Sarah Chiyad

Die rote Tür

Kein rosa Lichtschein, kein glitzernder Feenstaub kündigten ihr Erscheinen an. Irgendwann stand sie einfach in seinem Büro, nicht mehr ganz jung vielleicht, mit kleinen Fältchen um die Mundwinkel. Statt Flügel zierten die abgewetzten Riemen eines roten Rucksacks ihre schmalen Schultern und statt eines Zauberstabs hielt sie eine halb gerauchte Zigarette in der einen Hand und ein halb zerknülltes Rubbellos in der anderen. Fabian war sich ziemlich sicher, dass es dasselbe Los war, das er gestern achtlos in den Papierkorb geworfen hatte, als es ihm dreimal «Niete» angezeigt hatte. Lebenslotterie hatte hinten drauf gestanden. Wahrscheinlich hatte es irgendein Kollege dort platziert und wollte ihm so durch die Blume sagen, was selbst er für ziemlich offensichtlich hielt.

In der letzten halben Stunde hatte sich Fabian durch rhythmisches Drehen in seinem ergonomischen Drehstuhl in einen angenehmen Tagtraum hineingewunden, sodass er nun erschrocken hochfuhr, als er die Fee entdeckte. Hatte sie schon lange da gestanden? Fetzen seines Traumes tanzten noch vor seinem inneren Auge. Eine heroische Schatzsuche kurz vor ihrem Ende, in der Truhe die letzten 10000 Euro, die er brauchte, um …

«Ähm, hallo», sagte er und streckte ihr die Hand entgegen. Die Fee schnaubte ein kurzes, rauchiges Lachen und hob ihre vollen Hände mit einem Achselzucken. Schließlich machte sie einen schlampigen Knicks.

Verschämt zog Fabian die Hand zurück und setzte an: «Fabian Alper, ich bin sehr …»

«Schon klar», sagte sie. «Also zu deinem Wunsch …» Sie nahm einen Zug von ihrer Zigarette und blickte auf das Rubbellos.

Mein Wunsch?, dachte Fabian. Sie meint doch nicht etwa …

«Können wir schon machen. Wir müssen aber erst sicher sein, dass du dafür bereit bist. Daher gibt es einen Test.»

«Test?»

Die Fee nickte und wies auf die rote Tür.

Rote Tür? Welche rote Tür?

              Es gibt keine rote Tür.

Ich möchte reich sein.

              Es gibt keine Tür.

Fabian erhob sich aus seinem Stuhl, der ihn mit einem wehen Ächzen freigab.

«Was ist dahinter?»

              Es ist nichts dahinter.

«Deine größten Ängste. Von deinem ersten Atemzug bis zu deinem jetzigen.» Die Stimme der Fee glich einem Reibeisen und beim Sprechen entwichen kleine Rauchwolken aus Mund und Nase.

Es gibt keine Tür.

Fabian schluckte und umfasste den Türknauf. Er atmete tief ein und bereute das sofort, als er den Geschmack von kaltem Tabak auf seiner Zunge spürte. Noch ein letzter Blick auf die Fee, dann öffnete er.

Sarah Chiyad Kurzgeschichte: Die rote TürVor ihm tat sich ein quadratischer, rot-orange ausgeleuchteter Raum auf. Als er hineintrat, sanken seine Füße einige Zentimeter in den Boden ein, der ihn an Gummi erinnerte. Wände und Boden schienen aus dem gleichen Material zu bestehen. Die Lichtquelle konnte Fabian nicht erkennen und auch sonst keine Einrichtung oder anderen Gegenstände. Das sollte ihm Angst machen?

Erst als die Geräusche einsetzten, wurde ihm die angenehme Stille bewusst, die geherrscht hatte. Mit einem Mal fühlte es sich an, als würden riesige Wassermassen über ihm gegen die Wände peitschen. Erschrocken presste er seine Hände auf die Ohren und schaute auf. Es war nichts zu erkennen.

