Auf der Entschleunigungsspur in Bad Essen: Das Fachwerkstädtchen ist Niedersachsens erste Cittaslow

Zum Tintenpoeten werden, unter freiem Himmel bei dampfender Sole meditieren, einen frischen Holundersaft aus der nahen Mosterei genießen und ganz entspannt dem Markttreiben auf dem Kirchplatz zugucken: Im gemütlichen Fachwerkstädtchen Bad Essen schätzt man Achtsamkeit und die Leichtigkeit des Lebens. Neben Urmeersalz und Holunder-Bonbons wollen wir auch von dieser Cittaslow-Philosophie unbedingt etwas mit nach Hause nehmen.

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Schon bei der Anfahrt durchs abenddämmrige Osnabrücker Land fällt die Hamburger Hektik von uns ab. Beim Anblick der Fachwerkhäuser, die sich ins satte Grün kuscheln und aufsteigendem Nebel in kleinen Lichtungen fühlen wir uns, als hätte hier jemand  das Mittelalter-Brettspiel Carcassonne gespielt.

Eingebettet vom Wiehengebirge und Mittellandkanal zeigt die Turmuhr von Bad Essen am Kirchplatz zwar die genaue Zeit an, aber langsamer scheint sie trotzdem zu ticken. Zwischen den weiß getünchten Fachwerkhäusern hat man sich in dem 941 Jahre alten Städtchen für die Entschleunigungsspur entschieden. Rund um den Kirchplatz bieten Goldschmiede und Geschäfte für Feinkost und Wohnaccessoires ihre oft selbst gefertigten Produkte an und wir staunen über die hohe Anzahl von Yoga-Lehrern für die nur rund 15.000 Einwohner.

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Eine Begegnung der besonderen Art machen wir im Kurpark: Hier scheint ein riesiges Ufo gelandet zu sein. Was aussieht wie das Flugobjekt von ökologisch-korrekten Aliens entpuppt sich als Sole Arena aus Holz und Schwarzdorn. Das Gradierwerk hat unter freiem Himmel einen an drei Seiten zugänglichen Innenraum, in dem Bad Essener Sole vernebelt hat. Eine rundum gesunde Sache, denn sie kommt direkt aus Europas mineralreichster Solequelle. 800 Meter tief in der Erde lagert hier geschützt vor Umwelteinflüssen 220 Millionen Jahre altes Urmeerwasser. Wir saugen die Sole tief in die Lungen, spüren, wie sich der feine Salznebel aufs Gesicht legt und lauschen dem sanften Geplätscher in unserem Open-Air-Dampfbad.

Das Urmeersalz aus Bad Essen ist nicht nur ein wohltuender Kick für Haut und Atemwege sondern auch für die Küche. Wilhelm Grönemeyer, Cousin von Herbert und Dietrich, und sein Sohn Boris liefern es aus ihrer kleinen Familien-Manufaktur als „King of Salt“ weltweit an Spitzenköche.

„Das mehr als 200 Millionen Jahre alte Meerwasser hat die Mineralzusammensetzung des Urmeeres, die sich mittlerweile sehr von der heutiger Meere unterscheidet. In den heutigen Meeren sind Sedimentablagerungen der großen Flüsse aus den letzten Jahrmillionen enthalten, sowie Altöle, Schwermetalle und Mikroplastik aus der jüngeren Zeitgeschichte“, erklärt Wilhelm Grönemeyer. Auch Calcium, Magnesium und Schwefel sind im Urmeersalz noch komplett enthalten, da es nicht auskristallisiert ist. Den kristallinen Zustand des Urmeerwassers erreichen die Grönemeyers durch ein spezielles Verfahren: „Bei der besonderen Kristallbildung sind farbiges Licht und Musik behilflich. Je nach Art der Musik entstehen verschieden große beziehungsweise unterschiedlich geformte Kristalle.“ Bei den Grönemeyers, deren Stammbaum in Bad Essen ins 15. Jahrhundert zurückgeht, wird alles per Hand produziert und abgefüllt. 

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Ein echtes Slow-Food-Produkt, wie uns Dr. Edgar Klinger, Leiter von Slow Food Osnabrück, beim Strandkorb Schnack auf dem Kirchplatz verrät. Der Erhalt regionaler Produkte und Speisen, die Wertschätzung und artgerechte Haltung der tierischen Lieferanten und die Geschmacksschulungen liegen ihm gemäß der Slow-Food-Philosophie am Herzen. Ins Schwärmen gerät er für Rhabarber-, Johannisbeer- und Apfelsaft aus der Mosterei Lammersiek in Bad Essen und für Holunder-Menüs, die sich aus der typisch Bad Essener Frucht zaubern lassen: „Der Holunder-Reichtum hier ist besonders, die Traditionen rund um den Holunder wurden mit vielen neuen Ideen wieder wachgeküsst.“ Auch die Schlachterei Schlacke, die ihr Fleisch von lokalen Landwirten bezieht, genau auf die Haltung schaut und auch noch selbst schlachtet, empfiehlt Klinger wärmstes. Für die hausgemachte Mühlen-Salami können wir uns sofort begeistern, mit „Speisen, bei denen Blutwurst gebraten eine Rolle spielt“ kann er uns dann aber doch nicht überzeugen.

Die Slow-Food-Bewegung war auch der kulinarische Kern für den Anschluss Bad Essens an die Cittaslow-Vereinigung. Erholung, Ruhe, Genuss und die Bewahrung der historisch gewachsenen Identität waren in dem gemütlichen Städtchen ja sowieso schon als Basis vorhanden. Eine Marketing-Strategie, um hektische Großstädter anzulocken, ist das aber nicht: „Das müssen alle Bürger mittragen, die Voraussetzung ist ein Gemeinderatsentschluss. Man muss diese Philosophie leben und authentisch erfüllen“, betont Annette Ludzay vom Kur- und Verkehrsverein Bad Essen.

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Wir lassen die Ruhe bei einem Snack vor dem „Kleinen Haus“ am Kirchplatz auf uns wirken. Das Fachwerkhäusschen ist tatsächlich das Kleinste am Platz – und das Älteste. Der ehemalige Speicher aus dem Jahr 1663 hat als einziges Gebäude den verheerenden Brand von 1668 überstanden und ist heute ein Café-Restaurant. Zugänglich für Rollifahrer ist das „Kleine Haus“ leider nicht, dafür aber das zugehörige „Haus nebenan“, das sogar über einen Lift in die erste Etage verfügt. Auch die St. Nikolai Kirche aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ist befahrbar und mit Altar-Bild, Renaissance-Balustrade, Epiphanien-Tafeln und mittelalterlichen Decken-Gemälden eine ungewöhnlich reich geschmückte und für die Gegend früh reformierte Kirche. Leicht wird das Sightseeing Rollifahrern mit Kopfsteinpflaster und historischen Bauten leider nicht gemacht. Wenige Meter weiter gibt es rund um den Meierhof, der Keimzelle des Handwerkerstädtchens, aber einen asphaltierten, allerdings leicht ansteigenden Weg zu fachwerklicher Baukunst. Die gemütlich plätschernde Wassermühle des Meierhofes ist nach ihrer Restaurierung wieder in Betrieb und im unteren Bereich zugänglich. Hier wird zwischen Ostern und Oktober gemahlen, das Korn landet zum Teil im Mühlenbrot der umliegenden Bäcker.

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Kleine, feine Kulturveranstaltungen, Ausstellungen und Konzerte können im benachbarten Schafstall genossen werden. Der Ausstellungsraum ist barrierefrei erreichbar, für Konzerte müssen zwei Stufen überwunden werden.

Als passionierte Handschreiber gefällt es uns außerdem ganz besonders, dass in Bad Essen jeder zum Tintenpoeten werden kann: Postkarten, gestaltet von 16 Künstlern aus der Region, laden zum klassischen Schreiben mit Füller oder Kuli ein. Vor so einem kleinen Kunstwerk zu sitzen und sich Gedanken darüber zu machen, welche Eindrücke man auf den Postweg schicken möchte, ist fast eine ganz neue Erfahrung nach den schnell ins Smartphone getippten Whats-Apps.

In Sachen Unterkunft waren wir etwas zu schnell für die Cittaslow: Die Suche nach barrierefreien Hotelzimmern gestaltete sich schwierig, aktuell gibt es nur eines im Hotel Deutsch Krone. Das stilvoll-gemütliche Hotel Högers am Kirchplatz baut aber derzeit einen Anbau mit rollstuhlgerechtem Zimmer und in der Alten Apotheke, 1726 als „Tanz- und Gesellschaftshaus“ erbaut, entsteht gerade ein kleines Hotel mit Zimmer für mobilitätseingeschränkte Gäste. Gute Gründe fürs Wiederkommen, finden wir.

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Infos rund um Bad Essen bei der Tourist-Info Bad Essen, Lindenstraße 25, 49152 Bad Essen, Tel. 05472 – 94920, touristik@badessen.de, www.badessen.info. Unterkunft im Hotel Deutsch Krone, www.haus-deutsch-krone.de. Im Bau außerdem Högers Hotel, www.hoegers.de und Alte Apotheke, info@alteapotheke-badessen.de

Viel los im Moos: Wie eine kleine Moor-Pflanze das Klima retten kann

Niedersachsen ist mit 263 großen Mooren immer noch das moorreichste Bundesland Deutschlands – auch wenn weite Flächen durch den Torfabbau trockengelegt wurden. Warum man in Wagenfeld daran arbeitet, die Nässe zurückzubringen, was kleine Pflanzen mit großen Vögeln zu tun haben und warum das alles unser Klima retten kann erfahren wir in der faszinierenden Ausstellung Moorwelten.

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Das kleine Torfmoos lebt Entschleunigung: Gerade mal einen Millimeter wächst die wurzellose Pflanze im Jahr. „Das Moos ist 20 Zentimeter gewachsen, seitdem Napoleon hier durch die Gegend marschiert ist. Insgesamt stehen wir hier auf einer 6000 Jahre alten Landschaft“, erklärt Reiner Kowarik, Leiter der Moorwelten, anschaulich.

Europäisches Fachzentrum Moor und Klima Wagenfeld heißt das 2014 eröffnete Zentrum korrekt, das auch den BUND Diepholzer Moorniederung beherbergt und in regem Austausch mit internationalen Universitäten und Experten steht. Was in der offiziellen Bezeichnung etwas trocken klingt, wird in dem vorbildlich barrierefreien, lichtdurchfluteten Gebäude höchst spannend und gut verständlich vermittelt. Denn hier geht es um etwas, was uns alle angeht: Das kleine, unscheinbare Torfmoos ist einer der besten natürlichen CO2-Speicher. „Es kann doppelt so viel speichern wie Wälder“, erklärt Rainer Kowarik. Das Pflänzchen lebt vom sauren Moorwasser, ist selbst sauer und verdrängt so andere Pflanzen. Die abgestorbenen Baumstämme, die oft so mystisch aus dem Moor hervorragen und der Landschaft ihr unheimliches Aussehen verleihen, haben also eine einfache Erklärung. Wie ein Schwamm kann das Moos außerdem das 30fache des eigenen Volumens speichern und nach oben fast unbegrenzt wachsen. Die Pflanzenbasis stirbt irgendwann ab und aus dem unvollständig zersetzten Gewebe entsteht Torf. „Und der wurde früher abgebaut zum Heizen und als Torferde verwendet. Das Trockenlegen ist aber schädlich für Flora, Fauna und Umwelt, denn die entwässerten Moore stoßen C02 aus.“ Immerhin rund 45 Millionen Tonnen sollen das laut BUND sein.

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Uns schwirrt der Kopf von so vielen Zahlen und wir wollen der Sache nun selber auf den Grund gehen. Das kann man am besten und im wahrsten Sinne des Wortes in der Multivisions-Show, in der ein – für Rollifahrer etwas unkomfortabler – sanft nachgebender Moorboden nachempfunden wurde. Zum Platznehmen laden überdimensional große Sonnentau-Sitzhocker ein – eine fleischfressende Moorpflanze, der man hier direkt in den Schlund gucken kann. Mit eindrucksvollen Bildern der niedersächsischen Moore zieht uns der Sprecher mit einem fantasievoll-informativen Text in den Bann. An spielerisch-interaktiven Stationen, die nicht nur Kindern Spaß machen, und Hör-Bars in Sitzhöhe vertiefen wir unser Moor-Wissen.

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„Ich bin wahrscheinlich öfter als jeder andere im Moor und finde, dass das ein ganz besonderer Landstrich ist“, schwärmt Reiner Kowarik. „Es hat eine unwahrscheinliche Ruhe und Weite und steckt voller unmittelbarer Ereignisse, wie Begegnungen mit blauen Moorfröschen oder Nattern. Das spricht auch die Seele an.“ Sein Herz schlägt außerdem besonders für Kraniche, jene großen Vögel, die im Herbst und im Frühjahr ausschließlich auf nassen Flächen Station machen. Im vorletzten Jahr waren es 100.000 Vögel. „Je mehr Moor, desto mehr Vögel“, freut sich Kowarik und erläutert die Zeichnung der jungen und ausgewachsenen Tiere anhand der Modelle in der Ausstellung.

