Düsseldorf Hauptbahnhof

Wenn ich durch den Düsseldorfer Hauptbahnhof laufe, stelle ich mir meine Bewegung wie in einem Stop-Motion-Film vor. Die weißen Bodenfliesen leiten mich zu meinem Gleis, während es links und rechts und vor und hinter mir nur so von Menschen wimmelt. Jeder huscht mit seinem Gepäck umher wie eine bepackte Ameise. Polizei und Hunde überall. Sicherheitspersonal, das vermutlich über eine Resozialisierungsmaßnahme rekrutiert wurde und mich für das Schieben meines Fahrrades lobt.

Und dann die Gerüche: Currywurst, Pizza, Kaffee. Alles voll bei dm. Verlassene Koffer, deren Besitzer ausgerufen werden. Gruppierungen von Punks und Nazis, die sich montags gegenseitig anschreien.

Dann die Abhänger. Alleine oder in Gruppen lungern sie am Bahnhofe herum, oftmals begleitet von einer Flasche Bier. Wer war eigentlich der erste Mensch, der den Hauptbahnhof als Sammelstädte für ver- und beirrte Personen ohne konkretes Reiseziel erklärt hat? Schreie und Konflikte. Platzverweise, die ein Schutzhund lauthals ausbellt.

Am schönsten ist der Bahnhof in den frühen Morgenstunden. Wenn man sich endlich vom Club losreißen konnte und nach Hause torkelt oder wenn man früh zur Arbeit in eine Stadt muss, in der man nicht wohnt. Kalte Luft und grelle Beleuchtung. Züge, die schon auf einen warten und Züge, die man gerade verpasst hat. Stoische Ruhe am Le Crobac-Stand und heißer Kaffee mit Kondensmilch und genau 5 Gramm Zucker. Wer Liebe in allen Lebenssituationen findet, lebt sie.

… und dann kam Svetlana.

Mit verzerrtem Gesicht unterschrieb mir mein Orthopäde das Rezept für 6 x Physiotherapie, als würde ich ihm damit persönliche Schmerzen zufügen.

Wochen später bekam ich meinen ersten Termin in der höchst unmodernen Praxis, wo die Behandlungsräume wie Schwimmbadumkleiden unterteilt waren. Das „wie“ ist eigentlich wenig angebracht, ich weiß genau, dass es größere Schwimmbadumkleiden waren. Grau melierte Trennwände und 1991-gelbe Füße, Zierleisten und Türklinken. Geschmackvoll kombiniert mit grau-grünem Linoleumboden, auf dem drei türkise Freischwinger mit Keilkissen nebeneinander standen.

Schon am Telefon hatte ich den französischen Akzent meines Therapeuten herausgehört und war erfreut, dass er nicht so gut aussah, wie er klang. Sonst hätte ich mich zu sehr geschämt in Seitenlage meinen weißen, ausladenden Bauch auf die Liege zu legen. Jean-Luc kam aus der französischen Schweiz und roch noch besser, als er klang. Mit geschlossenen Augen versuchte ich mit all meiner Gedankenkraft meine Achseltranspiration bei den doch sehr körpernahen Rückenübungen zu unterdrücken. Vier Termine lang knackste und wiegte, massierte und beriet mich Jean-Luc. Nach meiner vierten Behandlung teilte er mir mit, dass wir uns nur noch einmal sehen würden, da er sich selbstständig machte. Ich freute mich für den Mann, der mittlerweile irgendwie zu meinem Menschenrepertoire dazugehörte. Nach der fünften Behandlung wünschten wir uns gegenseitig alles Gute und ich rechnete damit, in der nächsten Woche von seinem Kollegen eingerenkt zu werden.

Für die frühe Stunde ungewöhnlich fröhlich kam ich in die Praxis und da stand sie: pinkes T-Shirt, dass etwas zu viel Unterbauch offenbarte, breite Schultern, Riesenbrüste und an jedem Unterarm eine Manschette, die den häufigen Gebrauch dieser verrieten. „Gehst du Kabine drei!“ befiehl Svetlana mit kräftigem russischen Akzent und ich tat, was sie sagte. In Kabine drei zog ich wie gewohnt meinen Pulli aus und saß in Unterhemd und Hose auf der Liege, die noch ein frisches Handtuch benötigte. Svetlana kam nach, befiehl „Schuhe aus!“ und „Hose auf!“ und „Uuunterhemd aus, ich bin doch kein Mann, Kindchen!“. Sie zog mir das Unterhemd von Hinten über den Kopf und ließ es auf den Boden fallen.