Plötzlich kippte der Raum. Fabian schrie auf und taumelte mit rudernden Armen über den nun schrägen Boden zur tieferliegenden Seite. Sein Gleichgewicht ließ ihn im Stich. Er fiel über seine überkreuzten Beine und stieß mit dem Gesicht voran in die Wand, die jetzt Boden war. Die weiche Masse erzitterte unter der Bewegung, bis der Raum endlich zum Stillstand kam und damit auch die Ruhe wieder einkehrte.

Fabian wimmerte und hielt sich die Nase, mehr aus Schock denn vor Schmerzen. Gerade als er sich wieder gefasst hatte und auf die Beine gekommen war, entriss sich der Boden seinen Füßen erneut und das Tosen kehrte mit voller Intensität zurück. Für Fabian hörte es sich an wie ein Sprung aus großer Höhe in ein unbekanntes Gewässer. Er fiel kopfüber und rollte sich über den Nacken und oberen Rücken ab, bis seine Beine flach mit einem Platschen auf dem Boden aufschlugen.

Wo war der verdammte Ausgang? Hektisch fuhr er mit seinem Blick die temporären Wände entlang. Doch sie präsentierten sich glatt und undurchlässig, wie eine extra große Gummizelle – im Premiumformat sozusagen. Sollte er etwa die ganze Zeit hier verbringen? Fabian war sich sicher, dass sein Verstand das nicht lange mitmachte. Er dachte an seinen Wunsch. Was, wenn er es nicht rechtzeitig schaffte?

Was? Was willst du schaffen?

Sein Kopf dröhnte und pochte, was durch das erneute Einsetzen des Rauschens noch verschlimmert wurde. Es machte es ihm fast unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Was sollte er bloß tun?

Es gibt keine Tür.

Wieder drehte sich der Raum und Fabian sich schreiend mit ihm. Diesmal landete er auf dem Bauch. Keuchend stützte er sich auf seine Unterarme auf. «Ich will das nicht mehr», zischte er durch seine zusammengebissenen Zähne. «Wenn es keine Tür gibt, mache ich mir eine.» Er schlug mit den Fäusten auf den Boden ein. Als sich Dellen gebildet hatten, kratzte er sie mit seinen Fingernägeln aus. Seine Finger schmerzten und Schweiß lief seine Stirn und Arme hinab. Da sah er die ersten Löcher.

Plötzlich wurde er an den Haaren hochgerissen, sodass seine Beine in der freien Luft strampelten. Fabian nahm schützend die Arme vors Gesicht. Das Dröhnen schwoll an, so laut, dass er glaubte seine Trommelfelle müssten platzen und dann … ebbte es ab.

Sanft wurde er wieder auf seine Füße gestellt. Er ließ die Arme sinken und fand sich in einer gänzlich anderen Umgebung wieder. Ein weiter Platz aus feuchtem Asphalt erstreckte sich in alle Richtungen, soweit er schauen konnte. Darauf standen in einem regelmäßigen Zick-Zack-Muster weiß leuchtende Straßenlaternen. Ein kalter Windzug pfiff durch die Alleen aus künstlichem Licht und ließ Fabian frösteln.

Ich sollte gehen.

              Bleib stehen. Es gibt nichts zu finden.

Ich habe keine andere Wahl.

              Es gibt nichts.

Die Energie wich aus Fabians Beinen und er meinte, sie als feuchten Nebel um seine Knie tanzen sehen zu können. Er war unfähig, auch nur einen einzigen Schritt zu tun. Vielleicht war stehen zu bleiben wirklich das Richtige. Keine der möglichen Richtungen versprach, ihn irgendwo hinzuführen, warum sollte er sich also die Mühe machen?

Ein leises Knurren erfüllte die Luft. Nein, das traf es nicht ganz. Fabian erkannte das Geräusch, das er mit Kindheit und frisch gemähten Wiesen verband. Es war ein Summen, gewaltig, wie von einem riesigen Schwarm … Wespen!

Wusstest du, dass Wespen beißen können?