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Nach so vielen Moor-Erlebnissen finden wir auch, dass dieses faszinierende Zwischenreich aus Wasser und Land nicht nur wegen des Klimaschutzes erhalten werden soll. Aber wie geht das denn nun? Damit trocken gelegte Moore kein CO2 mehr ausstoßen sondern stattdessen welches speichern arbeitet man in den Moorwelten daran, sie zu renaturieren. Dazu gehört, Wasser entziehende Kanäle trocken zu legen, Wasser entziehende Birken zu roden und die Flächen künstlich zu vernässen, um das Moos wieder zum Wachsen zu motivieren. „Wir wollen die Apotheker-Waage der Natur wieder ins Gleichgewicht bringen“, erläutert Reiner Kowarik. Ganz würde das wohl nicht gelingen, sagt er und gibt zu bedenken, dass schließlich auch der Mensch mit seinem Atem und die Natur selbst CO2 erzeugen würden. Das war uns auch noch nicht so bewusst. Wir erwägen, in „Moorland“ zu investieren und die eigenen, unumgänglichen Klimasünden mit einem Klima-Zertifikat auszugleichen. Für den eingezahlten Betrag wird dann ein Stück Moor renaturiert. „Früher waren die Moore eine Gefahr für die Menschen, heute sind sie ihre Hoffnung“, schließt Reiner Kowarik bevor er sich um die nächste Abfahrt der Moorbahn kümmern muss.

Direkt von den modernen, barrierefreien Ausstellungsräumen mit Café und kleinem Shop geht es in den Barfußpark mit vielen sinnlichen Moorerlebnissen zum Fühlen, Tasten und Riechen sowie zur Moorbahn, die rund eine Stunde ins Moor hinein fährt. Beides ist für Besucher im Rollstuhl nur eingeschränkt oder gar nicht erlebbar. Die Moorbahn soll in naher Zukunft einen barrierefreien Waggon erhalten. Der lose befestigte Weg zum Moor ist je nach Witterung mehr oder weniger gut befahrbar, der Moor-Pad mit seinen Bohlen ist leider nicht Rollstuhltauglich.

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Übernachtet haben wir im rund 40 Kilometer entfernten Bad Essen. Und dieses kleine, gemütliche Fachwerkstädtchen werden wir nun genauer unter die Lupe nehmen: Es hat nämlich der Hektik abgeschworen und sich der Citta Slow Bewegung angeschlossen, die ganz unter dem Motto der Entschleunigung steht. Das erinnert uns irgendwie an das Torfmoos. Wir sind gespannt.

Info

Moorwelten, Auf dem Sande 11, 49419 Wagenfeld, Tel. 05774 – 9978220, info@moorwelten.de, www.moorwelten.de

Irrlichter, geheimnisvolles Glucksen und geopferte Häuptlinge – wir gehen den Mysterien des Moors auf den Grund

Das braun-grüne Wasser, gesäumt von Birken, glitzert in der Sonne. Friedlich und idyllisch sieht die Moorlandschaft im Emsland aus, einst größte zusammenhängende Moorfläche Westeuropas. Mit unseren romantischen Vorstellungen vom Moor und seinen Mythen wird im Emsland Moormuseum aber schnell aufgeräumt. Weniger faszinierend wird dieses seltsame Reich zwischen Land und Wasser dadurch aber nicht.

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Rosen umranken den Durchgang zum üppig blühenden Bauerngarten, vor dem kleinen Haus stehen ordentlich aufgereiht klobige Holzschuhe und durch die geöffnete Haustür können wir einen gemütlichen Ofen erspähen. Wenn es kalt und dunkel wird, brennt hier bestimmt ein Torffeuer aus dem Moor. Im Stall nebenan grunzt zufrieden ein Buntes Bentheimer Schwein, einige Meter weiter fressen sich wollige Schafe durchs sattgrüne Gras. In den Siedlerhof auf dem Gelände des Emsland Moormuseums würden wir sofort einziehen – zumindest für die Ferien. Und abends am warmen Feuer schaurig-schönen Geschichten über das nahe Moor lauschen, von Irrlichtern, Moorleichen und Moorgeistern.

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Ansgar Becker, Kurator im Emsland Moormuseum, räumt jedoch schnell mit unseren romantischen Vorstellungen rund ums Leben am Moor auf.  „Das war ein erbärmliches Leben in einem gottverlassenen Landstrich“, klärt uns der Historiker auf. „Um die Leute, die hier gelebt haben, hat sich keiner gekümmert.“ Seit dem späten 18. Jahrhundert haben hier Menschen gesiedelt. Die Ärmsten der Armen, die zwar frei waren, dem Moor aber kaum etwas abtrotzen konnten. „Die großen, baumlosen Flächen waren bis zum Sommer unfassbar kalt. Im Sommer, wenn sie sich aufgeheizt haben, wurden es dann richtig heiß und es kam zu Mückenplagen. Im Frühjahr und im Herbst wurde tagelang alles von Nebel verhüllt“, schildert Ansgar Becker die Lebensbedingungen der Moorbewohner. Anders als in den benachbarten Niederlanden machte sich hier kein Landesfürst Gedanken um eine Infrastruktur oder Handelsmöglichkeiten mit dem Brennmaterial Torf. Die Siedler wurden einfach sich selbst überlassen. Mit einer kleinen Schafhaltung, ein oder zwei Bienenvölkern und Buchweizenanbau hielten sie sich in armseligen Hütten, die auf dem bewegten Boden eine sehr begrenzte Lebensdauer hatten, über Wasser.

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„Buchweizen machen zwar satt, aber diese Ernährung war viel zu einseitig. Und mit Buchweizen an 365 Tagen im Jahr werden sie wahnsinnig“, erklärt Becker leidenschaftlich die Mangelernährung der Moorbewohner. Diese waren den anderen Niedersachsen außerdem sehr suspekt, galten sie doch als düster und verschlossen und das Moor als unheimliche Ödnis, als das Trennende schlechthin. Tatsächlich waren sie aber findig und naturerprobt – kannten sie sich doch bestens aus und wussten ganz genau, welche Pflanzen die sicheren Wege anzeigten. Auch Schmuggler haben sich hier ihre Pfade angelegt, Ortsunkundige hingegen mussten weite Umwege gehen. Das Versinken im Moor allerdings sei ein Mythos, betont Ansgar Becker. Der sei zwar in Edgar-Wallace-Filmen beliebt, aber tatsächlich seien die gut konservierten Leichen, die vorwiegend um 1900 im Moor gefunden wurden, zu 99 Prozent schon vorher tot gewesen: „Häufig waren das Verbrecher oder Menschen, die am Rande der Gesellschaft lebten. In Irland hat man auch hochrangige Persönlichkeiten, vermutlich geopferte Schamanen oder Häuptlinge, gefunden. Sie alle wurden beschwert, da man Angst vor Wiedergängern hatte.“ 

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Auch mit anderen Mythen rund ums Meer räumt der Historiker auf. Für die Geräusche des Moores wie Gluggern und Glucksen oder auch gelegentlich aufflackernde Lichter hatten die Menschen keine Erklärungen und ließen deshalb ihre Fantasie spielen. So wurden aus den blauen Flammen, die Blitze im methanhaltigen Untergrund hin und wieder entflammten, Irrlichter, die als Seelen der Verstorbenen die Lebenden ins Moor ziehen wollten. Und da Energieeffizienz und erneuerbare Energien noch nicht zu den aktuellen Themen der Moorbewohner gehörten, waren Torfrauch in den undichten Baracken, unausgewogene Ernährung und unzureichende Trinkwasserversorgung die Ursache für eine maximale Lebenserwartung von 30 bis 40 Jahren. Mit einem ph-Wert von zwei bis drei ist Moorwasser sauer – und macht nicht lustig. 

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Das lässt sich, zusammen mit Ansgar Beckers bildreichen Schilderungen, bestens auf einer spannenden Zeitreise im Emsland Moormuseum nachvollziehen. Auch die mühsame Arbeit der Moorbewohner wird Besuchern an interaktiven Stationen hier nahe gebracht. Für das Torfbrikett, das sich so leicht anfühlt, mussten Männer, Frauen und Kinder schwer schuften. Die klobigen Holzschuhe, die so pittoresk vor dem Siedlerhof dekoriert sind, boten Schutz vor schweren Verletzungen durch scharfe Torfmesser.

Wir durchwandern zwei moderne, transparente Hallen auf den Spuren des Moores. Dabei gerät die geheimnisvolle Landschaft durch die großen, bodentiefen Fenster nie aus dem Blick. Eine Feldbahn soll Besucher direkt hinein bringen ins Moor, wenn die Gleise saniert sind – dann ist auch ein barrierefreier Waggon geplant. Die großzügige Museumsanlage lässt sich aber auch ohne Feldbahn gut im Rolli erkunden, etwas schwergängig wird es in Teilen des historischen Siedlerhofes mit seinen Rasenflächen. Die Bentheimer Schweine und Schafe, die auf dem Siedlerhof gehalten werden, liefern auch Schinken und Bratwürste für das Museums-Café. Unter dem Motto „Was wir erhalten wollen, müssen wir aufessen“ kommen hier lokale und regionale Produkte von Nutztieren und –pflanzen auf die Speisekarte, die vom Aussterben bedroht sind. Auch Buchweizenpfannkuchen sind im Angebot – ziemlich lecker, finden wir. Aber wir müssen sie ja auch nicht 365 Tage im Jahr essen.

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Kurator Ansgar Becker, der heute unsere mythischen Fantasien vom Moor neu sortiert hat, findet die Landschaft gerade zum jetzigen Zeitpunkt äußerst faszinierend: „Es ist gerade eine Umbruchzeit. Die Flächen werden renaturiert und wandeln sich permanent. Moor ist nicht gleich Moor, die ganze Landschaft ändert sich. Wie wollen wir damit umgehen? Einen Königsweg gibt es nicht.“

Fürs Gluckern, Gluggsen und geheimnisvolle Lichter gibt es vielleicht eine rationale Erklärung, aber eine Ödnis ist das Reich zwischen Land und Wasser noch lange nicht. Uns hat das Moor gepackt und wir wollen an unserer nächsten Station in den Moorwelten in Wagenfeld wissen, wie es denn nun weitergeht mit den renaturierten Flächen, wie wichtig das Moor fürs Klima ist und ob man mit einer Mooraktie reich werden kann.

Das Emsland Moormuseum nahe der niederländischen Grenze in Geeste ist täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr geöffnet und zeigt neben der Dauerausstellung auch wechselnde Kunst- und Fotografie-Ausstellungen. Alle Informationen auf www.moormuseum.de

Übernachtet haben wir rund 15 Autominuten entfernt sehr gut im Hotel Pöker in Meppen (www.hotel-poeker.de). Das rund 1200 Jahre alte Städtchen mit Holländermühle, Barock-Rathaus und Gymnasialkirche aus dem Frührokoko ist eine Erkundung wert.

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In Bad Zwischenahn blüht uns was – mit allen Sinnen durch den Park der Gärten

Wer Braille-Schrift lesen kann, wird vom Wasserstrahl verschont, die Rinde eines Apfelbaumes fühlt sich an als wären hunderte Hieroglyphen hinein geritzt und Minzeblätter entfalten ihren Duft an den Fingerspitzen, wenn man sie reibt. Das entdecken wir in der Impressionslandschaft im Park der Gärten in Bad Zwischenahn. Auf 14 Hektar warten außerdem 43 Mustergärten, ein riesiger Rhododendron-Park und ein bäuerlicher Nutzgarten.

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Ein Cottage-Garten mit duftendem Lavendel, ein heilender Garten mit heimischen Kräutern oder ein streng symmetrisch angelegter Zen-Garten mit Koi-Karpfen-Teich? Gut, dass wir uns nicht für einen Garten entscheiden müssen sondern uns einfach durch sie treiben lassen können. Das Ammerland im Nordwesten Niedersachsens bietet mit seinen fruchtbaren Böden und der Nähe zum Zwischenahner Meer  beste Bedingungen für das Anlegen von Parks und Gärten. Hier hat sich auch das größte Baumschulgebiet Europas angesiedelt. In Bad Zwischenahn erkunden wir die weite Welt der Pflanzen und Gärten in einem einzigen Park – und können uns nur schwer vorstellen, dass das satte Grün und bunte Blühen vor noch gar nicht langer Zeit noch ein Acker war: Der Park der Gärten, Deutschlands größte Mustergartenanlage, wie wir erfahren, entstand erst aus der Landesgartenschau 2002. Und weil die Frau des Gründers Rollifahrerin ist, wurde bei der Planung von Anfang an besonderes Augenmerk auf die Barrierefreiheit gelegt. Und gelungen umgesetzt, finden wir.

