UNKNOWN USER: Wer stirbt, geht offline

Uncategorized / 16. August 2015

Der kleine Horrorfilm UNKNOWN USER (im Original UNFRIENDED oder auch – recht austauschbar – CYBERNATURAL) schafft es momentan, sich langfristiger im Kino festzuhaken als viele Blockbuster. Mein internetgestählter Gastautor Dr. Wily hat sich einige Gedanken zur Geschichte und Machart dieser Online-Gruselgeschichte gemacht.

Wenn in UNKNOWN USER die Hölle losbricht und der Racheengel beginnt, unter unseren jugendlichen Protagonisten aufzuräumen, haben wir den wahren Horror schon längst hinter uns. Er liegt hier in einer Technik, die uns nicht mehr gehorcht und die wir nicht mehr im Griff haben. Er liegt hier im Internet, das nichts vergisst. Der wahre Horror ist letzten Endes das, was Menschen einander antun.

Auffallend an UNKNOWN USER ist natürlich als erstes das visuelle Konzept – der ganze Film spielt auf dem Computerbildschirm unserer Protagonistin Blaire. Sie skypt mit fünf Freunden, daneben schreibt sie Chatnachrichten, checkt Facebook-Pages, schreibt dort Mitteilungen, hört Musik auf Spotify, schaut YouTube-Videos, kopiert URLs, öffnet eMails und diverse Websites, installiert Software. Es ist auch ein Film, bei dem man viel lesen muß, um überhaupt mitzukommen.

Man sieht: Videospiele machen gar nicht einsam.

Das Unheimliche schleicht sich langsam über die Technik ein. Ein unbekannter User, der bei Skype einfach nicht rauszuwerfen ist. Facebook-Nachrichten vom vielleicht doch nur gehackten Facebook-Account einer Toten. Und irgendwie scheint das alles mit dem Suizid ihrer aller Freundin Laura Barns zusammenzuhängen, die sich aufgrund eines peinlichen Videos und der daraus resultierenden Ausgrenzung auf dem Schulhof erschossen hat.

Gruselig wird’s, wenn eMails plötzlich keinen „Weiterleiten“-Button mehr haben oder man auf Facebook keine Seiten mehr melden kann und die „Unfriend“-Funktion einfach nicht funktioniert. Irgendjemand oder irgendetwas hat die Technik gekapert und dringt dadurch ins Privatleben der Kids ein, in ihre Schlafzimmer. Sie können nicht mehr kontrollieren, was sie nach draußen senden, und können sich auch nicht vor dem Übergriff schützen.

„Was? Nur 10.000 Likes?“

In einer sehr spannenden Sequenz versuchen sie die Skype-Mikros auf „stumm“ zu stellen, damit der Eindringling nicht mithören kann, und über das Handy einen Plan auszuhecken, wie sie ihn loswerden können. Wir als Zuseher kriegen selbst nicht mit, was sie vorhaben, sehen aber gebannt zu, wie sie mit einem Timer um die Wette Programme herunterladen, installieren und den Desktop-Papierkorb leeren. Es ist packend, obwohl wir eigentlich nur digitalen Balken zusehen. Der Schock ist, wenn sich dann der Papierkorb nicht mehr leeren lässt, weil das Programm noch verwendet wird.

UNKNOWN USER funktioniert, weil er mit unserem alltäglichen Leben zu tun hat – mehr, als manchen von uns wohl lieb ist. Er zeigt uns unsere Lebenswirklichkeit und läßt dann unsere Ängste im Bezug auf eine immer komplexer werdende Technik und eine unklare, nicht ganz greifbare Daueröffentlichkeit im Netz wahr werden.

„Was macht dieser weiße Handschuh auf meinem Desktop? Und warum bewegt er sich?“

Interessant ist auch, wie der Film sein visuelles Konzept nutzt, um uns etwas über unsere Figuren und vor allem unsere Hauptfigur Blaire zu erzählen. Wir lernen sie nicht nur darüber kennen, was wir von ihr im Skype-Video sehen oder was sie dabei sagt. Wir sehen auch, welche Websites sie öffnet, welche Teile daraus sie liest, wo ihr Mauszeiger länger hängen bleibt. Wir sehen die Nachrichten, die sie zu schreiben beginnt, wir sehen, was sie löscht und umformuliert, wir sehen, was sie dann letztendlich abschickt, welche Informationen sie dabei zurückhält und welche sie weitergibt. Wir sehen, auf welche Links oder Buttons sie ohne Zögern klickt, bei welchen sie überlegt und bei welchen sie es dann doch bleiben lässt. Wir sehen wie der Cursor immer zittriger und fahriger über den Bildschirm huscht und erfahren so etwas über ihren inneren Zustand.

