tag:blogger.com,1999:blog-162937114463704842024-03-26T13:47:36.574+01:00Kriegsursachen, destruktive Politik und KindheitDas weltweite, enorme Ausmaß vielfältiger Gewalt gegen Kinder und die An- oder auch Abwesenheit von Mitgefühl sind für mich zentrale Aspekte der Kriegsursachen-/Extremismusforschung, denen ich hier nachgehen möchte.
Meine Grundfrage lautet:
Wie politisch war und ist Kindheit?Unknownnoreply@blogger.comBlogger639125tag:blogger.com,1999:blog-16293711446370484.post-5256956411249508392024-02-07T11:08:00.005+01:002024-02-08T09:47:38.761+01:00Erstarken der AfD: 2024 ist nicht 1933! Kindheit bleibt politisch. <p><a href="https://www.youtube.com/watch?v=9q7a4LwH9H8" target="_blank">Armin Laschet hat kürzlich</a> sehr ausführlich und deutlich vor dem Erstarken der AfD gewarnt:</p><p>Er sagte u.a.: „<i>Man kann sagen: Naja, so schlimm wird das schon nicht werden. So haben die Leute 1933 auch gedacht</i>“. Hitler habe nach seiner Wahl nur zwei Monate gebraucht, warnt er.</p><p>Auf den aktuellen Demos in ganz Deutschland gegen Rechtsextremismus und gegen die AfD hört man routinemäßig: „<i>Nie wieder ist jetzt!</i>“</p><p>Ich finde dies alles gut und unterstützenswert! Die deutsche Gesellschaft ist aufgewacht und stellt sich gegen den Extremismus auf. </p><p>Ich möchte dazu aber etwas anmerken:</p><p>Wenn man wie ich davon ausgeht, dass belastende Kindheitserfahrungen (inkl. autoritärer Erziehung in der Familie und der Schule) zentrale Ursachen dafür sind, dass sich Menschen radikalisieren und in Hass und "Schwarz-Weiß-Denken" abdriften können oder auch – die andere <u>wichtige Seite</u> der politischen Folgen von Kindheit – sich in Ohnmacht ergeben, erstarren, handlungsunfähig werden, ihrer eigenen Wahrnehmung nicht trauen und somit potentiell Machtmenschen das Feld überlassen, dann möchte ich folgende traumainformierte Stellungnahme zur Lage in Deutschland abgeben:</p><p><b>Es gibt aus psychohistorischer, traumainformierter und bzgl. Ausmaß von Gewalt gegen Kinder bzw. bzgl. Daten zum Wohlergehen von Kindern in Deutschland informierter Perspektive zentrale Unterschiede zwischen der psychoemotionalen Gesellschaftslage von 1933 und 2024!</b></p><p>Die deutsche Gesellschaft heute ist nicht nur „bunt“ im Sinne von unzähligen verschiedenen Lebensmodellen, Hautfarben, Migrationshintergründen, sexuellen Orientierungen usw., sondern sie ist vor allem auch psychisch/emotional bunt!</p><p>Die Bandbreite zwischen den erlebten Kindheitserfahrungen der heute Erwachsenen liegt zwischen Folter/Albtraum und sehr liebevoll, frei und absolut gewaltfrei Aufgewachsenen, mit allen erdenklichen Graustufen dazwischen. </p><p>1933 gab es da viel mehr Extreme und zwar in Richtung „Folter/Albtraum-Kindheitshintergründen“. Die Graustufen waren weniger und die sehr liebevoll und gewaltfrei Aufgewachsenen (wie z.B. die Geschwister-Scholl) waren eine sehr kleine Minderheit. Entsprechend schwebten im gesellschaftlichen Raum auch massive, kollektive, unterdrückte Rachefantasien und (Selbst-)Hassgefühle herum, der von Hitler (der selbst als Kind unfassbar traumatisiert wurde) eingefangen werden konnten. </p><p>Hinzu kommt das seit den 1980er Jahren in Deutschland sehr stark ausgeweitete Feld an psychologischen und psychotherapeutischen Hilfen für Menschen mit Traumaerfahrungen. Auch dieses Feld ist eine (unterschätzte!) Säule für gesellschaftlichen Frieden. </p><p>In der Psychohistorie sprach Lloyd DeMause von unterschiedlichen "Psychoklassen", je nach Traumagrad der Kindheiten. Diese haben sich massiv verschoben und sind in Deutschland