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Der Meinung ist auch Klaus Harms aus Bad Zwischenahn. „Ich fühle mich wohl hier und interessiere mich für die Anlage und Kultur der Gärten. Weil ich selber Obstbäume habe, besuche ich auch jedes Jahr den Apfeltag. Meine Frau guckt lieber Blumen an“, erzählt der Rollifahrer. Kleine Einschränkungen in Sachen Barrierefreiheit hat er aber dennoch: „Die Aussichtsplattform ist nicht zugänglich und die Wege in den Mustergärten sind teilweise zu schmal“, erzählt Harms beim Strandkorb-Schnack. Von dem barrierefreien Strandmöbel war der Ammerländer ziemlich angetan – zumal er sich bei unserem Treffen vor dem Park fragte, wie er denn da rein kommen solle. Einfach rückwärts einparken und die Sonne genießen, die wie bestellt aus den Wolken strahlt.

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Ein besonderer Schwerpunkt liegt im Park der Gärten auch auf der Erlebbarkeit für Blinde und Sehbehinderte Menschen. In der Impressionslandschaft können Pflanzen, Baumrinden, Steine und vieles mehr ertastet, gefühlt und erschnuppert werden. Statt des oft flüchtigen Blickes lassen wir andere Sinne arbeiten und sind ziemlich überrascht, dass eine Baumrinde nicht einfach eine Baumrinde ist: Die Rinde einer Hemlocktanne ist stark strukturiert, die einer Sandbirke wunderbar glatt und in eine Apfelbaumrinde sind scheinbar unzählige Hieroglyphen eingeritzt. Auch die Welt der Steine ist spannend: Klar, ein Lavastein hat eine charakteristische Oberfläche und ein griechischer Kalk-Lochstein auch. Aber Kalkstein oder Marmor zu unterscheiden ist schon schwieriger. Am Blindenbrunnen ist klar im Vorteil, wer die Brailleschrift beherrscht: Das Wasserspiel in der Brunnenmitte lässt sich durch verschiedene, in den Brunnenskulpturen versteckten Tasten aktivieren. Wer den prominent auf dem Brunnenrand platzierten roten Knopf drückt, spritzt sich selber nass: „Da drückt natürlich jeder Sehende drauf. Blinde sind hier im Vorteil, denn die Brailleschrift auf dem Brunnen warnt vor dem Spritzer“, freut sich Park der Gärten Geschäftsführer Christian Wandscher. Auch wir gehören natürlich zu denen, die auf den roten Knopf drücken mussten.

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Zum Trocknen haben wir die Wahl zwischen zahlreichen Plätzchen an der Sonne: Zwischen duftender Minze im wild wachsenden „Fisherman’s Friends“ Bio-Garten? Bei einem Kaffee auf der Cafeteria-Terrasse mit Blick auf den Fischfernseher? Oder lieber mitten auf dem Rasen auf einer der extra hohen Liegen, auf die Rollifahrer sich bequem übersetzen können? Wir entscheiden uns für Kaffee am Teich und gucken den Fischen zu, die in einer Glaskugel uns beim Kaffeetrinken zuzugucken scheinen. In diesen sogenannten Fischfernseher können sie übrigens ganz freiwillig ein- und ausschwimmen. Ein ungewohnter Einblick in die Tierwelt erwartet uns auch am begehbaren Bienenstand, der – für Rollifahrer aufgrund der schmalen Tür leider nur von draußen – durch gläserne Waben das geschäftige Treiben der Bienen wie in einem Wimmelbild zeigt. Hier lässt sich hautnah miterleben, wie die fragilen Waben, die Heideimker Inselmann uns noch vor wenigen Tagen gezeigt hat, in Echtzeit entstehen. Faszinierend ist außerdem die gläserne Ein- und Ausflugschneise, durch die von den Bienen Pollen angeliefert und Verunreinigungen aus dem Bienenstand abtransportiert werden.

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Bei so viel Betriebsamkeit werden wir schon vom Zusehen hungrig. Zeit, ein typisch ammerländisches Plätzchen zum Abendessen zu suchen. Das finden wir am Zwischenahner Meer – das übrigens ein See ist – im „Spieker“ am Ammerländer Bauernhof. Hier gibt’s, frisch aus dem Zwischenahner Meer gefischt und geräuchert den „Smoortaal“. Warum ein See hier Meer heißt werden wir dann morgen direkt am Herkunftsort des Aals, bei einer Rundfahrt übers Zwischenahner Meer herauskriegen.

Und dann widmen wir uns einem anderen nassen Lebensraum: Wir fahren weiter ins Emsland und erkunden im Moormuseum, wie es sich im ehemals größten europäischen Hochmoor lebte.

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Alle Infos zum Park der Gärten und einem barrierefreien Besuch gibt es auf www.park-der-gaerten.de.

Das Kurstädtchen Bad Zwischenahn mit gemütlicher Holländer-Windmühle liegt direkt am Zwischenahner Meer. Da man hier bestens auf Reha-Gäste mit Mobilitätseinschränkungen eingestellt ist, lässt sich der beschauliche Kurort im Rollstuhl ebenfalls gut erkunden. Behindertengerechte Zimmer gibt es im Hotel Haus am Meer, das auf Barrierefreiheit geprüft wurde (www.hausammeer.de).

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Wandertour zwischen Eiszeit, Binnendünen und alten Schweden auf dem Nordpfad Wolfsgrund

Ob uns Wölfe über den Weg laufen? Wie kommen eigentlich Dünen in die Heide, was ist eine Salzsenke und wer wurde unter dem prähistorischen Grabhügel bestattet? Auf einer Wanderung auf dem 5,2 Kilometer langen Nordpfad Wolfsgrund gibt es viel Geheimnisvolles zu entdecken. Dabei rollt es sich komfortabel, denn der Weg ist komplett asphaltiert. Außerdem wurde mit barrierefreier Aussichtsplattform und Mitten-Drin-Bänken an mobilitätseingeschränkte Wanderer gedacht.

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„Wir sind inzwischen zwar wieder ein Wolfsland, aber gesichtet wurden hier noch keine Wölfe“, nimmt uns Christiane Looks gleich zu Beginn die wohlig-gruselige Aussicht auf eine Begegnung mit den Vorfahren unserer Hündin Emma. Zu seinem Namen kam das Naturschutzgebiet Wolfsgrund aus einem ganz anderen Grund: „Das schlechte Gras, das hier wuchs, wurde volkstümlich Wolf genannt“, erklärt die Naturschutzbeauftragte für den Landkreis Rotenburg / Südkreis beim Strandkorb-Schnack. „Man fraß sich sprichwörtlich einen Wolf.“ Christiane Looks und ihr Mann Joachim haben sich dafür engagiert, dass der Wolfsgrund, einer von insgesamt 24 Nordpfaden, barrierefrei konzipiert wurde. Wandern liegt voll im Trend und ist sein verstaubtes Image längst los. Für alle, die mit oder auf Rädern unterwegs sind, sind geeignete Weg aber schwer zu finden. „In unserem Dorf Eversen leben drei Rollifahrer, außerdem gibt es hier die Rotenburger Werke“, erklärt Looks ihre Motivation. Auch für barrierefreie Elemente und Stationen entlang der Strecke haben sie gesorgt. Dazu gehört auch die Heidetribüne, eine barrierefreie Aussichtsplattform gleich zu Beginn des Rundweges. Von hier lassen wir den Blick über eine sanft hügelige Heidelandschaft schweifen, auf deren Sandboden die Besenheide wächst. Zweimal im Jahr werden Heidschnucken und Ziegen in die Flächen getrieben, die das Heidekraut verjüngen und aufkeimende Birken und Kiefern kurz halten. Ohne die tierischen Landschaftspfleger würden die Bäume die Heide nämlich verdrängen. Das, was wir als Hügel identifizieren sind tatsächlich Binnendünen, wie Christiane Looks uns erklärt. Bei Sandboden macht das ja auch Sinn. Wie ihre Kollegen an der Küste steigen sie sanft Richtung Westen an und fallen im Osten jäh ab. Verantwortlich für die sanft geschwungene Landschaftsgestaltung ist das Wechselspiel zwischen Eiszeiten und Warmzeiten.

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Wir befinden uns heute auf jeden Fall in der Warmzeit und könnten gern noch länger im schattigen Strandkorb mit den Looks schnacken. Aber die Neugierde treibt uns dann doch mit Handbike und Fahrrad auf den Wanderweg, denn „hier gibt es viele verborgene Dinge, die man sonst nicht sieht“, verspricht Christiane Looks. Ihr Mann Joachim hat mit Fotos und kurzen, gut verständlichen Texten auf Infotafeln dafür gesorgt, dass diese Schätze auch entdeckt werden. Schon nach wenigen hundert Metern finden wir den ersten: Im Wald hat es sich eine Gruppe von Granit-Findlingen gemütlich gemacht, die von Gletschern über tausende von Kilometern aus Skandinavien bis an den Wolfsgrund getragen wurden. Alter Schwede, geht es einem bei dem Anblick der riesigen Steine durch den Kopf.  Vor den Findlingen lädt eine Mitten-Drin-Bank zum Pausieren ein. Geniale Idee: Die Bank ist in der Mitte unterbrochen, so dass ein Rollifahrer oder Kinderwagen einparken und mittendrin sitzen kann.

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Weiter geht’s vorbei an Korn- und Maisfeldern zur Salzsenke. Hier befanden sich in der Eiszeit unterirdische Salzstöcke, deren Zusammenbruch einen Erdfall verursachte, aus dem das Holtumer Moor entstand. Reich konnte mit dem Salz deshalb niemand werden. Heute wird die Senke landwirtschaftlich genutzt. 

Hinter der nächsten Rechtskurve gibt es einen kleinen Canyon zu entdecken. Diese Senke, wie sie korrekt heißt, hat sich durch den Sandabbau gebildet, der hier einst mühsam von Menschen betrieben wurde, wie ein altes Foto auf der Tafel belegt.

Wir radeln weiter und freuen uns über die Weite mit Blick übers sattgrüne Land und das Gefühl von Freiheit auf dem ebenen Asphalt. 

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Dann tauchen wir ein in das Waldstück Weihbusch und entdecken auf der rechten Seite einen bewachsenen Hügel. Diesmal verbirgt sich nicht eine Düne, sondern ein Grabhügel dahinter, Zeuge einer frühen Besiedlung ab 2.800 v. Chr. Mehr als 1500 Jahre war die jungsteinzeitliche Einzelgrabkultur die vorherrschende Grabform. Das Zentralgrab war Hofbesitzern oder Familienoberhäuptern vorbehalten, wenn die Familie oder weitere Personen dazu kamen, wuchs der Hügel in die Breite und Höhe.

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Auf rund 150 Metern geht es nun ganz leicht bergauf zu dem Eichen-Buchenwald auf dem Everser Horn mit Blick über das Dorf Eversen und die Wümmeniederung. Dass wir hier auf einem echten Schatz stehen, verrät uns Christiane Looks: In 40 bis 60 Meter Tiefe befindet sich Niedersachsens zweitgrößtes Braunkohlevorkommen mit einem Vorrat von geschätzt 400 Millionen Tonnen. Auch sein Ursprung macht uns schwindelig: Die Braunkohle bildete sich im Tertiär vor 65 bis 2 Millionen Jahren. „Mein Schatzzzz“, hören wir den Gollum in unserer Fantasie unter uns flüstern. Wir hoffen für den wunderschönen Wolfsgrund, dass er da unten bleibt und lassen uns bergab rollen für die letzten Meter des Rundweges.

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An der Straße Zum Sandberg geht es rechts zurück zum Startpunkt im Wolfsgrund. Links geht’s zur Ortsmitte von Eversen mit Hofcafé für hungrige Wanderer. „Das ist unser Lieblingsweg auf dem es nicht nur Heide, sondern auch andere schöne Dinge zu sehen gibt. Und er ist nicht überrannt“, hatte Christiane Looks zu Beginn versprochen. Nun können wir bestätigen, dass das kein Lokalpatriotismus ist – der Wolfsgrund ist ein echter Geheimtipp.

Mit unseren frisch geschärften Sinnen freuen wir uns auf unsere nächstes Ziel Bad Zwischenahn, wo im Park der Gärten viele weitere Wunder aus der Pflanzenwelt warten.

Der barrierefreie Strandkorb hat übrigens keinen festen Standort auf dem Nordpfad Wolfsgrund sondert wandert weiter zum Flughafen Hannover, um die Teilnehmer der Special Olympics zu begrüßen.

