Wir Privilegierten

von Schreiben

Kreatives Schreiben ist seriöse, bisweilen harte Arbeit. Diese Arbeit bedeutet für mich die uneingeschränkte Autonomie des Geistes. Mit anderen Worten: Ich erlaube mir die große Freiheit, zu schreiben, was ich will.

Vor Jahren schrieb die Schweizer Schriftstellerin Milena Moser in ihrem Blog den folgenden Absatz: „ … und nun, wo das “Was” meines täglichen Schreibens entschieden ist, befreit sich das “Wie” vom blossen Auftrag, zu erzählen. Ich spiele, ich experimentiere, ich schreibe im Kreis herum, ich schreibe denselben Satz zehnmal hintereinander, bis er sich auflöst, bis er seinen Sinn verliert. Ich erlaube mir, über ein Stück Kuchen zu schreiben, das nirgends hingehört, nicht auf den Frühstückstisch, nicht in den Text, ich spiele mit dem Messer, bis es bricht, ich denke an meine Urgrossmutter, die ich nicht gekannt habe. Das ist Glück.“

Wer sich als einen durch und durch der Ernsthaftigkeit des Schreibens verpflichteten Autor begreift, wendet sich jetzt angewidert ab. Adieu. Oder er wartet, welche textlichen Ergüsse noch folgen mögen. Etwa die Erklärung, ein Autor dürfe sich als Aufwärmübung die oben beschriebenen Wortspielereien erlauben. Auch eine Schreibblockade mittels scheinbar unsinnigen Textfragmenten zu bekämpfen sei erlaubt. Das bekundet zumindest der seriöse Schreiber dem – ebenso seriösen – Blockierten, dem am Text Verzweifelnden.
Und wir anderen? Autorinnen wie beispielsweise Milena Moser, die zweifellos zu den seriösen, seit Jahrzehnten erfolgreichen Schriftstellerinnen zählt? Die mittels Schreibexperimenten keine Blockade abbauen will, sondern es als Glück empfindet, schreiben zu können, was ihr in den Sinn kommt, so banal der Gedanke auch sein mag.

Was also ist mit uns anderen, die wir „ernsthaft“ schreiben, was immer das bedeutet. Und uns dennoch erlauben, Gedanken zu notieren, deren Logik, der Sinnhaftigkeit sich beim nochmaligen Lesen selbst uns kaum mehr erschließt? Man kann es Glück nennen, das Glück, sich treiben zu lassen und zu schauen, wohin die Gedanken führen. Welche Worte, Sätze, Abschnitte sich am Ende wiederfinden auf dem Papier vor dir auf der Tischplatte oder auf der weißen Fläche des Bildschirms.
Kann sein, es ist der schiere Luxus, Geschichten entwickeln zu dürfen. Texte, an denen sich der Leser erfreuen kann, an denen er sich aber auch reiben kann, die er inspirierend oder ärgerlich empfindet. Die nötig oder gänzlich belanglos sind. Die im besten Fall zum Nachdenken anregen, selbst wenn man sich nur über den Inhalt echauffiert. Dieses Glück, den Luxus gönne ich mir.
Aber ich hinterfrage dieses Privileg, sehe es nicht selbstverständlich als gegeben an. Empfinde zeitweilig Scham. Frage mich, wie lange diese Freiheit andauern wird? Nicht etwa aus politischen Gründen, das ist hier und für mich kein Thema. Wir leben in Deutschland, mein Vertrauen ist unerschütterlich, dass wir das hohe Gut der Meinungsfreiheit nie wieder aufs Spiel setzen werden.

Meine Scheu, die Bedenken, die Freiheit meines Schreibens zu verlieren, basiert allein auf meinen Gefühlen. Keine Küchenpsychologie auf Mein blauer Lippenstift, und doch: einmal braves Mädchen, immer braves Mädchen.
Der Mensch lernt angeblich sein Leben lang – mit seiner Konditionierung umzugehen, so meine Ergänzung aus eigener Erfahrung.
Stellt sich einmal mehr die Frage: Darf ich das? Darf ich schreiben, was und worüber ich will? Ohne Themenvorgabe eines Auftraggebers. Kein Buchvertrag in trockenen Tüchern. Nicht stur an einem Handlungsstrang entlang. Frei assoziierend. Egoistisch im Umgang mit der Zeit.

Einmal mehr auch die Antworten: Ja, ich darf das. Ich muss das, um die Geschehnisse in meinem Leben, die täglichen wie die außergewöhnlichen, die positiven wie die negativen, die Spaß bringenden und die Trauer hervorrufenden einzuordnen. Themenvorgaben waren gestern. Heute bestimmen meine Ideen die Textform und –länge. Der Buchvertrag steht ganz weit hinten. Vorne steht die Geschichte, die ich erzählen möchte. Der Handlungsstrang entwickelt sich anders als bei meiner journalistischen Arbeit. Anstatt streng geradeaus zum Ziel darf er Umwege gehen und sich bei Abzweigungen entscheiden, welche Richtung er weiter einschlagen will.
Last but not least: Egoismus und die Zeit: Egoismus bedeutet Eigeninteresse, Eigennützlichkeit, selbstsüchtiges Verhalten. Wem wenn nicht mir selbst soll mein Schreiben dienen? Wer mit Blick auf potenzielle Leser schreibt, ist nicht frei. Doch ich schreibe keine Marketingtexte für eine definierte Zielgruppe, verfasse weder Werbeslogans noch Gebrauchsanleitungen. Ich entlasse längst nicht jede Geschichte in die Öffentlichkeit, auch nicht auf Mein blauer Lippenstift. Und selbst hier bleibt es jedem überlassen, reinzuschauen und wegzuklicken.
Egoistisch im Umgang mit meiner Zeit bin ich beim Schreiben ganz gewiss. Verschwenderisch gehe ich mit der Zeit um. Ein Privileg, das ich so bewusst wie kein anderes genieße.

Meine aktuelle Schreibstimmung: Ist das Schreiben Handwerk mit einer Prise Fantasie?
Oder nutzt die Fantasie dieses Handwerk für ihre Zwecke?
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Last modified: 27. Juni 2017

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