Montag, 15. Februar 2016

Letztes Jahr in Marienbad



Eckdaten:
Bei Letztes Jahr in Marienbad (Originaltitel: L'Année dernière à Marienbad) handelt es sich um einen französisch-italienischen Spielfilm, welcher unter der Regie des Franzosen Alain Resnais entstand. Die 1961 erschienene Produktion wurde in Schwarzweiß gedreht und stellt inhaltlich ein Drama dar, welches jedoch mithilfe der Stilmittel des Avantgardefilms inszeniert wurde. Nach Hiroshima, mon amour stellt der Film bereits Resnais' zweiten Versuch dar, die Struktur des Nouveau Romans auf das Medium Film zu übertragen. Das Drehbuch verfasste Alain Robbe-Grillet, die Orgelmusik komponierte Francis Seyrig und in den Hauptrollen sind Giorgio Albertazzi sowie Delphine Seyrig zu sehen.

Handlung:
Ein namentlich nie erwähnter Mann versucht in einem barocken Schloss, umfunktioniert zu einem luxuriösen Grand Hotel, eine ebenfalls nicht benannte Frau davon zu überzeugen, dass sie sich ein Jahr zuvor bereits am selben Ort getroffen und sich für dieses neuerliche Treffen verabredet haben. Die Frau jedoch gibt vor, sich an all das nicht erinnern zu können. Doch der Mann erzählt ihr detailliert sämtliche Geschehnisse des letzten Treffens. Sie beginnt zunehmend an ihrer Erinnerung zu zweifeln, selbst als der Mann ihr versichert, sie haben vor einem Jahr eine gemeinsame Zukunft geplant. Sie scheint verunsichert, beinahe überzeugt. Schließlich verlässt sie gemeinsam mit dem Mann das Hotel.

Der Zuschauer soll nie erfahren, ob es tatsächlich ein Treffen gegeben hat oder nicht. Franz Kafka lässt grüßen. Die Handlung gibt vor, chronologisch erzählt zu werden. Dabei ist sie zerstückelt. Die Fragmente sind nicht sortiert, ihre Anordnung scheint geradezu willkürlich. Zu keinem Zeitpunkt weiß der Zuschauer, ob das Gesehene Gegenwart oder Erinnerung ist, ob es sich dabei um reale Geschehnisse, einen Traum oder einen Wachtraum handelt.

Kritik:
Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei Letztes Jahr in Marienbad um einen Avantgarde-, also um einen Experimentalfilm. Der Streifen nimmt keinerlei Rücksicht auf die Sehgewohnheiten seiner Zuschauer. Der Schnitt verstößt konsequent gegen jede etablierte Anschlussregel und die Handlung wurde nach keinem bekannten Dramaturgiemodell konstruiert, sie besteht aus unzähligen Fragmenten, aus Puzzleteilen, willkürlich auf einen Haufen geworfen - so scheint es zumindest. Aristoteles' schlimmster Alptraum. Doch das schmälert den Sehgenuss keineswegs. Der Film will nämlich gar nicht, dass der Zuschauer ihm folgen kann. Er will nicht einfach seine Geschichte erzählen. Er möchte den Zuschauer in seine Welt entführen. In eine hypnotische Traumwelt, umgeben von einer surrealen, kafkaesken, vielleicht sogar etwas verstörenden Atmosphäre. Eine Wirkung, die durch die bisweilen ohrenbetäubend laute Orgelmusik noch verstärkt wird. Dies geschieht alles ein wenig auf Kosten des Dramas. Die gewählte Inszenierung macht eine emotionale Involvierung in den Stoff, woraus ein solches Drama normalerweise seinen Reiz bezieht, nahezu unmöglich. Doch das ist bei einem solchen Avantgardefilm, der bewusst mit allem was man über das Filmemachen weiß, brechen will, ein unabwendbarer Nebeneffekt: Ob nun gewollt oder nicht. 

Besonders zu loben ist die Kameraarbeit. Die gesamte Laufzeit über bekommt der Zuschauer immer wieder Kamerafahrten durch das Schloss (welches übrigens nicht zwingend Marienbad ist, dieses wurde lediglich zusammen mit einigen anderen Schlössern als ein möglicher Handlungsort genannt. Auch hier bekommt man keine klare Antwort) zu sehen. Von Fluren geht es in weitere Flure, von dort aus wieder in weitere. Selbst zu Beginn, in den ersten Minuten, bekommt man nur - wohlgemerkt, grandios gefilmte - Ecken des Schlosses zu sehen. Das alles trägt wunderbar zur gewünschten Atmosphäre bei. Die Plansequenzen durch die undurchsichtige Architektur des Schlosses, erzeugen diese. Auch die gewählten Einstellungen - wenn der Kamera hin und wieder mal etwas Ruhe gegönnt wird - wurden mit viel Bedacht gewählt. Oftmals wurden Spiegel benutzt, um in einer Einstellung zwei Charaktere, teils in unterschiedlichen Räumen befindlich, gleichzeitig zeigen zu können.

Fazit:
Letztes Jahr in Marienbad ist ein Meisterwerk. Keines, das man sich anschauen sollte, wenn man unterhalten werden möchte. Sondern eines, das zum Nachdenken anregt. Eines, das dem Medium Film ein paar völlig andere, bis dato neue, Seiten abgewinnt. Wer ein wenig Geduld mitbringt, sich für ein wunderbares, perfekt in Szene gesetztes, barockes Setting begeistern kann und einen Film sehen möchte, der so ziemlich alles anders macht, was man anders machen kann, der sollte definitiv mal einen Blick riskieren.


90%
֎֎֎֎֎֎֎֎֎֎