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Die Nordpfade sind ein Projekt des Touristikverbandes Landkreis Rotenburg zwischen Heide und Nordsee e. V. (TouROW). 
Alle Informationen zum Nordpfad Wolfsgrund mit detaillierter Tourenbeschreibung gibt es unter www.nordpfade.info. Wer mit dem Auto anreist kann direkt am Naturschutzgebiet Wolfsgrund parken, fürs Navi Zum Sandberg 1, 27367 Eversen eingeben. Eine Anbindung zum öffentlichen Nahverkehr gibt es leider nicht.

Die nächsten barrierefreien Toiletten befinden sich in Prüsers Gasthof, Dorfstraße 5, 27367 Hellwege (ca. 9 km entfernt) und im Restaurant Waldhof, Hauptsraße 26, 27356 Unterstedt (ca. 6 km entfernt).

Mit Heidschnucken, Roggenkörben und Rauchzeichen zum berühmten Heidehonig

Wer vom 8. August bis zum 9. September in den Naturpark Lüneburger Heide kommt, kann die Heide blühen sehen – und mittendrin manchmal auch altertümliche Körbe entdecken. Diese heidetypischen Roggenflechtwerke beherbergen Bienen, die nun den leckeren Heidehonig produzieren. Heinrich Inselmann aus Schneverdingen ist einer der letzten Korbimker und verrät uns, warum mehr Bio als bei dieser regionalen Spezialität nicht geht.

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 „Ich wollte einfach nur rauchen und Honig schlecken“, erinnert sich Heinrich Inselmann mit einem schelmischen Lachen. Der 69jährige Heidjer aus Schneverdingen betreibt mit viel Stolz und Leidenschaft noch die Korbimkerei. Ein heidetypisches Handwerk, das für ein einzigartiges Genusserlebnis sorgt. Und leider vom Aussterben bedroht ist. Schon Inselmanns Vater, Großvater und Urgroßvater haben auf diese traditionelle Weise geimkert. Historische Familienfotos aus der Zeit um 1900 zeigen Inselmanns Vorfahren. Heidebauern, die sich selbstbewusst vor ihren Bienenständen mit Körben aufgebaut haben. „Früher gab es in den Heidedörfern fast auf jedem Hof eine Imkerei. Die wurde entweder vom Altenteil oder von einem unverheirateten Sohn betrieben“, erzählt Heinrich Inselmann.

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Als kleiner Junge faszinierte ihn der Duft des „Imkertabaks“, wie der verbrennende Rainfarn in der Rauchpfeife genannt wurde. Das Räuchern dient zur Beruhigung der Bienen: „Es gab hier ja keinen Tabak, deshalb hat man die getrockneten Stängel des Rainfarns verwendet“, erklärt der Imker. „Dämonenabwehrendes Zauberkraut“ wird die gelb blühende Pflanze auch genannt. Inselmann, der die Korbimkerei wie vor hundert Jahren betreibt, raucht es natürlich auch. Am alten Schafstall am Heidegarten in Schneverdingen demonstriert er uns beim Strandkorb-Schnack rauchreich seine Pfeife, zeigt uns Waben, Körbe, Pütscher und seinen Imkerschutz.  „So wie der Schäfer einen Hütehund hat, hat der Imker seine Rauchpfeife. Durch Rauchstöße kann ich die Bienen in die richtige Richtung dirigieren.“

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Wenn die Bienen zur Heideblüte ausschwärmen, stellt Inselmann seine 20 Körbe mitten in der Heide in Bienenstände. Diese sind immer nach Südosten ausgerichtet, zur wetterabgewandten Seite. So können sie sommers wie winters in einem Bienenstand verbringen. Rund eine Woche braucht der Imker für das Flechten eines Korbes aus Roggenstroh, der zur Isolation mit Kuhmist bestrichen wird. Die Herstellung des Pütschers, der kleinen Korbvariante für die Beherbergung von Ersatz-Königinnen, benötigt er zwei Tage. Anders als bei der heute vorherrschenden Kastenimkerei handelt es sich bei der Korbimkerei um eine Wander-Schwarmimkerei, bei der nur wenige Bienenvölker überwintern. Im Frühjahr werden die Völkerzahlen um das Vielfache vermehrt und kräftige Bienen für den Sommer gezüchtet.

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Der charakteristische dunkle, geleeartige, intensiv schmeckende Presshonig wird ab Oktober geerntet. „Das ist eine Spezialität, die es nur in dieser Region gibt“, so Inselmann. Neben dem Rauchen von Rainfarn spielen auch die Heidschnucken eine wichtige Rolle für den Ernteerfolg:  Die kleinen, robusten Schafe mit den geschwungenen Hörnern sorgen seit Jahrtausenden mit ihrem Appetit auf saftiges Grün dafür, dass die Heide alljährlich im Spätsommer blüht. Dabei zertrampeln sie die Spinnennetze, in denen sonst zahlreiche Bienen verenden würden. „Mehr Bio als bei Heidehonig aus dem Korb geht eigentlich nicht“, findet Imker Inselmann, denn die Heide ist unbelastet von Spritzmittel und auch die berüchtigte Varroamilbe hat in dem natürlichen Bienenstock kaum eine Chance. Eines von Imker Inselmanns Heidehonig-Gläsern zu erwischen grenzt aber schon fast an einen Lotteriegewinn: „Der ist fast immer sofort ausverkauft“, freut er sich. Die Nachfrage für die regionale Spezialität ist größer als das Angebot. Das liegt auch daran, dass die Korbimkerei ein aussterbendes Handwerk ist: „Es ist unwirtschaftlich, weil es nur eine Ernte gibt und viel Arbeit für wenig Ertrag bedeutet“, resümiert Inselmann. Im Mai und Juni müsse man sogar täglich Zeit fürs Schwärmen haben. Von der Korbimkerei hält ihn das trotzdem nicht ab. Neben dem Verkauf von Honig und Bienenwachs ist auch die Veräußerung von Bienenvölkern eine Einnahmequelle. Chemie und Monokulturen wie der Maisanbau gefährden jedoch Bienenvölker und Honigvielfalt.

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„Ohne Bienen und ihre Blütenbestäubung gäbe es 80 Prozent weniger Obstsorten“, gibt Inselmann zu Bedenken und rät jedem, der über Balkon oder Garten verfügt, Blumen zu setzen und zu säen, Gräser, Löwenzahn und Butterblumen stehen zu lassen: „Alles was blüht, ist für Insekten gut“, erklärt er. Seinen Erzählungen über seine 40 000 bis 60 000 Insekten starken Bienenvölker und ihr ebenso streng wie genial geregeltes, hierarchisches System von der Königin über die Arbeitsbiene und Drohne bis zur Stock- und Wasserbiene könnten wir stundenlang lauschen. „Für ein Kilo Honig muss eine Biene vier Millionen Blüten anfliegen. Das entspricht einer viermaligen Erdumrundung“, erklärt uns der Imker. Wir fragen uns, was eigentlich ohne den Menschen aus dem Honig würde. Auch darauf hat Heinrich Inselmann natürlich eine Antwort: „Die Bienen würden ihn im Winter selbst verbrauchen. Früher haben sie den Honig in den Löchern von Bäumen produziert. Bis der Mensch kam und feststellte: Oh, das ist süß! Es gab ja damals keinen Zucker“, erklärt er und schließt schmunzelnd: „Der Imker ist der größte Spitzbube!“

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 Die Heide blüht jetzt zwar noch nicht für die Bienen und uns, aber unter den 150 Heidesorten im Heidegarten am Schafstall finden sich zu jeder Jahreszeit Farbtupfen. Der gut befahrbare Garten gibt mit seinen mehr als 150 000 Pflanzen einen spannenden Einblick in die mehr als 5 000 Jahre alte Kulturlandschaft. Vom Schafstall aus, der ein Café beherbergt, geht es mit Rollstuhl relativ gut ein Stück in den Naturpark. Rund 15 Kilometer von Schneverdingen entfernt wurde durch das Tal der Haverbeeke ein barrierefreier Rundweg angelegt, der komfortabler zu erkunden ist. Insgesamt fünf barrierefreie Wege führen durch den Naturpark Lüneburger Heide, außerdem stehen barrierefreie Kutschen und eine Joëlette, eine Mischung aus Rikscha und Sänfte, fürs Naturerlebnis zur Verfügung.

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Etwas Bewegung können wir nach der Kulinarik gebrauchen und freuen uns auf den nächsten Halt auf unserer Sommertour: Auf dem Nordpfad Wolfsgrund bei Rotenburg geht’s auf eine barrierefreie Wanderung.Tipps und Infos für den barrierefreien Besuch im Naturpark Lüneburger Heide gibt’s auf http://www.naturpark-lueneburger-heide.de/barrierefrei-im-naturpark/

Leckere Landpartie in Lauenbrück

Frische Kräuter zusammen mit dem Koch am Hochbeet ernten  und sie nach einem ausgiebigen Bummel durch den lauschigen Park in regionalen Tapas verdrücken – im Landpark Lauenbrück genießen wir die Natur mit allen Sinnen. Der Auftakt zu unserer Sommertour durch Niedersachsen, bei der nachhaltige Naturerlebnisse für Alle im Mittelpunkt stehen, macht Appetit auf mehr.

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Schnittlauch schmeckt nicht nur lecker sondern sieht mit seiner lila Blüte auch ziemlich dekorativ aus. Liebstöckel riecht wie Maggi und Zitronenmelisse verströmt einen so zart-appetitlichen Duft, dass wir sie sofort vernaschen möchten. Am Hochbeet im Landpark Lauenbrück wachsen köstliche Kräuter in bequemer Sitzhöhe, die wir zusammen mit Geschäftsführerin Katharine von Schiller und dem Koch Herrn Martin ernten. Bis sie in raffinierten regionalen Tapas auf die Teller kommen bleibt noch Zeit für einen Bummel durch den liebevoll gestalteten Park, mit dem die Familie von Schiller ihren Traum von einem naturnahen Erlebnis für Alle verwirklicht hat. Das meint in dem Fall auch die Tiere: Wildtiere, alte Haustierrassen und vom Aussterben bedrohte Nutztiere wie Auerochsen, Exmoor Ponys, White Park Galloways, St. Kilda Schafe, Alaskan Malamutes und viele mehr scheinen sich in weitläufigen Gehegen mit offenen Ställen sauwohl zu fühlen. Diesen Eindruck vermittelt besonders die Wollsau, die tiefenentspannt im Matsch Siesta hält.

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Auf den barrierefreien Wegen begleitet uns der weiße Esel „Schneemann“. Er und seine Artgenossen sind die Maskottchen für das Motto „Tier hilft Mensch“, dem sich die Schillers verschrieben haben: „Wir haben gemerkt, dass auch schwerstbehinderte Kinder sich plötzlich entspannten, als sie auf den Rücken eines Esels gelegt wurden“, erzählt Katharine von Schiller. Seither können sie als tierische Begleiter für den Park-Besuch gemietet werden. Den weichen, puscheligen Schneemann geben wir nur ungern wieder her. „So ein Esel würde mir gefallen“, findet auch Ingrid Müller und streicht durch das flauschige Fell. Ihrem Begleithund „Klausi“  ist „Schneemann“ noch nicht ganz geheuer. Die blinde Lauenbrückerin ist seit vielen Jahren ein regelmäßiger Gast im Landpark, der junge Labrador-Mix „Klausi“  ist heute das erste Mal dabei.

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Für einen kleinen Schnack setzen wir uns in den barrierefreien Strandkorb, der direkt neben dem Kräuter-Hochbeet steht. Ingrid Müller ertastet sich die höhenverstellbare Sitzbank, das Bullauge und die Ablageflächen im Korb und ist besonders von der Einparkmöglichkeit für Rollis angetan: Nach einem Bänderriss ist die Lauenbrückerin vorübergehend auf vier Räder angewiesen.  Ingrid Müller hat die Schillers bei der barrierefreien Planung für sehbehinderte und blinde Parkbesucher beraten, Fühl-Stationen, Duftbeete und Wege getestet. „Der Pfad der Sinne war schon sehr gut, es gab nur Kleinigkeiten zu verbessern wie unebene Flächen oder kleine Kanten an Kreuzungen für eine bessere Orientierung“, erzählt sie. Die Duftbeete in einer Höhe, „für die man sich nicht bücken muss“ sind Ingrid Müllers persönliches Park-Highlight. Wir können uns darüber nicht so schnell einig werden.

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Zu viele liebevolle kleine Details, lauschige Ecken mit Holzliegen, neugierige Schafe, Hängematten auf dem Mehrgenerationen-Spielplatz und das flauschige Esel-Kalb „Carlito“ konkurrieren um den Königsplatz. Auch die Kastanienallee, die durch das Damwild-Gehege führt und der gemütliche Gastraum mit Kamin, in dem man Saisonal-Frisches aus der Region wie Spargel genießen kann, haben es uns angetan. Wir freuen uns einfach an den good Vibes, die im Landpark herrschen, in ihrer Gesamtheit.