heute ganz andere als 1933. </p><p>Teile (ich betone Teile!!) der noch stark als Kind belasteten und ungeliebten Menschen (die zudem zum Autoritarismus neigen) fühlen sich durch starke Dauerveränderungen und Fortschritte in der Gesellschaft (Minderheitenrechte, technische Veränderungen, höhere Anforderungen bzgl. Flexibilität usw.) getriggert. Der feste Rahmen, der sie innerlich und psychisch stabilisierte, droht in der neuen bunten Welt zu zerbrechen. Die Wunschlösung: Zurück in das Gestern, "wo Mann und Frau noch ihre festen Plätze hatten", wo mehr Homogenität herrschte und mit vorgefertigten, Sicherheit gebenden Lebenswegen. </p><p>Das Aufbäumen der AfD ist in meinen Augen der letzte große Atemzug des Autoritarismus und von getriggerten Kindheitsbelastungen in der deutschen Gesellschaft (dies wird noch einige Zeit anhalten, aber auf Grund der Veränderungen der „psychischen Landschaft“ mit der Zeit abnehmen). Der Fortschritt von Kindheit ist in Deutschland schon länger im vollen Lauf und nicht mehr rückgängig zu machen. </p><p>Die Mahnungen in Richtung 1933 sind ehrenwert, aber meine Einschätzung ist, dass Deutschland diese Zeit <b>nie wieder </b>wiederholen wird. Die Kindheit ist extrem politisch und das bekommt Deutschland – diesmal im positiven Sinne – zu spüren. </p><div><br /></div>Unknownnoreply@blogger.com1tag:blogger.com,1999:blog-16293711446370484.post-53934979913391065312024-01-24T15:47:00.003+01:002024-01-24T15:47:31.818+01:00Kindheit von Pol Pot<p>Die Familie lebte im Vergleich zu den Leuten in ihrer Umgebung im Wohlstand (Short 2004, S.28).</p><p>Pol Pot (eigentlicher Name ist „<i>Saloth Sâr</i>“, ich bleibe im Textverlauf aber bei Pol Pot) hatte insgesamt fünf Geschwister, wovon drei deutlich älter waren. Drei weitere Geschwister waren gestorben, wobei in der verwendeten Quelle nicht der genaue Zeitpunkt ihres Todes genannt wird (Short 2004, S. 28). Insofern ist auch nicht klar, ob Pol Pot ihren Tod miterlebt hat oder nicht (was ein sehr schwerer Belastungsfaktor für ein Kind wäre). Bei insgesamt drei toten Kindern halte ich es zumindest für wahrscheinlich, dass er den Tod von mindestens einem Geschwisterkind miterlebt haben könnte.</p><p>Über die Säuglingszeit von Pol Pot fand ich keine Informationen. Allerdings sei an dieser Stelle auf den im ländlichen Raum der Region traditionell verbreiteten Glauben an „Geister-Mütter“ aus dem vorherigen Leben erinnert.<br />In Kambodscha gab und gibt es vor allem im ländlichen Raum traditionelle Vorstellungen bezogen auf das neugeborene Kind, die von wesentlicher Bedeutung sind. Ein zentraler Glaube ist, dass das Neugeborene durch seine Mutter aus dem früheren Leben (Glaube an Wiedergeburt) stark beeinflusst werden kann. Sobald das Neugeborene seinen ersten Atemzug tut, muss die Verbindung zur früheren Mutter abgetrennt werden, wofür es einige Rituale gibt. Trotzdem bleibt die Angst groß, dass die frühere Mutter eifersüchtig oder wütend werden könnte, wie die neue Mutter mit dem Kind umgeht und es aufzieht. Passiert dem Kind irgendetwas, könnte dies durch die frühere Mutter beeinflusst sein und wirft ein schlechtes Licht auf die neue Mutter. Aus diesem Grund sind viele Mütter bemüht, nicht allzu herzlich und liebevoll, aber auch nicht all zu aggressiv mit dem Kind umzugehen. „(…) <i>many mothers, for example, are encouraged not to be seen to be either too affectionate or too aggressive towards the child in case it creates jealousy or anger in the previous birth mother. If a child smiles before 3 months old it can be interpreted as a signal that it can see its