Die folgenden zehn Minuten wurde ich in unbeschreibliche Positionen gelegt, die mit ruckigem Ziehen und Feststellen meiner Körperteile von Svetlana justiert wurden. „Bein so!“, „Hände locker!“, „Ausatmen!“ und „Entspannen!“ lauteten die Anweisungen zu den Bewegungen, die mir nach fünf Besuchen bei Jean-Luc nicht bekannt vorkamen.

Besonders die Kommandos Ausatmen und Entspannen fielen mir recht schwer. Svetlana versuchte daher mehrfach, mich locker zu machen mit den Worten „Entspanne, du Angsthase!“. Meine Wirbelsäule knackste bei einer der Bewegungen etwa zehn Mal was Svetlana mit „Da gehst du deine Rückenschmerzen!“ kommentierte. In Bauchlage angekommen, zupfte sie an der Haut über meiner Wirbelsäule, öffnete hastig meinen BH und massierte mir dann den Rücken. Eine ruckige, nicht unangenehme Massage, wie ich zugebe. Zum Abschluss klopfte sie mir auf den Rücken, befiehl „Gleich langsam aufstehen!“ und verließ Kabine drei. Ich zog mich an und schaute in den Spiegel neben dem Garderobenständer. Ich hatte einen roten Abdruck von der Aussparung der Liege im Gesicht, der noch bis zum Mittagessen anhalten sollte.

Bahnfahren

Diese romantisierte Vorstellung vom Bahnfahren, wie sie Interrail-fahrende Backpacker und Althippies erinnern, bleibt ein frommer Wunsch des Bahnfahrers an Rhein und Ruhr. Und auch wenn die Werbung des örtlichen Verkehrsbetriebs mir Ruhe und Entspannung statt Hupkonzert und Staugefahr verspricht, für mich ist jede Bahnfahrt ein Test meiner Belastungsfähigkeit.

Klar, ich könnte mich wie die anderen in der 701  einfach gehen lassen und jeden annießen, wegrempeln und im Türbereich der Straßenbahn stehen bleiben mit diesem Ich-bin-halt-verrückt-und-hab-Ausgang-Blick im Gesicht. Aber nein, ich will ja die Welt verbessern.

Heute hat mir eine miefige alte Frau ihre dreckige linke Hand auf den Oberschenkel gelegt als sie sich hinsetzen wollte. Einfach so, wie auf die Armlehne eines alten grün-gemusterten Ohrensessels mit Eichenholzunterbau. Dann blickte sie mich seitlich an und lächelte. Ihre Zahnzwischenräume (ein Hoch an Sylvie van der Vaart Meis an dieser Stelle) waren tiefschwarz. Noch 30 Minuten später spürte ich ihre Hand auf meinem rechten Bein und spürte das Bedürfnis meine Hose zu verbrennen und in Embyronalstellung in der Dusche zu liegen bis das Wasser auf meiner Haut wehtun würde.

Am schlimmsten ist es, wenn ich einen freien Tag habe. Jahrelangen Drills zur Folge bin ich darauf programmiert, mindestens einmal am Tag das Haus zu verlassen. Sonst plagt mich ein schlechtes Gewissen, dass in einer Fressorgie endet die erst mit dem nächsten Arbeitstag wieder ein Ende findet. So bin ich zu den unwirklichsten Zeiten mit der Bahn unterwegs, z.B. zwischen 9.00 und 12.00 Uhr mit den Rentnern oder gegen 14.00 Uhr zum Schulschluss.

Oft denken Menschen an vergangene Tage und wünschen sich ihre Jugend zurück. Dagegen empfehle ich entweder die 707 morgens um 8.00 Uhr oder die 712 um 14.00 Uhr. Wieso? Gerne:

Die 707 um 8.00 Uhr: Streusalzflecken und Splitt-Klumpen um die Bahntüren bedeuten uns die kalte Jahreszeit. Beschlagene Fenster und an jeder Haltestelle wiederholte Durchsagen, die Türbereiche doch bitte freizuhalten. Schlaubergerische Neu-Akademiker ergreifen Partei für stille Mäuse und Omis die vor der Haltestelle „Uni Ost“ aussteigen wollen. „Hallo! Da vorne einmal  AUSSTEIGEN, damit die Person hier herauskann! Meeeeine Güte, ist das denn so schwer?“. Rucksäcke, die einem die noch leere Magengrübe andrücken, über Tests diskutierende Panikschieber, genervte Dozenten. An der Endstation bleiben To-Go-Kaffeebecher zurück, die letzte Tropfen Milchkaffee über die Rückfahrt hinweg in Schlieren auf dem Bahnfussboden verteilen.

Im Sommer dann ähnliche Szenen nur ohne Streusalz und Splitt. Dafür dann mit verschwitzten und behaarten Achseln, in die Oberschenkel pieksende Sitze und gefaltete Fächer aus Karo-Papier, die ab dem Hauptbahnhof in der Bahn zurückbleiben.