Das Summen näherte sich. Jeden Moment würde ein Tsunami aus gelb-schwarzen Insekten über ihn hinwegfegen. Aus welcher Richtung kam das Geräusch? Hall fächerte es auf so wie es die Feuchtigkeit mit dem trägen Leuchten der Laternen tat und sie so in einen Heiligenschein tauchte.

Frischer Schweiß rann über seine kalte Stirn ,und troff in die Augen, die er trotz des Brennens nicht zu schließen wagte.

Woher? Er fühlte sich wie ein Kaninchen, das das Gebüsch nach seinem Jäger absucht.

              Bleib stehen.

Wohin?

              Keine Wahl.

Fabians Atem rasselte in kleinen Dampfwölkchen in die Luft. Der Nebel aus Licht und Nässe verdichtete sich, spiegelte sich in Schlieren in den Pfützen.

Sie können kleine Fleischbrocken abbeißen. Stück für Stück für Stück.

Da hatte ihn die Panik fest umschlossen. Fabian schlug die flachen Hände vor seine brennenden Augen.

Ich will mich verstecken.

              Bleib stehen.

Ich will unsichtbar sein.

              Es gibt kein Versteck.

Tränen der Verzweiflung quollen unter seinen Handflächen hervor. Ich kann mich nicht bewegen, ich kann es nicht. Da spürte er einen Stich auf seinem Handrücken.

Als sein Denken mit seinem Körper aufgeholt hatte, war er schon einige hundert Meter gerannt. Alles in ihm war darauf eingestellt, hunderten von Verfolgern zu entkommen.

Verfolgen sie dich?

         Ich will sicher sein.

Schau hin.

Das Summen schwebte wie ein sich beständig aufbauendes Donnergrollen über ihm. Seine Schuhe tränkten sich mit dem Wasser auf dem Boden, wurden schwerer wie auch seine Füße. Er konnte nicht sagen, wie lange er schon rannte, als die kalte Luft in seinem Hals zu brennen begann. Aber er konnte es sich nicht leisten, langsamer zu werden.

Der Lichtschleier vor ihm wurde von einem schwarzen Schemen durchbrochen. Er erinnerte sich, dass er hier und da eine Lücke in dem Teppich weißer Strahlen gesehen hatte. In seiner Panik hatte er sich nichts daraus gemacht. Nun lief er jedoch direkt darauf zu. Als er endlich begriff, was da vor ihm stand, war es zu spät, um auszuweichen. Das Tier fletschte die Zähne. Sein Knurren mischte sich mit dem Surren hinter ihm, wurde beinahe davon geschluckt.

Was bekommt der denn zu fressen, dass der so groß ist? Fabian schluckte. Mich vielleicht.

               Sieh hin.

Fabians Atem quittierte den Dienst und blieb auf halbem Weg zwischen Lunge und Mund stecken. Anhalten!, befahl er seinem Gehirn, doch seine Beine wehrten sich trotzig gegen den Impuls. Er konnte schon den schaumigen Speichel von den Lefzen tropfen sehen.

Anhalten!

              Du wolltest rennen.

Ich will stehen bleiben.

              Du hast eine Wahl getroffen.

Er hatte nur noch eine Möglichkeit. Fabian verlagerte sein Gewicht auf seinen Oberkörper und beugte sich so weit wie möglich nach vorne. Es klappte. Er verlor das Gleichgewicht und fiel vornüber. Es sah beinahe so aus, als versuche er in eine der Pfützen einzutauchen. Arme voran schlitterte er noch einige Meter über den Boden.

Damm richtete er sich langsam auf und blickte auf den Hund, der in der leuchtenden Luft dampfte. Das Tier setzte zum Sprung an. Und Fabian drehte sich um.

Er zwang sich, nicht hinter sich zu schauen, egal wie sehr sein Nacken auch kribbeln mochte. Jeden Kiesel, der von seiner aufgeschürften Haut fiel, nahm er deutlich wahr. Hinter ihm näherte sich das Knurren, vor ihm das gewaltige Surren. Fabian breitete die Arme aus.