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Für die Parkgestaltung lassen sich Katharine und Friedrich-Michael von Schiller auf ihren Gartenreisen nach Holland, Belgien und England inspirieren: „Wir machen danach ein Moodboard und holen dann einen Fachmann dazu“, erzählt Friedrich-Michael von Schiller. Dass Barrierefreiheit auch gut aussehen kann, beweisen die Schillers auch bei ihren Gartenmöbeln: Die hölzernen Zweierbänke sind durch Lehnen und eine kleine Abstellfläche dazwischen unterteilt. Das ist nicht nur praktisch sondern auch eine gute Aufstehhilfe für ältere Parkbesucher. Der Park, der 1969 von Schillers Eltern gegründet wurde, ging nach einer Erbschaft in eine Stiftung über. „Dadurch konnten wir viele neue Ideen realisieren“, so Katharine von Schiller.

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Die nächste Idee steht schon in den Startlöchern und ist bereits mit dem Nachhaltigkeitspreis des Reiselandes Niedersachsen ausgezeichnet worden: „Mit dem Projekt Landfrüchte möchten wir Säen, Ackern und Ernten für alle barrierefrei möglich machen. In einer In- und Outdoorküche sollen dann alte Obst- und Gemüsesorten verarbeitet werden“, erzählt Katharine von Schiller. Und Friedrich-Michael von Schiller ergänzt: „Gemüse kommt aus der Erde und ist erstmal dreckig. Das wissen viele gar nicht.“ Wir kommen bestimmt schon vor dem Start der Landfrüchte wieder in den nur eine Autostunde von Hamburg entfernten Landpark. Zu einer Veranstaltung wie Möbel Upcyclen, Poetry im Park oder zum Herbstmarkt. Oder einfach so.

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So regional-lecker eingestimmt freuen wir uns aufs Weiternaschen an der nächsten Station unserer Sommertour: Im Naturpark Lüneburger Heide treffen wir einen Imker, der uns alles über den Heide Honig und seine fleißigen Produzentinnen verraten wird.

Der Park liegt zwischen Hamburg und Bremen und ist auch gut mit der Bahn zu erreichen. Die rund zwei Kilometer zwischen Bahnhof und Park kann man mit dem Bürgerbus, der allerdings nur zweimal täglich fährt, ansteuern.

Landpark Lauenbrück, Wildpark 1, 27389 Lauenbrück, Tel. 04267 – 954760, www.landpark.de

Übers Reisen reden … mit Iris und Volker Westermann

Nach der Reise ist bei Iris und Volker Westermann vor der Reise. Die beiden Heidelberger touren ständig durch die Welt, am liebsten übers Meer und meistens mit einer Mission: Ihre Erlebnisse teilen sie in ihrem Video-Blog „Westermanns weite Welt“. Mit dem Medium Film haben es die beiden sowieso. Medienwissenschaftlerin Iris schreibt ihre Doktorarbeit über die Darstellung von Menschen mit Behinderung im TV und Volker moderiert die Kochsendung „Dinner for everyone.“

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Mit einer Handbreit Wasser unterm Kiel fühlen sich Iris und Volker Westermann am wohlsten: „Wir reisen am liebsten an Bord der AIDA. So haben wir unser mobiles Hotel dabei und kommen gut rum. Und zum Entspannen gibt’s einen Seetag“, schwärmt Volker. Beide Weltenbummler haben die Glasknochenkrankheit, deshalb sind „Busreisen für uns zu anstrengend und ein Auto zu mieten ist schwierig.“ Bei einem TV-Koch und seiner Frau werden natürlich auch die kulinarischen Besonderheiten der Destinationen genauestens unter die Lupe genommen: „Wir essen nicht an Bord. Warum sollten wir unterwegs Deutsch essen?“

Seit 20 Jahren reisen die Westermanns gemeinsam. „Wir haben ganz lau angefangen mit dem Bodensee“, erinnert sich Iris. Seitdem ging es fast an jede Küste, die die AIDA ansteuert. Dubai, Asien, Brasilien, Argentinien,  New York, Miami, New Orleans, Griechenland, Thailand, Los Angeles und die Kanaren können sie unter anderem auf ihrem Globus mit kleinen Fähnchen markieren. Ebenso wie Skandinavien und Kanada.

„Rio de Janeiro ist erstaunlich barrierefrei, da würde ich gern nochmal hin“, resümiert Iris. „Bei China und Japan sind wir wegen Vorurteilen gegen Behinderte aber noch skeptisch.“ Wenig Spaß macht den Zugvögeln das Reisen in Deutschland: „Hier ist es am blödesten. Wir werden oft schief angeguckt und die Leute sind am wenigsten hilfsbereit. Ich nehme keine Kranken mit, haben wir letztens vom einem Taxifahrer gehört“, ärgert sich Iris.

Ganz anders in der Karibik, die Iris und Volker gerade auf einer dreiwöchigen Kreuzfahrt erkundet haben: „Die Tour führte uns unter anderem nach Aruba, Bonaire, Curacao, Barbados und Martinique. Klar ist es bei solchen Zielen mit der Barrierefreiheit nicht weit her. Aber wir haben wieder die Erfahrung gemacht, dass Lebensfreude so manche Hürde schnell aus dem Weg räumt.“ Neben der Schönheit der Natur bestach die beiden Weltenbummler besonders die Freundlichkeit der Menschen. „Durch Offenheit auf beiden Seiten wurden aus Reisebekanntschaften und Taxifahrern auf den Inseln Freunde“, schwärmt Volker und freut sich: „Der nächsten Tour ins tropische Paradies steht nichts im Weg!“.

Stürmische Liebe: El Médano

In den ewigen Passatwinden im Süden Teneriffas haben wir den perfekten Halt unserer Frisuren verloren – und unsere Herzen. Der kleine Fischerort El Médano am Fuße des Montaña Roja setzt auf Authentizität statt Event-Tourismus. Das zieht Surfer, Kiter, alte und junge Hippies an.

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Alte Spanier sitzen aufgereiht auf der Bank und blicken auf die Bucht, über den Markt toben Kinder und die Hunde der Hippies, vom Strand wehen Gitarrenklänge herüber und die Abendsonne taucht den Montaña Roja in den Farbton, der ihm seinen Namen gab. Wir sitzen im Restaurant Santa Maria bei fangfrischer Dorade und sind wunschlos glücklich. Der Süden Teneriffas ist mit vorbildlicher Barrierefreiheit und optimalem Klima eines der favorisierten Überwinterziele von Rollifahrern. Abseits der breiten touristischen Pfade von Los Cristianos und Playa las Americas haben wir nach einer etwas unberührteren Ecke gesucht. Und in El Médano gefunden.  „Düne“ heißt das Örtchen auf Deutsch und war wohl die Namensgebung wert, denn die vom Wind geformten Sandanwehungen sind auf der Insel sonst nicht zu finden.
Am südlichen Ende des Strandes ragt der Montaña Roja, der rote Berg, 200 Meter in die Höhe. Der unter Naturschutz stehende Vulkankegel war schon vor vielen Jahrhunderten als Orientierungshilfe in Seefahrerkarten verzeichnet. An seinem Fuße warf Ferdinand Magellan zum letzten Mal Anker, bevor er Anfang des 16. Jahrhunderts zu seiner Weltumsegelung aufbrach.

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An den steinernen Dünen am Strand knabbert der Atlantik – auch an „Peña Maria“. Sie ist benannt nach der Liebenden, die vergebens auf die Rückkehr ihres Juan aus Amerika wartete, der Schiffbruch erlitten oder von Piraten getötet worden sein soll. Aus Trauer verwandelte die arme Maria sich der Legende nach in einen Felsen in der Bucht von El Médano, von wo aus sie vergeblich nach Juans Schiff Ausschau hielt.
Entlang der Bucht führt eine teils asphaltierte, teils mit Holzbohlen ausgelegte Uferpromenade. Die Bohlen sind in Sachen Befahrbarkeit noch verbesserungsfähig – genau wie zahlreiche nicht abgesenkte Bordsteine im Ort. Entlang der Promenade reihen sich kleine Cafés und Bars aneinander, in denen man bei Tapas, Smoothies, Kaffee, frischem Fisch und kanarischen Spezialitäten zugucken kann, wie Surfer und Kiter durch die Bucht sausen. Wenn der Passat in den Sommermonaten besonders heftig peitscht, ist es Zeit für den Surf World Cup. 

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Wir werden hier zu Windverstehern und können bald alle möglichen Arten und Nuancen von Sausen und Pfeifen des Nordpassats, der hier fast ununterbrochen weht, unterscheiden. Für uns Nordlichter fühlt sich das heimisch an, auch wenn der heftige Gegenwind, um den man nicht herum kommt, im Rollstuhl zu einer echten Herausforderung wird. Also nehmen wir uns hin und wieder eine Sturmpause und fahren im Mietwagen zu den rund 20 Kilometer entfernten touristischen Hot Spots Los Cristianos und Playa las Americas mit den schicken Boutiquen, bebilderten Speisekarten in zehn Sprachen, blinkenden Leuchtreklamen und Las-Vegas-mäßigen Nachbauten antiker Tempel. Der Bus, Gua-Gua genannt, startet zwar regelmäßig vom Hafen aus, ist aber leider nicht barrierefrei. Dafür ist es kein Problem, eines der rollstuhlgerechten Taxis zu bestellen, die hier zuhauf herumfahren. Paradox: Trotz der extrem hohen Dichte von mobilitätseingeschränkten Urlaubern gibt’s kaum Leihwagen mit Handgasgerät. Letzteres haben wir deshalb von zuhause mitgebracht – und gleich nach der Ankunft am Flughafen die spanische Lässigkeit kennengelernt: Trotz vergessenen Führerscheins gab‘s den Seat, das unvollständige Handgasgerät wurde mit einem abgesägten Besenstil startklar gemacht.

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Ob mit eigenem Leihwagen oder Taxi - einen Ausflug nach Los Cristianos sollte man für eine Begegnung der besonderen Art auf jeden Fall einplanen. Hier legen nicht nur die Fähren zu den kleinen Nachbarinseln La Palma, Gomera und El Hierro ab, hier starten auch die Boottrips zum Whale-Watching. 21 der 79 weltweit existierenden Walarten kann man je nach Jahreszeit mit etwas Glück in den Gewässern Teneriffas beobachten. Ständige Küstenbewohner sind Kurzflossen-Grindwale und große Tümmler, denen man nach Möglichkeit nicht auf die Nerven gehen sollte. Deshalb haben die Exkursionsanbieter sich Qualitätsstandards verpflichtet, die den Tieren eine möglichst stressfreie Begegnung sichern.
Ein weiteres Muss für Natur-Freaks ist ein Besuch des Teide – Nationalparks mit dem 3.718 Meter hohen Teide. Der Vulkan bildet den höchsten Gipfel Spaniens und den dritthöchsten der Erde. Schon die Anfahrt durch die karge Mondlandschaft – hier wurden unter anderem Szenen für „Star Wars“ und „Planet der Affen gedreht“ – ist ein Erlebnis. Auf den Teide geht es mit einer Bergbahn, außerdem führen barrierefreie Naturpfade durch den Nationalpark.
Auch ein Blick aus der Vogelperspektive auf die Kanareninsel ist möglich: Von verschiedenen Startpunkten können Rollifahrer beim Paragliding abheben. Mehr über die Aktivitäten und Sehenswürdigkeiten rund um El Médano demnächst auf diesem Kanal.

Unterkunft
Gewohnt haben wir im Hotel Arenas del Mar – von außen ein liebloser grauer Klotz, dessen Bau den Bewohnern der bunten Häusschen am Strand die Tränen in die Augen getrieben haben dürfte.  Für Reisende im Rollstuhl ist er innen top ausgestattet, das riesige Zimmer mit ebenso großem barrierefreien Bad und Terrasse bietet viel Bewegunsfreiheit. Das ewige Windpfeifen wird allerdings noch vom Brummen des Generators übertönt, der sich direkt neben dem Zimmer befindet und wieder einmal die Erfahrung bestätigt, dass die unattraktiv gelegenen Zimmer als Barrierefreie genutzt werden.
Am südlichen Ende der Bucht, direkt am Fuße des Montaña Roja, soll es außerdem im Hotel Playa Sur barrierefreie Zimmer geben.

Essen
Leckere, landestypische Tapas gibt’s im La Lata de Gofio an der Plaza Roja, ein paar Meter weiter nebenan kann man in Manfred’s Soul Café den Sonnenuntergang genießen. Treffpunkt im Ortskern ist das Surf Café mit regelmäßigen Jam Sessions, direkt nebenan serviert das Oso regionaltypische, nachhaltige Küche – und auch mal Rheinischen Sauerbraten. Ebenfalls viel Wert auf Nachhaltigkeit und Bio-Qualität legt das Restaurant Santa Maria und im Agua Café an der Uferpromenade gibt’s Hochprozentiges und Vitaminreiches mit Blick auf die Surfer und Kiter.