preceding mother. Where she is jealous or angry she might again try to 'take the child back'</i>.” (Miles & Varin 2006, S. 15). <br />Ein Baby, das lächelt, wird demnach also nicht auf Freude stoßen, sondern auf Angst. Dass dieser Glaube den gesamten Umgang mit Säuglingen und Kindern negativ beeinflusst, liegt nahe. Die Folgen dieses Glaubens für die Entwicklung eines Kindes sollten nicht unterschätzt werden. Was bedeutet es für ein Kind, wenn es auf die Welt kommt und die eigene Mutter voller Ängste ist, weil da noch die andere Mutter aus dem „vorherigen“ Leben im Hintergrund steht? Symbolisch steht etwas Grundlegendes zwischen Mutter und Kind: eine andere Mutter. Wie kann so eine emotional gesunde Entwicklung glücken?</p><p>Der Biograf Philip Short schreibt mit Blick auf die Kindheit von Pol Pot: „<i>Cambodians, at that time even more than today, lived parallel sets of lives: one in the natural world, among the laws of reason; the other, mired in superstition, peopled by monsters and ghosts, a prey to witches and the fear of sorcery. In this sense Cambodia was, and to some extent is still, a medieval country, where even the King takes no important decision without first consulting the court astrologer</i>.” (Short 2004, S. 28).<br />Ich halte es entsprechend für hoch wahrscheinlich, dass auch Pol Pot als Säugling so behandelt wurde, wie zuvor oben beschrieben (auffällig ist in diesem Kontext auch, dass der Vater von Pol Pot als sehr „neutral“ in seinem Verhalten beschrieben wird und nicht mit seinen Kindern lachte – siehe unten). </p><p>Das jüngste Kind der Familie, Neph, erinnert sich an die Eltern, beginnend mit dem Vater, wie folgt: „<i>He never joked with us, or with anyone else. If he was angry, he didn’t show his feelings or become violent. He always remained calm. Our mother was the same, and I think that’s why they got on so well</i>” (Short 2004, S. 31) Der Vater “<i>was a disciplinarian, like most Cambodian fathers, but by the standards of the time the chastisement he meted out was mild</i>.” (Short 2004, S. 31). </p><p>Wir bekommen hier ein Bild gezeichnet, das grundsätzlich mit Vorsicht zu beurteilen ist. Denn das Bild kommt von einem Kind (Neph) der Familie, negative Episoden mit den Eltern können ausgeblendet und/oder ein idealisierendes Bild der Eltern gezeichnet worden sein. Wir wissen heute, dass Menschen grundsätzlich dazu neigen, Eltern im Rückblick eher milde zu beurteilen. Das ist das Eine. </p><p>Dennoch bekommen wir in diesen Zeilen einige aufschlussreiche Informationen. Die Eltern hätten sich relativ neutral gegenüber den Kindern verhalten. Außerdem wird trotz der Zeichnung des Vaters als nicht gewalttätig dennoch darauf verwiesen, dass er auch der Strafende war, wie bei den meisten Vätern der Region, wenn auch in milderen Formen. Wir können nicht ausschließen, dass dies auch Gewalt beinhaltete. </p><p>Bis zum heutigen Tag sind Körperstrafen in der Familie in Kambodscha erlaubt (Global Partnership to End Violence Against Children 2023). Das Ausmaß von (schwerer) Gewalt gegen Kinder in den Familien ist extrem hoch: „<i>One in two of Cambodia’s children have experienced severe physical discipline, and one in four has experienced emotional abuse</i>” (Global Partnership to End Violence Against Children 2020). (Siehe ergänzende zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in dem Land auch einen <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2011/11/kambodscha-massenmord-kindheit-und.html">älteren Blogbeitrag</a> von mir!)