Die ersten Insekten flogen auf ihn zu. Er widerstand dem Reflex, sich hinzukauern, als schließlich der Schwarm aus dem Dunst auf ihn zurollte wie eine Gewitterwolke. Die Tiere hüllten ihn gänzlich ein, formten eine Kokon aus Flügeln und gelb-schwarzen Körpern. Ihre Härchen kitzelten seine Haut. Haare? Moment! Das waren keine Wespen, es waren Bienen!

Sie füllten jede Lücke, die sein Körper ihnen ließ, krochen zwischen seine Finger, flogen durch die leicht gespreizten Beine, und setzten sich auf seine Mundwinkel. Die eine oder andere stach zu. Doch es tat kaum weh. Vielmehr hatte er Mitleid mit dem Tier, das so einfach sein Leben ließ.

Das Bellen eines Wahnsinnigen erklang hinter ihm und riss eine Lücke in das alles umfassende Summen. Er war so nah, dass Fabian das Schnappen seines Mauls hören konnte. Jagte er die Bienen? Da wich das Bellen und Schnappen einem lauten Jaulen. Als der Strom der Insekten versiegte, drehte Fabian sich um. Der Hund war verschwunden.

Erleichtert schloss er die Augen und ließ die Arme sinken. Sein Körper zitterte, während er sich vorstellte, wie seine Anspannung in der kalten Luft verdampfte.

Er tastete nach seinen Augen. Denn obwohl er sie wieder geöffnet hatte, konnte er nichts sehen. Auch die Luft hatte sich verändert. Schwerer war sie geworden, beladen mit dem Duft von Holzpolitur und Mottenkugeln. Er streckte die Hände aus und ertastete zwei dicke Stoffstücke. Ein Vorhang? Er hockte sich vorsichtig auf den Boden. Seine Finger glitten durch eine dichte Staubschicht und erfühlten darunter lackiertes Holz.

Irgendetwas packte ihn. Mit einem überraschten «Ufff» kam Fabian wieder zum Stehen. Es zerrte an seinen Gliedmaßen, drehte ihn um die eigene Achse. «Lass mich in Ruhe!», rief er und fuchtelte mit den Armen, ohne etwas zu treffen. Ein Scheinwerfer über ihm erstrahlte und was auch immer ihn angegriffen hatte, ließ von ihm ab. Er stand allein im Zentrum des Lichtkegels. Der Angreifer war nirgends zu sehen.

Angegriffen?

              Berühmt sein. Das hätte was.

Versteck dich.

              Jeder soll mich mögen.

Fabian blickte auf den schweren, roten Vorhang. Dahinter konnte er nun aufgeregtes Tuscheln hören. Warten sie auf mich? Dann wich die schmeichelhafte Wärme, die von diesem Gedanken ausging plötzlichem Entsetzen. Wie sah er aus? Nach der Flucht hing seine Kleidung in feuchten Fetzen von ihm herab. Seine Ärmel waren gerissen, darunter lag frisch aufgeschürfte Haut. Das Hemd war ergraut und Teile seines Gesichts waren von Bienenstichen angeschwollen. Er versuchte, den Schmutz von seinen Kleidern und seiner Haut zu reiben, doch verteilte er ihn dadurch nur noch mehr. Nein, so durfte ihn niemand sehen. Schwach und ausgestellt.

Gerade als er ansetzte, sich in eine hintere Ecke zurückzuziehen, erloschen die Scheinwerfer und ließen ihn wieder in völliger Finsternis zurück. Wieder zerrten sie an ihm, rissen ihn herum. Fabian hob die Fäuste, doch die Angreifer bewegten sich geräuschlos, waren unmöglich zu hören oder zu ertasten.

Ich muss mich verteidigen.

              Da ist niemand.

Ich will hier raus.

              Es gibt keine Tür.