Doch der Film beläßt es nicht nur bei diesen technischen Beobachtungen oder dem Einfangen eines Zeitgeistes (als technisches Experiment funktioniert er übrigens besser als sein nächster Verwandter OPEN WINDOWS, der ebenfalls nur auf einem Computerbildschirm spielt, aber eine ganz andere Geschichte erzählt, die ihm im letzten Akt auch ein wenig entgleitet). UNKNOWN USER versteht, was sich da im Netz und in den sozialen Netzwerken abbildet. Als der Racheengel die Geheimnisse unserer Kids ans Internet-Tageslicht zerrt, reagiert die Community sofort – Haßpostings purzeln nur so herein, der Shitstorm zieht auf, die Ächtung beginnt. Früher wurden Menschen für ein Fehlverhalten an den Pranger gestellt, heute passiert das auf Facebook und YouTube. Das erinnert an THE SOCIAL NETWORK, in dem Mark Zuckerberg erklärt, er wolle das komplette soziale Leben der Menschen online abbilden. Hier liegt eine dunkle Wahrheit über uns als soziale Wesen – wir alle haben Geheimnisse, haben Freunde angelogen und vielleicht auch betrogen, haben uns schon das Maul über jemand anderen zerrissen, Gerüchte ungefiltert weitergegeben und unter Umständen sogar etwas Illegales getan. Mit dem Unterschied, daß das früher verschwiegen und irgendwann vergessen werden konnte, daß Gras über Dinge wachsen konnte. Heute merkt es sich das Netz und stellt es vor einer Weltöffentlichkeit dar.

Schwerer Ausnahmefehler im Bereich Bildunterschrift.

Bis jetzt hat uns UNKNOWN USER also etwas über unsere Zeit, unsere Ängste und über uns als Menschen zu erzählen vermocht. Über Spannung, Grusel und Schocksequenzen reicht es zu sagen, daß sie sitzen und super funktionieren, ähnlich wie andere Geistergeschichten im sogenannten Found-Footage-Look. Hier zeigt sich UNKNOWN USER also eher konventionell, aber nicht weniger effektiv. Doch am Ende hängt er noch ein weitere kleine Weisheit dran. Er macht es sich in der Gut/Böse-Zeichnung nicht so leicht, wie er könnte.

Daß Blaire (die vielleicht nur zufällig wie eine bekannte Found-Footage-Hexe heißt) uns bis zum Schluß sympathisch bleibt und wir mit ihr bangen, liegt wohl darin, daß sie tatsächlich kein böser Mensch ist. Sie kümmert sich um Ausgleich in der immer zerstritteneren Gruppe, sie mahnt Ruhe und Vernunft ein, weist ihre Freunde zurecht, wenn sie zu verletzend werden, und hat der Situation entsprechend auch gebührend Angst (und ist das nicht vielleicht auch eine schöne Reflexion über soziale Medien, in denen wir uns ja so darstellen, wie wir uns am besten gefallen, indem wir das Unschöne einfach weglassen?). Wenn wir dann mit der Zeit erfahren, was sie so alles angestellt hat, verliert sie unsere Sympathie trotzdem nicht, weil sie nichts aus Bosheit getan hat, sondern einfach nur, weil sie nicht weiter darüber nachgedacht hat. Genau so entstehen doch so viele Tragödien – weil Menschen nicht über die Folgen ihrer Handlungen nachdenken.



Unknown User
Originaltitel: Unfriended
Alternativtitel: Cybernatural
Regie: Leo Gabriadze
Autor: Nelson Greaves
Kamera: Adam Sidman
Darsteller: Shelley Hennig, Moses Storm, Renee Olstead, Courtney Halverson, Will Peltz, Jacob Wysocki, Matthew Bohrer, Heather Sossaman

Alle Bilder (C) 2015 Universal Pictures.






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Dr. Wily
Dr. Wily mag das Alte. Selbst aktuellen Entwicklungen in Musik, Film, Literatur und Computerspiel gibt er oft Monate bis Jahre Zeit, um sich von ihnen einnehmen zu lassen. Mit zunehmendem Lebensalter zieht es ihn vermehrt zu Horror- und Mysterygeschichten hin, nur um sich dann seine Seele doch wieder von Richard Linklater, Jim Jarmusch, Jack Kerouac, Jackson Browne, Paul Simon oder J.D. Salinger streicheln zu lassen. Außerdem kann er nach 15 Jahren Spielpause MEGA MAN 2 aus dem Stand bis ins vorletzte Level durchspielen.





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