Die 712 um 14.00 Uhr: die Schüler der örtlichen Gymnasien haben Schulschluss. Daunenjacken mit Fellbesatz, Longchamp-Taschen, Timberland-Boots, Abercrombie-Skinny-Jeans und iPhones soweit das Auge reicht. Gespräche über Whatsapp-Unterhaltungen vom Vortag und Alkoholbestellungen bei volljährigen Geschwistern zum Freitagabend. Vereinzelt unschuldig dreinblickende Streber mit festen Zahnspangen die in ein paar Jahren auf genau den selben Zug aufspringen werden. Spätestens wenn ihre Eltern sich scheiden lassen wird der perfekte Zeitpunkt für ein Umstyling gekommen sein. Einem seit Jahren von Scheidungskindern verwendetem Kunstgriff zum Dank werden mit Sicherheit ausreichend finanzielle Mittel zur Beschaffung der Markenartikel vorhanden sein.

Eines Tages werde ich sie alle anschreien. Alle!

Alexis

Es fällt mir leichter jemanden zu hassen, wenn ich seine Stimme kenne. Eine schrille oder dumpfe Stimme gibt mir einen Anhaltspunkt, eine Person kacke zu finden. Ein Pfeifen in der Stimme, ein Dialekt oder Akzent. Jemand, der Fümmenfünfzig statt Fünfundfünfzig oder Dreiviertelsieben oder Broiler oder sonstigen schein-charmanten Quatsch sagt.

Im dritten Semester habe ich an einem Wochenendseminar zum Thema Gender-Mainstreaming teilgenommen. Das war eindeutig eine dieser Veranstaltungen, die ich nur für den Leistungsnachweis besucht habe. Ich versprach mir von einem dreitägigen Intensivkurs weniger seelischen Schaden, als durch den Besuch einer wöchentlich stattfindenden Veranstaltung bei der ich, wenn ich am ersten Tag nicht schnell genug aus dem Seminarraum verschwunden wäre, wieder einen nervigen Sitznachbar ergattern würde, der sich für die folgenden sechs Monate an mich heften und Zusammenfassungen mit mir schreiben wollte, die ich nie zu schreiben beabsichtigt hätte.

Die Seminarleiterin hatte ich mir vorab als gedreadlockte Freizeit-Yogalehrerin und Vollwert-Halbtags-Mama mit selbstbestimmtem indischen Zweitnamen vorgestellt. Melanie, die letztendlich das Seminar hielt, schien jedoch vollkommen normal. Irgendwelche Jeans, irgendwelche Sportschuhe, irgendein (buntes und/oder bedrucktes) Oberteil, dazu rötlich-brünette und mittellange Haare. Sie sah aus wie viele moppeligen Mädels ihrer Art, die nicht sonderlich auffallen und erfreulicherweise dadurch nicht stören. Tatsächlich hatte Melanie aber eine Unart, die das Seminarwochenende für mich zur Zerreißprobe machte. Ich hätte es nicht für möglich gehalten aber es gibt tatsächlich Menschen, die eine Formulierung in jedem einzelnen ihrer Sätze einbauen. Irgendwie so war es bei ihr.

„Das Gender-Mainstreaming kann irgendwie so als Konstrukt gesehen werden. So irgendwie zur Realitätsbewältigung. Um die Welt zu begreifen und irgendwie so die Zusammenhänge für sich klar zu kriegen. Gleichzeitig kann man mit der Geschlechtszuschreibung aber irgendwie auch sagen, dass viele Menschen so ihre eigene Identifikation begreifen lernen um sich irgendwie so aufgehoben zu fühlen.“

Alexis aber hat während unseres dreißigminütigen Geschäftstermins kein Wort gesprochen. Sie wollte sich die Location einmal genauer ansehen, um für ein wahnsinnig tolles Modeunternehmen den wahnsinnig wichtigen sesselpupsenden CEO dort exklusiv dinieren zu lassen. Ihre Gefolgschaft von vier Blondinen (von denen ich eine aufgrund ihres ostdeutschen Dialekts als dumm abstempelte) lief brav mit mir durch die Veranstaltungshallen.

Alexis, ihr Blackberry zwischen Schulter und Ohr geklemmt, lief hinterher. Plateau-Sandalen, Schlaghose, durchsichtige Bluse, goldenes Kettchen, schweres goldenes Armband – alles Designerstücke. Blonder Kurzhaarschnitt und eine Sonnenbrille im Haar. Es war November. 

Während der kompletten Besichtigung schenkte sie weder mir, noch dem historischen Gebäude auch nur das geringste bisschen Aufmerksamkeit. Vielmehr war sie in die Telefonkonferenz an ihrem Blackberry vertieft. Dabei klimperte sie mit der linken Hand auf einem iPad herum und umklammerte mit drei Fingern ihrer rechten Hand ein iPhone.