Als die unsichtbaren Hände von ihm abließen und der Scheinwerfer wieder erstrahlte, hatte sich der Vorhang einen Spalt breit geöffnet. Fabian fuhr herum, jederzeit in Erwartung eines erneuten Angriffs. Er fühlte sich nackt und schutzlos. Er war nackt und schutzlos. Entsetzt stellte er fest, dass sie ihm all seine Kleidung genommen hatten. Sofort wünschte er sich die Fetzen zurück, schlang die Arme um den Körper, um wenigsten ein bisschen davon zu bedecken. Der Vorhang wurde Stück für Stück weiter aufgezogen. Wie heißer Teer ergoss sich die Scham über ihn. Bitte nicht. Ich mach alles, aber lass sie mich so nicht sehen. Er rannte auf den Vorhang zu, griff in den festen Stoff und hielt ihn mit aller Kraft zusammen. Fabian atmete auf, als die Bewegung stoppte. Weich schmiegte sich der Stoff an seinen Körper. Durch einen Schlitz erhaschte er einen schemenhaften Blick auf das Publikum und ihm wurde schwindelig. Das mussten hunderte sein.

Publikum? Welches Publikum?

              Es gibt keinen Vorhang.

Ich will nicht, dass sie lachen.

              Du bist allein.

Wieder wurde es dunkel und Fabians Hoffnung verblasste. Mit einem kräftigen Schlag wurde er zurückgestoßen und verlor den Stoff aus den Fingern. «Nein!», brüllte er. Und wieder war er den Händen ausgeliefert, die ihn formten und bedrängten. Alle Gegenwehr entwich aus ihm. So stand er nur da, wie eine Puppe und heiße Tränen rollten über seine Wangen. Als das Licht wieder anging, hatte sich der Vorhang schon zur Hälfte geöffnet. Dazwischen lag eine Schneise von Gesichtern, die auf ihn gerichtet waren. Gelächter erfüllte das Theater. Fabians Körper kribbelte. Es war, als säße ein kleines Männchen in seiner Brust, das mit seinen Fäusten gegen seinen Brustkorb hämmerte und mit den Fingernägeln seinen Rachen kratzte.

Mit einem verstohlenen Blick stellte er fest, dass er seine Anzughose trug, sauber und heil. An seinen Armen sah er die blütenweißen Ärmel seines Hemdes, um seinen Nacken wickelte sich der sorgsam gestärkte Kragen.

Gott sei Dank!

              Du versteckst dich.

Ich bin gerettet!

              Es gibt keinen Vorhang.

Fabian grinste, erfüllt von einer fragilen Zufriedenheit. Doch natürlich währte auch diese nicht lang. Auf einmal fühlte er sich, als werde er von innen aufgeblasen wie ein menschlicher Luftballon. Hinter dem nun ganz geöffneten Vorhang verschwommen die lachenden Gesichter im blendenden Scheinwerferlicht. Das Gelächter schwappte über ihn hinweg, während sein Körper immer dicker wurde. Das Hemd spannte über seinen Armen, die Manschetten schnitten in seine Gelenke. Nein! Stopp! Der Kragen wurde zu eng, er wollte ihn lösen, doch seine Finger waren bereits zu dick um die feinen Knöpfe zu fassen. Fabian geriet in ein panisches Hecheln. «Hilfe», schrie er «Hilfe, ich ersticke!» Seine Stimme kam nicht gegen das Gelächter an. «Hilfe», krächzte er noch einmal und hielt sich den geschwollenen Hals. Die Luft ging ihm aus.

Ich brauche Hilfe.

              Da ist niemand.

Das Lachen um ihn herum zerfloss zu einer zähen Masse. Mit ausgestreckten Armen stolperte er auf die Menge zu, schaffte es kaum, die Füße vom Boden anzuheben. «Hilfe», hauchte er. Als er den Rand der Bühne erreicht hatte, stießen seine Hände auf kaltes Glas. Geschockt blickte er in sein eigenes Spiegelbild. Und dann nochmal. Und nochmal. Egal, wohin er seinen Blick wandte, sah er sein eigenes Gesicht. Die sind ja alle ich.