Alles zum Urlaub auf Teneriffa auf www.webtenerife.com,  Informationen zur barrierefreien Planung auf www.tenerife-accesible.org

Übers Reisen reden… mit Makis Kalaras

Kalaras bezwingt als professioneller Sit-Skifahrer den Schnee, eigentlich natürlicher Feind eines jeden Rollstuhlfahrers. Dabei hat der Grieche auch noch verdammt viel Spaß. Wenig verwunderlich, dass er sich auch beim Reisen nicht von Grenzen aufhalten lässt. Wir haben mit dem Medaillen gekrönten Paralympioniken in Düsseldorf übers Reisen geredet. 

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Kuba, Kanada, USA, Johannesburg, Bali, China, Thailand, Jakarta, China, Norwegen, Dubai, Bulgarien, Ungarn – es gibt wenige Ecken in der Welt, die Makis noch nicht bereist hat. Probleme gabs bei dem vorzugsweise mit Flugzeug und Auto Vielreisenden nie. Ausgerechnet im wenig exotischen Dänemark stieß er aber vor einigen Jahren an die Grenzen seiner Unabhängigkeit: „Ich war zum Sit-Skiing in Norwegen und konnte wegen des Vulkanausbruchs in Island nicht zurück fliegen sondern musste die Straße nehmen. In Dänemark saß ich fest, weil sie im Hotel einen Lift für mich installieren mussten. Das war sehr kompliziert – in jedem anderen Land hätte man mich einfach die Stufen hochgetragen, aber das war sehr bürokratisch“, erzählt er grinsend.

Als sehr zugänglich hat der 39jährige Bali und Kuba erlebt: „Auf Kuba hatte ich überhaupt keine Probleme, da habe ich schon vor zehn Jahren leicht Hotelzimmer gefunden. Und Bali ist sehr günstig.“ Der Sportler, der neben dem Skifahren auch taucht, handbiked, kitet und Wakeboard fährt verfügt natürlich auch über deutlich mehr Fitness als Otto-Normalrollifahrer und lässt sich von Bordsteinen, zwei drei Stufen oder anderen Hindernissen nicht aufhalten.

Das erleben wir eindrucksvoll im Skatepark auf dem Messegelände in Düsseldorf: Beim allerersten Versuch im Wheelchair-Skaten geht’s gleich auf die höchste Halfpipe.

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Seine umfangreichen sportlichen Fähigkeiten vermittelt er auch anderen Rollifahrern. In Griechenland ist er als Trainer bei Keada, einem Zentrum zur Förderung des unabhängigen Lebens von Behinderten, aktiv. In Komotini, rund 85 Kilometer von Kavala entfernt, können Rollifahrer in der komplett barrierefreien Anlage des gemeinnützigen Vereins bei Makis Handbiken, Tauchen, Schwimmen, Stand up Paddling und Kiten lernen. Aber auch alltägliches Mobilitätstraining steht bei ihm und seinen Mitstreitern auf dem Programm.

„Seit den Paralympischen Spielen ist Griechenland sehr gut zugänglich“, findet Makis. „Bis Dezember ist es hier außerdem schön warm, dann wird’s bis Februar kalt.“ Aber auch dem griechischen Frühling scheint er noch nicht ganz zu trauen: „Im März fliege ich nach Kapstadt zum Kiten, damit habe ich vor zwei Jahren angefangen.“

Wer sich von dem beeindruckenden Griechen sportlich inspirieren lassen will kann einen Aufenthalt bei Keada buchen, Infos gibt’s auf www.keada.gr                                        

Konzerte, Kunst und Koberer auf dem Kiez: Das Reeperbahn Festival

Auf Hamburgs geiler Meile dreht sich alljährlich im September vier Tage lang alles rund um internationale und nationale Newcomer Bands und Künstler. Das Reeperbahn Festival feiert in diesem Jahr zehnten Geburtstag mit mehr als 400 Konzerten, Kunst-Ausstellungen, Theater und Lesungen. Wir haben den Barrierefrei-Check gemacht.

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„Wir sind barrierefrei seit 2003!“ Die Koberer auf dem Kiez haben den passenden Spruch für jeden vorbei schlendernden Reeperbahn-Besucher parat. Wir haben aber keine Lust auf Table-Dance sondern sind mit Timetable bewaffnet auf dem Weg vom Spielbuden Platz zur Großen Freiheit. Ein ziemlicher Akt unter dicht gedrängten Touristentrauben, die den allgegenwärtigen Olivia-Jones-Touren folgen und Junggesellenabschieds-Terror. Unsere erste Lektion: Wer das Reeperbahn Festival besuchen möchte, sollte sich vorher einen Tag Zeit nehmen, um das Line up zu studieren und sich einen Plan zu machen. Das Programm ist definitiv eine Überforderung. Andererseits kann man eigentlich auch nichts falsch machen wenn man sich einfach treiben lässt zwischen großen Locations wie Docks oder Große Freiheit 36 oder Jazz Café und der St. Pauli Kirche. Einen hervorragenden Tagesüberblick erhält man außerdem bei „Ray’s Reeperbahn Revue“ im Schmidt Theater. Hier stellt MTV-Legende Ray Cokes täglich einige Bands und Künstler vor. Wenn man denn einen Platz ergattert. Schon weit eine Stunde vor Beginn bildet sich eine Schlange entlang des Spielbuden Platzes. Wir haben Glück, sind drin und hören unter anderen Family of the Year („Hero“). Denen statten wir später in der Großen Freiheit noch einen Besuch ab.

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Außerdem auf unserem Plan: Die tollen Musikerinnen von JOCO im Docks, die britische Indie-Rock-Band Coast und die Londoner Soulsängerin Andreya Triana im Mojo Club. Für Rolli-Fahrer, die mit den Hamburger Clubs und Discos nicht vertraut sind, hat die Planung noch eine weitere fette Hürde parat: Es gibt null Angaben zur Barrierefreiheit der Locations. Unter den FAQs auf www.reeperbahnfestival.com findet sich eine Info zum Kartenpreis für Besucher mit Behinderung (Besucher und Begleiter zahlen den Eintritt für eine Person) und das war’s. Eine glatte Sechs.

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Eine gute Note können wir aber den Security-Leuten und Türstehern in den von uns besuchten Clubs ausstellen – die sind allesamt sehr hilfsbereit und bemüht, die Plätze mit der besten Sicht auf die Bühne zu finden. Entsprechend dem Baujahr der Locations verhält sich meist auch deren Zugänglichkeit. Top ist das brandneue Klubhaus St. Pauli, das mit der Alten Liebe, Spotify Trendsetter Club, Kukuun, Bahnhof Pauli und Schmidt Theater gleich mehrere Locations beherbergt. Besonders begeistert hat uns der wiedereröffnete Mojo Club: Von der ehemaligen charmant-schrammeligen Location in einem ehemaligen Bowling-Center hat er vor zwei Jahren eine sehr schicke Wiederauferstehung einige Stockwerke unter den zwei „tanzenden Türmen“ am Anfang der Reeperbahn gefeiert. Vom Jazz-Café aus geht es für Rollifahrer mit dem Fahrstuhl nach unten in den Mojo Club. Ein Mojo-Crew-Mitglied erläutert, wo Besucher mit Handicap was finden. Dazu gibt’s einen Plan „Mojo Wheelcharing – What goes round must come down“ mit Infos und Tipp für die besten Sichtplätze. Die empfohlenen Plätze nehmen wir gern ein. Dafür, dass sich genau vor uns eine ununterbrochen zeternde junge Frau, von uns „Kinskis-Nichte“ getauft breit macht und penetrant ihre belanglose Sicht auf die Welt in den wunderbaren Gesang von Andreya Triana posaunt können die Mojo-Leute natürlich nix.

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Fazit: Großartiges Festival mit Nachsitz-Bedarf in Sachen Infos zur Barrierefreiheit.

Küstenromantik, Kunst und Zeitreisen in Emden

Rund um den Ratsdelft schlagen unsere Hamburger Herzen höher: Das historische Hafenbecken verbreitet mit Oldtimer-Schiffen, Riesen-Anker, Fischerskulpturen und altem Hafentor Seefahrer-Romantik. Auf der letzten Station unserer Sommertour durch Niedersachsen kommen wir in Küstennähe. Und dass auch Holland nicht weit ist, merken wir in Emden auch: Ohne Fahrrad geht in der lebendigen Hafenstadt nichts. Beste Bedingungen fürs Handbiken.

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Ein lebendiger Ort ist auch die Kunsthalle Emden, die die Sammlung des Stern-Gründers Henri Nannen, die Schenkung des Galeristen Otto van de Loo und wechselnde Ausstellungen beherbergt. Im Museum gibt’s ein Labor zum Experimentieren und nebenan lädt die Malschule zum eigenen künstlerischen Schaffen ein. Im Café Henri’s wird bei einem Ostfriesen-Tee lebhaft diskutiert und vom Stadtgraben schallen gleichmäßige Trommelschläge herüber. Kurz darauf zieht ein Drachenboot am Anleger der Kunsthalle vorbei. „Wir sind wohl deutschlandweit das einzige Museum mit einem eigenen Anleger“, freut sich Kunsthallen-Direktor Frank Schmidt, der seinen Arbeitsplatz auch sonst zu schätzen weiß. Beim Schnack im Strandkorb erfahren wir, dass Henri Nannen Kunstgeschichte studierte und sich als Kunsthändler versuchte. „Henri Nannen kaufte damals viele Bilder, die sich heute in der Sammlung befinden. Er hat aber schnell gemerkt, dass er kein Geschäftsmann ist.“ Sehr sympathisch.

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1986 eröffnete Nannen die von Friedrich Spengelin entworfene Kunsthalle als „lebhaften Ort, an dem Menschen und Kunst zusammenkommen.“ Manchmal kommt die Kunst hier sogar hautnah: „Wir hatten eine Tatoo-Künstlerin hier, die Motive aus Kunstwerken wie Marcs blaue Fohlen tätowiert hat“, erzählt Schmidt. Die Blauen Fohlen von Franz Marc ist eines der wertvollsten Werke der Kunsthalle. Zu den bekanntesten gehört die Norddeutsche Landschaft von Heiner Altmeppen.
„Der Strandkorb ist ein schöner Bezug zur Nordseeküste, den Inseln und dem Thema Barrierefreiheit, an dem wir arbeiten“, so Schmidt. Als das Museum entstand, waren Terrassen und unterschiedliche Höhenniveaus schick, die teilweise noch nivelliert werden sollen. Behindertenparkplätze direkt am Eingang, automatische Türöffnung und Fahrstühle würden aber bereits „eine Willkommenskultur ausstrahlen.“ Das finden wir auch. Und eine persönliche Atmosphäre strahlt die Kunsthalle auch aus – was wohl auch daran liegt, dass nach dem Tod Henri Nannens 1996 seine Frau Eske als Geschäftsführerin tätig ist. Wir gehen auf „Zeitreise“ in die aktuelle Ausstellung, die Werke aus der Sammlung von 1904 bis 2014 zeigt – eines pro Jahr, dessen prägende Ereignisse in einem Zeitstrahl aufgeführt sind.
Im kommenden, 30. Jahr des Bestehens können Besucher sich auf eine Premiere freuen: „Dann gibt es die erste Ausstellung in Deutschland über Nikolai Astrup, einen norwegischen Maler aus der Munch-Zeit“, verspricht Schmidt.

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Wer tiefer in die Geschichte Ostfrieslands und seiner regionalen Künstler eintauchen möchte, kann weiterziehen ins Ostfriesische Landesmuseum. Bis auf den Turm ist auch hier alles barrierefrei und für Kinder ist die Emder Rüstkammer mit Original Waffen aus der Zeit um 1600 und Rüstungen zum Anprobieren ein Highlight.
Viel schöner finden wir es aber, die Geschichte der Stadt vor den Museumsmauern selbst und im Zusammenspiel mit ihrem modernen Leben zu erfahren. Also schlendern wir durch die Fußgängerzonen der Altstadt, gucken uns die Renaissance-Fassaden der Pelzerhäuser an und essen ein Fischbrötchen beim „Heringslogger“ neben dem Hafentor im niederländischen Baustil von 1635. Dabei gucken wir uns die geschichtsträchtigen Schiffe im geschichtsträchtigen Hafen an, der ab 1570 seine Hochblüte erlebte als niederländische Glaubensflüchtlinge Schiffe, Kapital und gute Handelsbeziehungen mitbrachten. In der ganzen Gemütlichkeit heute schwer vorstellbar, dass Emden damals mit rund 20.000 Einwohnern eine der größten Städte Deutschlands war. Infotafeln rund um den Ratsdelft erzählen die Geschichten des Hafens, seiner Schiffe und Bauwerke.