Die Besichtigung ging dem Ende zu und es musste eine Entscheidung getroffen werden. Abendveranstaltung im fünfstelligen Euro-Bereich ja oder nein? Die vier Blondinen waren begeistert, hatten aber keine Entscheidungsmacht. Die Königin musste befragt werden. Auf den fragenden Blick einer ihrer Untertaninnen hin hielt Alexis affektiert den linken Daumen hoch. Mittlerweile hatte sie sich auf einem Hocker platziert. Leer in den beeindruckend schönen Raum guckend, gelangweilt auf ihrem iPad tippend. Sie sprach kein Wort, auch nicht am Telefon. „Alexis sagt top.“, übersetzte die Blondine.

Plötzlich kam uns ein schreiendes Kind entgegen. Alexis musterte es abfällig und hielt schnell eine Hand an die Sprechmuschel ihres Blackberry. Dann blickte zur Seite und schwieg unbehelligt fort.

„Vielen Dank das Sie sich die Zeit für uns genommen haben.“, sagte eine der Blondinen höflich in den Raum und reichte mir die Hand. Alexis erhob sich von dem ledernen Hocker und verließ mit gesenktem Blick das Meisterwerk der Architektur.

Die dickbusige UdSSR-Frau

Die dickbusige UdSSR-Frau hat sich mal wieder ein Gericht mit grober Wurst in der Mikrowelle aufgewärmt und die ganze Abteilung mit Fleisch- und Fettgeruch verpestet. Für gewöhnlich holt sie danach zwei oder drei verschiedene, abgegriffene Plastikdöschen aus einer alten Einkaufstüte und zählt aus jedem ein paar Bonbons ab, die sie sich in die Handfläche legt. Ihre riesigen, groben Hände lassen die Bonbons winzig erscheinen. Ich stelle mir vor, dass sie hinterm eisernen Vorhang einst Kugelstoßerin oder Hammerwerferin war. Wie sie wohl inbrünstig Braschnikovjek! oder was auch immer Sieg! auf Russisch heißt, geschrien hat. Mit schmerzverzerrtem Gesicht, schwitzend in einem vergilbten Muskelshirt und einer UdSSR-roten Sporthose von einer Marke die kein Schwein kennt. Es sei denn man hat damals für sie in einem Arbeitslager genäht.

Um sieben

Ich liebe und hasse das Leben um sieben Uhr zugleich.

Vor sieben Uhr ist es dreckig. Die Bierflaschen des vergangenen Tages stehen auf Stromkästen, Plastikeinkaufstüten lassen Straßenmülleimer überquillen. Büroböden sind krümelig von verzehrten Pausenbroten. Dann die Katharsis: Sieben Uhr ist die Zeit der Straßenkehrer und Putzkolonnen. Die Zeit der Anstreicher und Aufbauer und Abreißer.

Sieben Uhr ist die Zeit der Freundlichkeit. Kioskbesitzer freuen sich über Kaffee-Kunden, die noch auf eine Zigarette bleiben und die ewige Kürze bis zum Tagesbeginn mit ihnen verbringen. Ihr Frühaufstehen macht mit jedem To-Go-Becher voller Filterkaffee einen Euro mehr Sinn.

Krankenhausmitarbeiter atmen nach der ersten Pflegerunde bei einer schnell gerauchten Zigarette und einer gespendeten Porzellantasse schwarzen Kaffees durch und warten auf die Hektik, die der Tag bringen wird sobald die Ärzte da sind.

Um sieben Uhr ist es laut und leise. Die Straßenbahnen rollen erst seit einigen Stunden wieder aber sie rollen. Supermarktanlieferer brummen durch enge Gassen und händigen Lieferscheine an übermüdete Frühschichtarbeiter aus. Beinahe jede Straße lässt sich gefahrenfrei überqueren.

Halb acht: Viereckige Schulranzen reflektieren im Licht vereinzelter Autoscheinwerfer und Straßenlaternen. Dreierreihen von anderthalb Meter großen Menschen trotten gähnend und ruhig zum Schulhof. Kleinwägen quetschen sich aus und in Parklücken. Die erste Unruhe auf den Straßen beginnt und der Himmel erhellt sich.

Fünfzehn Minuten später sind die Straßen voll mit gestressten Berufspendlern und zuliefernden oder brötchenholenden Zweitereihe-Parkern. Der Puls schießt heute das erste Mal hoch. Fahrradfahrer fixieren unbeirrt die Ferne während sie todesmutig die Hauptstraße entlang zu ihrem Ziel fahren.

Acht Uhr: Verrückte sind froh, dass die Nacht endlich vorbei ist. Junge bio-affine Mütter können endlich zum Drogeriemarkt gehen.