</p><p>Pol Pot wurde je nach Quelle 1925 oder 1928 geboren, damals werden Körperstrafen noch weitaus mehr als legitime Erziehungs-Norm verinnerlich und zur Routine gehört haben, als heute. Körperstrafen werden dann dem Zeitgeist nach oftmals nicht als Gewalt definiert, auch nicht von den Menschen, die dies („notwendige“ Erziehung) seitens der Eltern erlebt haben.</p><p>Interessant ist auch, dass der Biograf Short in diesem Kontext den Schul-/Studienfreund von Pol Pot, Keng Vannsak, bzgl. dessen Schulzeit im Dorf zitiert. Ungehorsam wurde damals durch den Dorflehrer hart bestraft: “<i>How he beat me! Kicks and punches . . . he was brutal! Then he took me outside, and put me under a grapefruit tree – full of red ants!</i>” (Short 2004, S. 32).<br />Und er fügt an: “<i>Yet punishments like this were so much the norm for Cambodian youngsters that Vannsak remembered that same teacher as ‘an adorable, saintly man’ who first instilled in him a love of learning</i>” (Short 2004, S. 32). Hier sehen wir überdeutlich die starke Identifikation mit dem Aggressor. Ob Pol Pot auch vom Dorflehrer geschlagen wurde, scheint nicht belegt zu sein (sollte aber von der Wahrscheinlichkeit her mitgedacht werden). </p><p>Diese Textstelle ist eine deutliche Mahnung auch bzgl. der oben zitierten positiven Aussagen von Neph über seine Eltern. Zudem erhalten wir hier Informationen über Strafformen gegen Kinder im ländlichen Kambodscha der damaligen Zeit. Viele Kinder werden ähnliches erlebt haben. </p><p>Keng Vannsak hat außerdem auch Zuhause seitens des Vaters schwere Gewalt erlebt: Der Vater, “<i>who used to tie his arms together, throw him on to a bed and beat him with a cane until he fainted</i>” (Short 2004, S. 32). Pol Pot und seine Geschwister hätten da mehr Glück gehabt, hängt Short dem an.</p><p>Auch Chandler (1992, S. 8) betont, dass es keine Belege dafür gebe, dass Pol Pot derartige Konflikte mit seinem Vater hatte, wie es z.B. bzgl. Stalin oder Mao überliefert ist. Er erwähnt in diesem Kontext aber auch, dass Pol Pot in Unterhaltungen mit anderen Menschen nie seine Eltern erwähnte und sich ausschwieg. </p><p>Sofern das Bild, das Neph gezeichnet hat, einigermaßen stimmen sollte, kamen allerdings spätestens im Alter von sechs oder neun Jahren schwere Belastungen auf Pol Pot zu (Short (2004) geht von dem Geburtsjahr 1925 aus, Chandler (1992, S. 7) nennt ebenfalls auch das Jahr 1925, <b>hält aber das Geburtsjahr 1928 für plausibler, was bedeuten würde, dass Pol Pot bereits im Alter von sechs Jahren seine Familie verlassen musste</b>, was Short auch genauso ausführt: Pol Pot habe seine Familie im Alter von sechs Jahren verlassen müssen Chandler (1992), S. 8). <br />Der Junge sollte dem Willen der Eltern nach in Phnom Penh zur Schule gehen und zukünftig bei Verwandten leben. Dies war kein ungewöhnlicher Schritt, es gehörte zur Tradition des Landes, dass (oft wohlhabendere) Verwandte Kinder aufnahmen und diese informell adoptierten (Vries & Weerdesteijn 2018, S. 11). Für die Kinder bedeutete diese eine Trennung von ihren Eltern. </p><p>Bevor es soweit war, wurde Pol Pot aber noch für ein Jahr auf ein strenges, buddhistisches Kloster (<i>Wat Botum Vaddei</i>) geschickt, in dem jedes Jahr ca. einhundert Kinder neu aufgenommen wurden. <br />„<i>Monastic discipline was strict. As a novice, Sâr was part of a rigidly ordered community in which (…) originality and initiative were discouraged, the least deviation was punished and the greatest merit lay in unquestioning obedience to prevailing orthodoxy</i>” (Short 2004, S. 35).