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Ganz in der Nähe hat auch ein zeitgenössischer Ostfriese Spuren hinterlassen: Durch die Wand von „Dat Otto Huus“ guckt ein Ottifant, das Markenzeichen des ostfriesischen Kultblödlers Otto Waalkes. Barrierefrei ist das Museum nicht, aber schon seine Fassade schickt uns auf eine Zeitreise in unsere Kindheit. Auf der Rückfahrt kramen wir die alten Witze des berühmten Emders hervor, der sich seit 40 Jahren erfolgreich mit derselben Fisselfrisur durch Film und Fernsehen kalauert. Die gehören – genau wie die Ostfriesenwitze – zu Recht in die Klamottenkiste der ausgestorbenen Witze, lassen uns den Abschluss unserer Sommertour aber mit Leichtigkeit tragen.

Infos zur Kunsthalle Emden gibt’s unter www.kunsthalle-emden.de.
Die Stadt informiert auf www.emden-touristik.de eher unzulänglich über Barrierefreiheit (hier haben wir nur Hinweise zu Parkplätzen und Toiletten gefunden). Auf dem kostenlosen Stadtplan der Tourist-Information sind Hinweise zur Zugänglichkeit von Restaurants aufgeführt.
Ergänzende Informationen sind auf http://www.ostfriesland.de/service/barrierefreie-ziele.html zu finden.

Große Geschichte und schöne Geschäfte in Osnabrück

In Osnabrück kommen wir zum Glück am Samstagabend an. Hätten die Geschäfte geöffnet, wären wir vermutlich dem Kaufrausch verfallen und hätten nicht nur die Spuren der Weltgeschichte sondern auch viele weitere historische Stätten verpasst. Auf der Rathaustreppe wurde 1648 am Marktplatz nämlich der Westfälische Frieden verkündet. Bevor wir uns den vielen traditionsreichen Läden widmen wandeln wir also erstmal auf historischen Pfaden.

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Verschlungene Altstadtgassen, in denen mittelalterliche Lagerhäuser nun Galerien beherbergen münden in den Marktplatz mit dem welthistorisch bedeutsamen Rathaus oder führen zu ehemaligen Stadttoren. Vier Kirchturmspitzen und alte Giebeldächer ragen in den Himmel, das Tempo unten auf dem Kopfsteinpflaster ist entspannt. Beim ersten Eintauchen in die Osnabrücker Altstadt finden wir es sofort bestens nachvollziehbar, dass die Bewohner lange als die glücklichsten Deutschlands galten.
Heute sind die vielen verheißungsvollen Geschäfte und Galerien aber glücklicherweise geschlossen, sodass wir uns der Stadtgeschichte widmen können. Und die hat es in sich.

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In dem eher nüchtern anmutenden Saal im ersten Stock des Rathauses wurde nämlich der Westfälische Frieden ausgehandelt. Dieser beendete mit dem 30jährigen Krieg einen der Blutigsten der Geschichte. Wenn man auf der um den Raum laufenden Holzbank Platz nimmt wie einst die Ratsmitglieder, kann man die Porträts der streng schauenden Gesandten und einen prächtigen, 500 Jahre alten Kronleuchter betrachten. Dass Leuchter, geschnitzte Bänke und die mittelalterlichen Schranktüren im Saal noch existieren ist ein wahres Glück, denn das Rathaus fiel wie 70 Prozent der restlichen Stadt im Zweiten Weltkrieg einer weiteren dunklen Epoche der Geschichte zum Opfer. Ein Stockwerk höher im Rathaus gibt ein Stadtmodell einen eindrucksvollen Überblick über die Struktur der Stadt im Jahr 1633. Friedenssaal, Stadtmodell und auch die Schatzkammer sind kostenlos und barrierefrei zugänglich. Für Rollifahrer führt der Weg nicht über die Rathaustreppe am Marktplatz sondern durch den Seiteneingang, der mit einer Klingel ausgestattet ist.

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In der Marienkirche gleich nebenan sind noch Kreuz und Taufbecken aus den Ursprüngen im 12. Jahrhundert erhalten. Die in den Boden eingelassenen Grabplatten – unter denen sich keine Gebeine mehr befinden – erzählen vom Leben gut situierter Osnabrücker Bürger. Eine Besonderheit in der Hallenkirche ist die Madonnen-Figur, die in der Regel nicht in evangelischen Gotteshäusern anzutreffen ist und noch dazu eine Schuhspitze unterm Gewand aufblitzen lässt. Die Schuhmacher-Gilde wird deshalb als mögliche Stifterin der Madonna gehandelt, Belege gibt es dafür aber nicht. Zu Wohlstand kam Osnabrück unter anderem durch den Handel mit Leinen. Am Bürgerbrunnen auf dem Platz des Westfälischen Friedens gönnen wir uns direkt neben dem Marktplatz eine spielerische Pause mit Stadtgeschichte und viel Koffein: Der Osnabrücker Bildhauer Hans Gerd Ruwe (1926 – 1995) hat zum 1200. Geburtstag der Stadt 1980 eine Art Wimmelbild als Brunnen mit drei Wasserschalen und 1200 Figuren geschaffen, die historische und Alltagsszenen darstellen. Bei einem Americano aus dem „Kaffeeladen“ suchen wir bei meditativem Plätschern nach Hexen, Bauern und Königen unter den Brunnenfiguren.

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Wie in einem Wimmelbild geht’s uns auch auf der weiteren Altstadt-Erkundung: An fast jedem Haus, viele davon „Steinwerk“ genannte mittelalterliche Lagerhäuser, gibt es in kleinen Details Stadtgeschichte zu entdecken. Besonders schöne Exemplare sind das Haus Willmann in der Krahnstraße aus dem Jahr 1586 mit seiner bunt verzierten Fachwerkfassade und das Barock-Fachwerkhaus in der Bierstraße, das seit seiner Errichtung im Jahr 1690 ein Gasthaus ist – heute das Romantik Hotel Walhalla. Das älteste, noch in der Restaurierung befindliche Steinwerk aus der Zeit um 1180 versteckt sich in einem Hinterhof in der Bierstraße 7.
Wir machen uns auf den Weg in die Neuzeit und begegnen am ehemaligen Stadttor Heger Tor, das nach seiner Neuerrichtung 1817 eigentlich „Waterloo-Tor“ heißt, zeitgenössischer Kunst: Das Tor in der Form eines Triumphbogens wurde von dem schwedischen Künstler Michael Johanssons mit alten Kühlschränken, Spülen, Kommoden und Lexika im wahrsten Sinne des Wortes „vermöbelt“. Auf der anderen Seite des Heger Tors wartet das Felix-Nussbaum-Haus, das die größte Sammlung des gleichnamigen Osnabrücker Malers beherbergt. Keine leichte Kost: Der amerikanische Star-Architekt Daniel Libeskind schuf 1998 ein Gebäude, das mit langen dunklen Gängen, schiefwinkelig aneinanderstoßenden Wänden, schweren Türen und schrägen Fensterschlitzen die Themen von Nussbaums Leben und Werk aufnimmt: Der 1904 in Osnabrück geborene jüdische Maler wurde 1944 in Ausschwitz ermordet. Das Felix-Nussbaum-Haus und das angrenzende kulturgeschichtliche Museum sind vorbildlich barrierefrei und unbedingt sehenswert.

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Vorbildlich ist auch die schnelle Übersicht zur Barrierefreiheit in den touristischen Informationsbroschüren: Auf dem kostenlosen Stadtplan sind Sehenswürdigkeiten, Parkplätze und Toiletten für die schnelle Information aufgeführt, sehr detailliert wird es im Internet auf http://www.osnabrueck.de/barrierefreier-tourismus.html.
Wir verschaffen uns schon mal einen Überblick für den morgigen Shopping-Bummel.
Gut ausgeschlafen haben wir im Steigenberger Hotel Remarque - benannt nach dem Osnabrücker Schriftsteller Erich Maria Remarque („Im Westen nichts Neues“, 1898 – 1970), über dessen Leben und Werk das Erich Maria Remarque-Friedenszentrum am Markt eingeschränkt barrierefrei informiert. Das große Zimmer mit großzügigem Bad ist bestens barrierefrei und jetzt im Hochsommer bezahlbar. Und direkt gegenüber der Kunsthalle Osnabrück am Tor der Altstadt gelegen ist das Hotel ein optimaler Ausgangspunkt für Stadt- und Einkaufsbummel. Wir sind begeistert von den kleinen, individuellen Galerien, Cafés, Goldschmieden und Feinkostläden in unmittelbarer Nähe des Marktplatzes. Heimisch fühlen wir uns in der Redlinger Straße, die zur Katharinen Kirche führt und uns mit den bunten Boutiquen und Cafés ans Hamburger Karo-Viertel erinnert. Mit Rolli sind leider nicht alle uneingeschränkt zugänglich, aber Window-Shopping und das Flair der Osnabrücker Bohème zu schnuppern  ist auch o.k.

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Ganz viel Bewegungsfreiheit und vorbildliches Mitdenken in Sachen Barrierefreiheit gibt’s in dem mehr als hundert Jahre alten Modehaus L+T in der Große Straße, das immer noch im Eigentum eines Nachfahren der ehemaligen Besitzer ist. Für Osnabrücker wie Lehrerin Anne Linnenschmidt und ihre neun Monate alte Tochter Hanna bei jedem Stadtbummel eine feste Anlaufadresse, wie sie uns beim Schnack im Strandkorb, der als Botschafter für Barrierefreiheit auf der Restaurant-Terrasse steht, verrät. Anne ist eine glückliche Osnabrückerin: „Wir haben hier viel mit dem Regen zu kämpfen aber machen das Beste daraus.“ Auch mit dem Kinderwagen kommt sie in der Stadt „super klar. Ich kann alles zu Fuß machen, alles ist erreichbar.“ Ihre einjährige Auszeit als Mutter genießt sie unter anderem in Cafés. Uns Koffein-Junkies empfiehlt sie den „Kaffeeladen“ in der Krahnstraße 56: „Die sind dort sehr zärtlich zu ihrem Kaffee!“ Das finden wir auch – vielen Dank für den Tipp, liebe Anne.

Info
Sehr gute Informationen zum barrierefreien Osnabrück-Besuch gibt es auf http://www.osnabrueck.de/barrierefreier-tourismus.html
Außerdem Top: Es steht ein Rollstuhl mit extra-dicken Reifen für das lästige Kopfsteinpflaster zum Ausleihen mit Euroschlüssel bereit. Informationen hierzu ebenfalls auf der oben genannten Seite.  

Glück Auf in Goslar

Hexen konnten wir im Harz nicht auf ihren Besen durch die Luft reiten sehen. Wir sind nämlich in den Berg gefahren und haben mit einem alten Bergmann das ehemalige Bergwerk und UNESCO-Weltkulturerbe Rammelsberg erkundet. Und danach in Goslar erfahren, wie der Bergbau die tausendjährige Kaiserstadt geprägt hat.

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„Glück auf!“ wünscht uns der ehemalige Bergmann Uwe Mämecke im Weltkulturerbe Rammelsberg bei der Abfahrt. Das wünschen wir uns auch, denn der kleine fensterlose Grubenwagen, mit dem es in das ehemalige Bergwerk Rammelsberg gehen soll, ist für Klaustrophobiker eher nicht geeignet. Dafür aber für Rollifahrer: Über eine Rampe lässt sich das gelbe Gefährt bestens befahren. Und dann ruckelt es auch schon in die Dunkelheit unter Tage, die hochsommerliche Außentemperatur sinkt innerhalb weniger Minuten auf 12 Grad. In einer Tiefe bis zu 480 Meter wurde der Berg für die Erzgewinnung bis 1988 ausgehöhlt.

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So tief geht es auf unserer Fahrt zum Glück nicht – eine Strecke von 600 Meter legen wir zu dem Stollen zurück, der von 1950 bis 1970 bearbeitet wurde. Hier verlassen wir den Grubenwagen und lassen uns in dem engen, feuchten Gang von Bergmann Mämecke die Welt des Erzabbaus demonstrieren. Und die war laut und ungemütlich: Erst wurden Löcher in den Berg gebohrt, dann wurde gesprengt, im Anschluss das Hauwerk weggeräumt und dann abtransportiert. Je nach Jahrhundert mehr oder weniger mühsam. „Einen Ohrenschutz gab es erst ab 1950“, erzählt Mämecke. Schwerhörigkeit war bei Bergleuten keine Seltenheit, ebenso wenig eine Staublunge. Gemütlich finden wir seinen ehemaligen Arbeitsplatz nicht gerade, verglichen mit dem seines Großvater scheint es aber fast ein Paradies gewesen zu sein: „Unsere Großväter sind von Montag bis Sonnabend in den Stollen gefahren und haben dort auch geschlafen. Die hatten auch noch kleine Vögel, die „Harzer Roller“, in selbst gezimmerten Käfigen dabei. Wenn die Vögel aufhörten zu singen und tot am Boden lagen, war zu viel Gas in der Luft.“ Luft heißt in der Sprache der Bergleute übrigens Wetter, und auch fürs Gehen sagen sie Fahren. „Grobe Typen“ und eine eingeschworene Gemeinschaft mit eigener Sprache und oft eigenem gesellschaftlichen Leben seien sie gewesen. „Bis 1920 haben noch Pferde im Bergwerk das Hauwerk abtransportiert. Die blieben bis zu ihrem Tod im Stollen“, erzählt Mämecke. Wir kriegen nicht nur von der Kälte im Stollen eine Gänsehaut und sind froh, als wir wieder in der hochsommerlichen Sonne auf dem Museumsgelände des Rammelsbergs stehen.