Mit letzter Kraft warf er sich Schulter voran gegen den Spiegel. Er brach und regnete in hunderten von Scherben herab. Ihr Klirren klang wie Applaus. Und mit den Scherben fiel auch der Druck in Fabians Innerem. Er sog frische Luft in seine Lungen ein und stieß sie mit einem schallenden Lachen wieder aus.

Gerade noch rechtzeitig machte Fabian einen Satz vom Rand der Bühne weg, als er sah, wie unter dem stetigen Rieseln der Spiegelscherben der Zuschauerraum in tiefen Furchen aufbrach. Das ganze Theater erzitterte. Scheppernd fielen nun auch die Vorhänge mitsamt der Stangen aus ihrer Halterung. In einem anmutigen Salto segelten sie nach unten, setzten kurz auf der Bühne auf, die unter dem Gewicht ächzte und knarrte, und taumelten dann hinab in die Tiefe. Vergeblich wartete Fabian auf das Geräusch ihres Aufpralls.

Er kroch an den Rand der Bühne, vorbei an dem Loch, das der Vorhang hinterlassen hatte. Vorsichtig warf er einen Blick über den Rand. Wie eine einsame Insel ragte die Bühne nun aus der scheinbar bodenlosen Schwärze empor. Na super, dachte er und wich zurück.

Es gibt keine Tür.

              Schon klar.

Fabian seufzte. Irgendwo musste es einen Ausgang geben. Hatten nicht viele Bühnen eine Falltür? Nun, diese hatte keine. Nachdem er über die Dielen gekrochen war und sie gründlich abgesucht hatte, konnte er sich da ziemlich sicher sein. Aber es blieb noch die vom Vorhang eingebrochene Stelle. Als er sie genauer betrachtete, bemerkte er feinen Sand, der die beschädigten Dielen benetzte. Er krempelte die Ärmel seines Hemds hoch und zerrte an dem gebrochenen Holz. Es knackte und wehrte sich gegen die Kraft seiner Arme, aber war bereits zu brüchig, um sich lange zu widersetzen. So schaffte sich Fabian nach und nach eine Öffnung, durch die er hindurch passte. Auch hier konnte er sehen, dass es in einer Art Tunnel oder Trichter sehr weit hinab ging. Im Gegensatz zur Umgebung der Bühne konnte er hier jedoch weiter unten ein Schimmern erkennen. Er schwang die Beine über den Rand des Lochs. Die Vertigo, die ihn beim Blick nach unten überkam, hätte Hitchcock nicht besser inszenieren können.

Ich breche mir das Genick.

              Asche zu Asche …

Jetzt oder nie. Damit schloss er die Augen und ließ sich fallen. Sein Schrei hallte durch den Raum – welchen Raum? – und es schien ihm, als würde dieser Fall nie enden. Die Luft schlug ihm ins Gesicht und ließ seine Kleidung um ihn herum flattern. Die Knöpfe des Hemds lösten sich, sodass es sich hinter ihm aufblähte. Wie tief bin ich schon gefallen? Ein zweites Mal zwang er seine Augen offen. Sie konnten es nicht mit der Geschwindigkeit aufnehmen, in der er hinabsauste, und zeichneten die Umgebung in undeutlichen Schlieren nach. Es wird einen Boden geben, es gibt immer einen Boden. Runter ist immer leichter als rauf …

Die Landung war plump. Ein dumpfes «Thump» und dann war es geschehen. Die Füße voran war er in den weichen, feinen Sand gefahren, der den gesamten Boden bedeckte und ihm bis zur Hüfte reichte. Die Wände ragten schwarz um ihn herum empor und umschlossen den bisher kleinsten Raum.

Glück gehabt.

              Finde die Tür.

Es gibt keine Tür.

              Ha Ha.