</p><p>Ein Mitklosterschüler von Pol Pot berichtet über die strenge Disziplin vor Ort u.a.:<br />“<i>And you were given a thrashing if you didn’t do as they said. If you didn’t walk correctly, you were beaten. You had to walk quietly and slowly, without making any sound with your feet, and you weren’t allowed to swing your arms. You had to move serenely. You had to learn by heart in pali the rules of conduct and the [Buddhist] precepts so that you could recite them without hesitation; if you hesitated, you were beaten</i>” (Short 2004, S. 35). Dieser Unterwerfung und Gewalt wird auch Pol Pot nicht entronnen sein. <br />Chandler (1992, S. 9) merkt bzgl. der Zeit im Kloster an: „<i>At six or seven and recently separated from his parents, Sar must have been traumatized by the solemn discipline of the monastery, even though there would have been other little boys with shaven heads wearing yellow robes with him. (…) Sar was also forced to be obedient</i>.”<br />Jetzt wird es interessant. Denn Chandler, der wie gezeigt deutliche Worte bzgl. einer Traumatisierung im Kindesalter findet, merkt nur wenige Sätze danach an: „<i>In examining his early years, I found no traumatic events and heard no anecdotes that foreshadow his years in power</i>“ (Chandler 1992, S. 9). Er sei außerdem ein liebenswertes Kind gewesen. <br />Dass sich Biografen und Historiker bzgl. der Kindheit ihrer Untersuchungssubjekte selbst widersprechen, erlebe ich nicht zum ersten Mal. Hier spielt meiner Meinung nach u.a. fehlendes Fachwissen über Traumatisierungen und Traumafolgen, aber auch fehlendes gesellschaftliches Bewusstsein bzgl. der vielen verdeckten und offenen Belastungen, denen Kinder ausgesetzt sind, mit rein. </p><p>Nach dem Jahr im Kloster wurde Pol Pot im Haus seines älteren Bruders in Phnom Penh aufgenommen und ging vor Ort zur Schule. Mit seinen Eltern im Dorf scheint er nie wieder zusammengelebt zu haben. </p><p>In einem kriminologischen Artikel befassen sich die Autoren de Vries & Weerdesteijn (2018) mit Pol Pots Sozialisation und Kindheit vor dem Hintergrund seiner Verbrechen. Das dauerhafte Weggeschickt werden im Kindesalter wird die Bindung zu seinen Eltern deutlich belastetet haben, schreiben sie. Zusätzlich zitieren sie aus der kriminologischen Forschung, dass eine schwache Bindung an Eltern mit abweichendem Verhalten in einem Zusammenhang steht (Vries & Weerdesteijn 2018, S. 15). Eine logische und zulässige Verbindungslinie, wie ich finde. </p><p>Pol Pot besuchte später regelmäßig seine Schwester, die im Palast des Königs lebte (Infos über weitere Beziehungen der Familie zum Königshaus siehe auch Chandler (1992), S. 8). Bei diesen Besuchen kam es, den Erinnerungen von zwei Palastfrauen zufolge, auch zu sexuellem Missbrauch durch die Frauen des Harems. „<i>At fifteen, Sâr was still regarded as a child, young enough to be allowed into the women’s quarters. (…) The young women would gather round, teasing him, they remembered. Then they would loosen his waistband and fondle his genitals, masturbating him to a climax. He was never allowed to have intercourse with them. But in the frustrated, hothouse world of the royal pleasure house, it apparently afforded the women a vicarious satisfaction.</i>” (Short 2004, S. 42).</p><p>Später wechselte Pol Pot auf eine Technikerschule. Während dieser Zeit waren seine Mitschüler feindlich gegenüber ihm eingestellt und er fühlte sich sehr einsam (Vries & Weerdesteijn 2018, S. 16).</p><p>Die Ironie der Geschichte wollte es, dass Pol Pot während eines Auslandsstudium in Paris mit den kommunistischen Ideen in Berührung kam, die seinen weiteren Weg prägen sollten (Vries & Weerdesteijn 2018, S. 16).