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Das ehemalige Erzbergwerk und die Altstadt von Goslar wurden 1992 zum UNESCO Weltkulturerbe erklärt. „Dies ist das größte Bergwerk mit der Möglichkeit, unter Tage zu fahren“, erklärt Rammelsberg-Geschäftsführer Gerhard Lenz beim Schnack im Strandkorb vor der Kulisse des ehemaligen Förderturms. Dass auch Rollifahrer die Gelegenheit haben, mit dem Grubenwagen in den Stollen und dem Schrägaufzug zum höchsten Punkt der Aufbereitungsanlage zu fahren sowie einen Großteil des Ausstellungsgeländes zu besuchen ist bei den strengen Denkmalschutzauflagen keine Selbstverständlichkeit: „Alles, was wir machen, muss dem Denkmalschutz gerecht werden. Wir stoßen dann manchmal an unsere Grenzen“, so Lenz. Ein Fahrstuhl in die Eingangshalle ist deshalb noch in Planung. Bis zu seiner Realisierung ist der Zugang aber auch über die Rufsäule auf der anderen Seite der Halle kein Problem.

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Ende der 1930er Jahre, als die Nazis dringend Rohstoffe benötigten, erlebte der Bergbau noch einmal einen Aufschwung. Seine Geschichte geht aber viel weiter zurück: Schon vor 3.000 Jahren wurde Erz abgebaut, in den Jahrhunderten darauf sorgte der Bergbau maßgeblich für das wirtschaftliche Leben der Kaiserstadt Goslar am Fuße des Rammelsberges. Das um 1500 erbaute Gildehaus der Fernhandelskaufleute, die unter anderem Erz bis nach Oberitalien, Brabant, Flandern, Skandinavien und ins Baltikum verkauften, zeugt von dem Reichtum und Selbstbewusstsein, dass der Rohstoff den Bürgern brachte. Das Gildehaus oder auch Kaiserworth ist eines der prägenden Bauwerke am Marktplatz der Altstadt neben dem Rathaus, dem schieferverkleideten Kaiserringhaus (unbedingt das Glockenspiel ansehen!) und dem Springbrunnen. Die prächtigen Bürgerhäuser und die bescheideneren, aber sehr malerischen Häusschen der Gerber, Knochenhauer, Färber und Co. begeistern uns sehr. Das dazwischen zu bewältigende Kopfsteinpflaster allerdings weniger. Über dieses meckerte schon Heinrich Heine 1826 auf seiner „Harzreise“, die wir als Reclam-Heft im Gepäck haben. Wie es historische Städtchen leider so an sich haben, verträgt sich die malerische Zeitreise ins Mittelalter naturgemäß nur schwer mit Barrierefreiheit.

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Umso mehr freuen wir uns, dass eines der Highlights der Stadt zugänglich ist: In der mächtigen Kaiserpfalz, zwischen 1040 und 1050 von Heinrich III. erbaut, kann frühe europäische Geschichte geschnuppert werden. Und im Kaisersaal wird die Verbindung zur neuzeitlichen europäischen Geschichte geschlagen: Die Historiengemälde aus der zweiten Reichsgründung im Stil der Nazarener von Hermann Wislicenus (1835 – 1903) finden wir zwar ziemlich kitschig aber aufschlussreich. Und unser Bild vom primitiven Mittelalter müssen wir revidieren, als wir die mittelalterliche Fußbodenheizung entdecken: Ein Kanal mit Heißluft sorgte dafür, dass die Pfalz beim winterlichen Gefrierpunkt immerhin auf 12 Grad erwärmt wurde. Und falls jemand nach Hexen Ausschau hält: Die echten Harzhexen tragen Kopftücher, keine spitzen Hüte, wurden wir aufgeklärt. Populär wurden sie maßgeblich durch Goethe: Der ist nämlich auch in den Rammelsberg eingefahren. Dort fühlte er sich „wie in die Hölle“ versetzt und wurde zu der Walpurgis-Szene im „Faust“ inspiriert. Mal sehen, was uns nach unserer Rammelsberg-Fahrt noch so einfällt. Fortsetzung folgt.

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Info
Alle Infos zum Weltkulturerbe Rammelsberg und Barrierefreiheit findet Ihr auf www.rammelsberg.de. Für die Grubenfahrt empfiehlt es sich, auch im Hochsommer eine Jacke dabei zu haben. Unter Tage ist der Weg sehr glitschig und aufgrund der Schienen uneben – im Zweifelsfall sollte also eine Begleitung dabei sein. Rolliparkplätze sind direkt am Eingang vorhanden, außerdem ist das Museums-Bistro mit einer kleinen, günstigen und sehr leckeren Speisekarte uneingeschränkt barrierefrei zugänglich.
Übernachtet haben wir im Hotel Niedersächsischer Hof (www.niedersaechsischerhof-goslar.de), das Traditionelles sehr inspirierend mit der Moderne verbindet: In Kooperation mit dem Museum für Moderne Kunst Mönchehaus werden hier Werke zeitgenössischer Künstler ausgestellt und alljährlich die Kaiserring-Träger beherbergt. Das Mönchehaus, untergebracht in einem Gebäude von 1528, ist leider nicht barrierefrei zugänglich. Ebenso wie das Goslarer Museum, vor dem aber eine sehenswerte Stadtansicht in Bronze steht (mit Informationen in Brailleschrift).

Gut zugänglich ist die Marktkirche aus dem 12. Jahrhundert, in der regelmäßig Ausstellungen zeitgenössischer Künstler zu sehen sind. Auch die modernen Glasfenster, die Johannes Schreiter zwischen 1992 und 2000 geschaffen hat, schaffen eine schöne Verbindung zwischen „alter“ und gegenwärtiger Spiritualität. Außergewöhnlich leckere mediterrane Spezialitäten gibt es im „Trüffel“ – leider ebenfalls nicht barrierefrei zugänglich, aber im Sommer mit schönen Außenplätzen. Also Goslar am besten in der warmen Jahreshälfte mit Draußensitz-Möglichkeiten erkunden. Weitere Informationen unter www.mein-niedersachsen.de/goslar

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Zurück in die Zukunft nach Wolfsburg

Als wir in Wolfsburg ankommen fühlen wir uns spontan in die Zukunft gebeamt: Die Stadt wurde erst 1938 als Sitz des VW-Werks gegründet und präsentiert sich äußerst modern. Dafür sorgt besonders das Science Center Phaeno, das wie ein Ufo direkt neben dem Bahnhof gelandet zu sein scheint. Außen beeindrucken die geschwungenen Linien von Architektin Zaha Hadid, innen werden sogar Physik-Muffel wie wir von mehr als 350 Experimenten begeistert.

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Eine junge Seele ist trotz seinen 83 Jahren auch Frank Helmut Zaddach, den wir zum Schnacken im Strandkorb treffen. Als Ratsherr hat er das Phaeno, das vor zehn Jahren Eröffnung gefeiert hat, mit auf den Weg gebracht. „Ich war der Kultur-Fuzzi im Rat“, erzählt er lachend. „Dabei habe ich Physik gehasst! Ich halte das Gebäude als Ganzes für ein Gesamtkunstwerk. Was der Eifelturm für Paris, ist das Phaeno für Wolfsburg.“ Fünf- bis sechsmal im Jahr kommt Zaddach, der seit drei Jahren auf einen Rollstuhl angewiesen ist, ins Phaeno – zu Aufsichtsratssitzungen, mit seinen Enkeln oder Besuchern. Die Architektur findet er „toll“, auch wenn mit der Star-Architektin viele Kämpfe ausgefochten werden mussten. Die Winkelberechnung des Daches erwies sich als höchst kompliziert, der von Hadid gewünschte Beton war damals in Deutschland noch nicht zugelassen und gegen Sitzgelegenheiten auf dem weitläufigen Vorplatz wehrte sie sich vehement: „Sie erschien immer mit einer ganzen Entcourage und sprach sehr schnell. Ihre Mitarbeiter zuckten jedes Mal zusammen“, erinnert Frank Helmut Zaddach sich lächelnd. Und doppelt so teuer wie geplant wurde der Bau natürlich auch.

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Wir finden aber: Kämpfe und Kosten haben sich gelohnt, die Architektur ist auch innen atemberaubend mit ihren fließenden Formen. Und wenn es die mehr als 350 interaktiven Experimentier-Stationen schon zu unseren Schulzeiten gegeben hätte, hätten wir in Physik vielleicht ein paar mehr Punkte bekommen. Wir verlieren uns sofort in den verschiedensten Experimenten, die ganz nah am Alltag sind und so auch für naturwissenschaftlich Minderbegabte verständlich werden. Wir lassen unseren Sinne täuschen an einer riesigen Lupe, unter der eine Untertasse uns abwechselnd vorgaukelt rund oder oval zu sein, pusten Bojen auseinander, lassen unsere elektrisch aufgeladenen Haare zu Berge stehen und versuchen uns im Turmbau: Wie die mittelalterlichen Baumeister müssen wir Würfel zu einem Bogen zusammensetzen, der durch einen Mittelstein Halt bekommt. Zwischendurch lassen wir uns nur vom dem Feuertornado ablenken, einer mehr als sechs Meter großen Feder, die zwar zu sehen, aber nicht zu greifen ist.

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Sogar der Themenbereich Mathematik wird uns sympathisch, weil hier die Entstehung von Schatten mit Märchenfiguren nachgestellt und kreiert werden kann. Die Sonderausstellung „Ausgeflippt“ geht den verschiedensten Flipperautomaten und ihrer Mechanik durch zahlreiche Jahrzehnte auf den Grund und präsentiert auch von Künstlern entworfene Spielgeräte. Auch sonst gibt’s neben Naturwissenschaft auch Kunstexponate zu sehen, so wie den „Kleinen gelben Stuhl“ von Arthur Ganson. Der US-amerikanische Künstler (geboren 1955) hat sich von einem Kinderstuhl zu der Mechanik eines sich immer wieder neu zusammensetzenden Stuhls inspirieren lassen, der Zuzugucken etwas Meditatives hat.

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Durch das große Fenster schaut man auf die nicht weniger futuristisch anmutende Autostadt, die auch erst 15 Jahre alt ist.
Fast alle Experimentierstationen sind barrierefrei zugänglich, es gibt Fahrstühle und in der Tiefgarage Rolli-Parkplätze. „Der Eingang ist etwas eng“, findet Frank Helmut Zaddach. „Aber die Service-Mitarbeiter im Kassenbereich sind sehr gut geschult, ich hatte noch nie Probleme.“  Als wir uns von Frank Helmut verabschieden wünschen wir uns einen ebenso hellwachen Geist im hohen Alter und sind uns sicher, dass wir die alltäglichen Phänomene nicht mehr so selbstverständlich hinnehmen.

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Als wir entdecken, dass im Kunstmuseum Wolfsburg, Museum für moderne und zeitgenössische Kunst, eine Ausstellung unseres Lieblingskünstlers Erwin Wurm zu sehen ist, müssen wir natürlich noch einen Abstecher machen. Die Ausstellung „Fichte“ mit Wurms unschlagbar ironisch-kritischem Blick auf Alltag und Gesellschaft ist noch bis zum 13. September zu sehen. Als wir „Future-City“, wie wir Wolfsburg intern getauft haben, verlassen, entdecken wir doch noch etwas richtig Altes: Die Wolfsburg wurde 1302 erstmals urkundlich erwähnt, wandelte sich in ein Renaissance-Schloss und strahlt uns nun in weißer Märchenhaftigkeit an. Mit dem Turmbau-Experiment im Kopf wissen wir die Kunst der alten Baumeister umso mehr zu schätzen. Und freuen uns, dass unsere Sommertour uns nun in ein richtig altes Städtchen führt. Fortsetzung folgt.

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Infos
Alles, was Ihr über den barrierefreien Besuch des Phaeno wissen müsst, findet Ihr auf http://www.phaeno.de/alle/
Weitere Informationen über Wolfsburg gibt’s auf www.reiseland-niedersachsen.de/wolfsburg
Geschlafen haben wir sehr gut im Tryp Hotel, das direkt gegenüber dem Phaeno am Willy-Brandt-Platz liegt: http://www.tryphotels.com/de/hotel-in-wolfsburg-zentrum-4-stern-tryp-wolfsburg.html 

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