Eine leichte Brise kräuselte sich auf der Oberfläche, hinterließ kleine Riffel und Wellen. Wo kam sie her? Die Öffnung, aus der Fabian gekommen war, war nicht mehr zu sehen. Sie lag wohl zu weit oben, als dass er sie noch hätte erkennen können. Etwas Sand rieselte aus der Richtung, aus der er gekommen war und fiel in sein nach oben starrendes Gesicht. Er rieb sich die Augen und versuchte die Körner auszuspucken, die in seinen Mund geraten waren. Einige davon setzten sich aber auf seinen Zähnen fest und knirschten, als er den Mund schloss. Die Menge, die von oben auf ihn herab rieselte, wurde beständig größer, weitete sich aus zu einem dichten Strom. Fabian kämpfte sich aus dem Loch, das er geschlagen hatte und das immer tiefer wurde, je mehr Sand nachkam. Auf Händen und Füßen krabbelte er die Sandschichten hinauf. Als er endlich einen halbwegs sicheren Boden unter den Füßen zu haben glaubte, schüttelte er sich, um die feinen Körner, in die er getränkt war, in einer Wolke wieder an die Umgebung abzugeben.

Dann versuchte er die kleben gebliebenen Teile abzureiben, schmirgelte sich mit sandigen Fingern über die sandige Stirn. Sein Blick fiel auf den Hügel, der sich immer weiter auftürmte, dort, wo er gerade noch versunken gewesen war. Wie lange es wohl dauern würde, bis der Raum gänzlich gefüllt war? Im Sand ertrinken, nicht wirklich ein heroischer Tod.

War da etwa ein Händchen im Sand? Er musste zweimal hinschauen, doch er war sich sicher. Er stürzte darauf zu.

Mein Gott! Da ist jemand begraben!

              Finde die Tür.

Das Händchen zuckte. Fabian grub seine Hände in den Sand und buddelte wie ein Hund. Der Kopf eines kleinen Mädchens kam zum Vorschein. Als er das Kind zur Hälfte freigelegt hatte, fasste er es unterhalb der Achseln und zog es mit aller Macht zu sich hoch.

Eilig wischte er ihr den Sand aus Mund und Augen. Einen Moment fürchtete er, dass es zu spät sei. Doch da rührte sie sich und hustete die Sandkörner aus, die Fabian mit den Fingern nicht erwischt hatte.

Sie lebt!

              Warum trägst du dieses Menschenkostüm?

Mit seiner blassen Haut und der roten Kleidung hob sich das Mädchen von dem monotonen Braun ab, das sie beide umgab. Auf ihrem T-Shirt prangte der Kopf eines Hasen, die Knie unter der weiten Hose waren aufgeschürft. Fabian fasste mit einem Arm um ihre Schulter. Sie gab ihr Gewicht dankbar an ihn ab.

«Geht es dir gut?» Die Zeit läuft, dachte Fabian aus den Augenwinkeln das Rieseln des Sandes beobachtend. Das Mädchen blickte ihn verwundert an und rieb sich die Äuglein. Er fühlte ihr seidiges, schwarzes Haar auf seinem Unterarm.

«Ich bringe uns hier raus.» Etwas großes, Raubtierhaftes regte sich Fabians Brust und in diesem Augenblick war er sich ganz sicher, dass er das schaffen könne.

Der Blick des Mädchens schmolz. Mit Entsetzen starrte es auf seine Handflächen.

«Was ist?», fragte Fabian. Das Kind schlug die Hände vor die Augen und heulte plötzlich auf. Fabian hockte sich vor sie hin und fasste sie bei den Schultern. «Was ist los?» Seine Worte schnitten durch das beständige Rieseln. Schrill fühlte er das Weinen des Mädchens in sich widerhallen. Aber es flossen keine Tränen. Sie lacht doch nicht etwa? Das sah er den kleinen Körper unter einem Lachkrampf erbeben. Das Lachen strömte aus ihr heraus wie das Pfeifen eines Teekessels, kurz bevor der Druck zu groß wird.

