäblich aus der Gegenwart vertrieben“, also seiner ureigenen Zeit beraubt. „Von nun an“, schreibt er, also von jetzt an, „begann die Zeit in immer mehr Bruchstücke zu zerfallen. Auch gab es nicht mehr den einen  Raum, sondern eine Vielfalt von Räumen. Und diese Erfahrung wiederholte sich immer wieder. Irgendeine Meldung, ein harmloser Satz, die Schlagzeile einer Zeitung: alles bewies die Wirklichkeit dieser Außenwelt und zugleich meine eigene Unwirklichkeit.“[8]

„Meine Zeit“ gab es fortan für ihn nicht mehr, sie war als „fiktive Zeit“ entlarvt. Diese „Vertreibung aus der Gegenwart“ geschieht jedem von uns. Vielleicht sind es die Schriftsteller, die das am stärksten spüren. „Brodskys Gedichte sind Sehnsucht nach Gegenwart“, schrieb 1990 die deutsch-russische Publizistin Sonja Margolina (*1951) über den Nobelpreisträger.[9]

Sehnsucht nach Gegenwart. Sehnsucht nach diesen uns verbleibenden zwei, drei Sekunden Präsens. Dieser permanenten Abfolge von Bildern, von Augenblicken. Und doch mögen sie uns nicht befriedigen.

Hinter allem steht dieses Gefühl von Verlust. Wir sind – um mit den Worten des französischen Schriftstellers Marcel Proust (1871-1922) zu sprechen – „auf  der Suche nach der verlorenen Zeit“, unserer Zeit, deiner, meiner Zeit. Das einzig Wirkliche in dieser temps perdu ist dann die Erinnerung. Bei Proust umfasst sie 4000 Seiten.

„Für Proust ist die Wirklichkeit des Augenblicks unrein, verzerrt durch unsere Interessen“, schrieb 1957 der Journalist und Schriftsteller Günter Blöcker (1913-2006) in seinem Buch „Die neuen Wirklichkeiten“. Dagegen steht „der Augenblick der Erinnerung“, der uns die Phänomene so darstellt, „wie sie ‚an sich‘ sind.“[10]

Die Erinnerung ist unsere Rettung. Da sind wir wieder uns selbst. Und sei es nur als Sehnsucht. Da holen wir uns unsere Zeit zurück. In diesen Erinnerungen ist Zeit nicht länger Geld, ist Zeit nicht die Zeit, „die anderen gehört“, wie Paz schreibt. Es ist nicht die Zeit, die du raffen oder vergeuden kannst. Es ist allein deine Zeit, deine Gegenwart.

Wir leben dann nicht mehr im Jetzt-Stream, der über unsere Köpfe hinwegfegt. Die Zeit ist in uns. Nicht als Illusion, nicht als Beherrschung, sondern ganz tief als Erinnerung.

Samstag, 20. April 2024

Zum Tage

 Eigenliebe ist die größte aller Schmeichlerinnen.

François de La Rochefoucauld (1618-1680), französischer Moralist

 

Freitag, 19. April 2024

Zum Tage

 

1954: „Ich hatte ja meinen Computer. Den habe ich immer dabei.“

Isaac Asimov (1920-1992), amerikanischer Schriftsteller und Biochemiker, in seinem Roman „Luck Starr auf der Venus“. Aussage eines Ingenieurs, der sich einen Laptop bastelte, mit dem sich sogar Gedanken übertragen lassen