Fabian schüttelte sie. «Antworte!» Doch sie sagte kein Wort. Da packte er sie bei den Handgelenken und riss ihre Arme herunter. Er erstarrte. Ihr Gesicht, das ihn zuvor mädchenhaft und glatt angestrahlt hatte, war von tiefen Falten durchzogen. Die Hände, die sich in seiner Umklammerung wanden, fühlten sich plötzlich knochig und sehnig an. Es wirkte, als tropfe die Farbe aus ihren Haaren, während die Furchen sich immer tiefer in ihr Gesicht pflügten und die Haut an Spannung verlor.

«Was geschieht hier?», raunte Fabian und versuchte die Wut, die ihn erfasst hatte, in das Mädchen hineinzuschütteln. Wie konnte sie nur lachen, selbst jetzt noch, wo ihre Zähne nach und nach in den Sand fielen?

Ich will, dass sie lebt!

              Staub zu …

«Nein!», schrie er und drückte das Mädchen fest an sich. Ihr Lachen prallte gegen seinen bebenden Körper.

Was soll ich tun?

              Hilf ihr.

Ich kann nicht.

Die Stimme des Mädchens wurde brüchig, ihr Lachen gerann zu einem heiseren Bellen. Aber ich kann es doch nicht aufhalten. Ich bin machtlos. Nutzlos.

Das Mädchen umklammerte ihn fest mit seinen skeletthaften Fingern. Fabian biss sich auf die Lippen und zwang sich zur Ruhe. Es war seine Pflicht, ihr wenigstens etwas Trost zu spenden, wenn er sie schon nicht retten konnte.

Er strich ihr sanft über den Kopf und beobachtete gleichmütig, wie sich die weißen Haare davon lösten und in Büscheln ihren Rücken hinunter glitten.

«Alles ist gut. Ich bleib bei dir. Du musst keine Angst haben.»

Da wurde sie still und schmiegte ihr nun runzeliges Gesicht an seinen Hals. Mit trüben Augen starrte sie auf die schwarze Wand. Dann hob sie eine fleckige Hand und deutete vor sich. Fabian sah, wie viel Mühe es sie kostete. Sie deutete auf eine Stelle in der Wand, etwa zwei Meter über dem Sandspiegel. Erst ganz undeutlich, aber nach und nach an Farbe gewinnend, erschien dort eine rot lackierte Tür. Der Ausgang!

Na los doch.

Fabian blickte auf die eingefallene Gestalt in seinen Armen. Noch nicht. Sie lächelte und ließ die Hand sinken. Auch ihre Augenlieder sanken, beschlossen den Blick auf diese Welt aus Sand. In schweren, rasselnden Zügen hob der Atem nun die schmale Brust, bis auch sie sich ein letztes Mal senkte. Fabian gab ihr einen Kuss auf die wächserne Stirn. Da zerfiel sie zu Sand, der durch seine Finger rann. Einen Moment lang saß Fabian einfach nur da.

Schließlich erhob er sich und machte sich daran, den Sand gegen die Wand zu schieben. Es dauerte lange, ihn aufzuschichten und immer wieder fiel der Turm in sich zusammen. Aber was machte das schon? Zuletzt erklomm er den Weg zur Tür und trat in sein Büro. Mit einem Klicken fiel sie hinter ihm ins Schloss.

Die Fee saß in seinem Drehstuhl und wiegte sich hin und her, ihren Blick auf eine frische Zigarette in ihrer Hand gerichtet.

«Glückwunsch», sagte sie ohne aufzuschauen. «Lass es uns hinter uns bringen. Was ist also dein Wunsch?»

Unendliche Möglichkeiten zogen vor Fabians geistigem Auge dahin und zerflossen in einem Strom aus Sand, der hinabrieselte wie all das, was ihn bisher zu beschweren schien.

«Ich wünsche mir den Schlüssel.»

«Es gibt keine Tür», sagte sie streng, aber mit einem flüchtigen Lächeln.

«Ich weiß.»

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