</p><p><b>Fazit</b></p><p>Auch wenn es vielen anderen Kindern aus der Zeit und Region – den Biografen nach - noch schlimmer ergangen zu sein scheint, so bleibt es eine Tatsache, dass auch Pol Pot nicht verschont wurde: seine Kindheit war deutlich und mehrfach belastet. Seine Kindheit fügt sich ein in die lange Reihe von belasteten Kindheiten von Diktatoren und Massenmördern. </p><p>Die Recherchen bzw. dieser Text hier zeigen allerdings auch überdeutlich <i>gerade</i> auf die <i>Kindheiten der Vielen</i>. Diktatoren wie Pol Pot sind nur in einer Gesellschaft möglich – so meine These – in der ein bedeutsamer Teil der Menschen als Kind traumatisiert wurde (Stichworte aus dem Text: Glaube an „Geister-Mütter“ und entsprechender Umgang mit Säuglingen, verbreitete Weggabe von Kindern, Gewalt gegen Kinder in der Familie, Schule und in Klöstern). Dies bildet das Fundament für den kollektiven Wahn und Terror, der sich Bahn brechen kann (nicht muss). </p><p><br /></p><p><b>Quellen:</b></p><p>Chandler, D. P. (1992). Brother Number One: A Political Biography Of Pol Pot. Westview Press, Boulder – San Francisco – Oxford.</p><p>Global Partnership to End Violence Against Children (2020). IN CAMBODIA, FORMAL SOCIAL WORKERS NOW REACH ALL 25 PROVINCES. <a href="https://www.end-violence.org/articles/cambodia-formal-social-workers-now-reach-all-25-provinces">https://www.end-violence.org/articles/cambodia-formal-social-workers-now-reach-all-25-provinces</a></p><p>Global Partnership to End Violence Against Children (2023). Corporal punishment of children in Cambodia. <a href="https://www.endcorporalpunishment.org/wp-content/uploads/country-reports/Cambodia.pdf">https://www.endcorporalpunishment.org/wp-content/uploads/country-reports/Cambodia.pdf</a></p><p>Miles, G. & Varin, S. (2006). Stop violence against us! Summary report 2: a preliminary national research study into the prevalence and perceptions of Cambodian to violence against and by children in Cambodia. World Vision International Resources on Child Rights. <a href="https://archive.crin.org/en/docs/stop_v_cam.pdf">https://archive.crin.org/en/docs/stop_v_cam.pdf</a></p><p>Short, P. (2004). Pol Pot: The History of a Nightmare. Hodder & Stoughton, London (Kindle-E-Book Version)</p><p>Vries & Weerdesteijn (2018). The Life Course of Pol Pot: How his Early Life Influenced the Crimes he Committed. <i>Amsterdam Law Forum</i> 10(2), S. 3-19. </p><div><br /></div>Unknownnoreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-16293711446370484.post-64666489247331716502024-01-10T12:47:00.001+01:002024-01-10T12:47:53.466+01:00Kindheit von Javier Milei<p>Über die Kindheit des Rechtspopulisten Javier Milei (in den Medien gerne auch als "Kettensägen-Präsident" bezeichnet) lässt sich relativ schnell einiges finden. Er selbst hat sehr deutlich über seine destruktiven Erfahrungen in seiner Familie berichtet. </p><p>Er litt unter physischer und psychischer Gewalt zu Hause und Mobbing in der Schule, sagte er mehr als einmal. Misshandlungen, die ihn dazu brachten, die Verbindung zu seinen "Erzeugern", wie er sie nannte, jahrelang abzubrechen. Die Verbindung zu seinen Eltern stellte er erst wieder während der COVID-19 Pandemie her. (SAN JUAN 8 (2023, 14. Aug.). <a href="https://www.sanjuan8.com/pais/la-vida-javier-milei-taumas-infantiles-raptos-misticos-y-la-obsesion-el-dolar-n1194021" target="_blank">La vida de Javier Milei: traumas infantiles, raptos místicos y la obsesión por el dólar</a>.)</p><p><b>O-Ton Javier Milei</b> (von mir, der ich nur ein wenig Spanisch kann, mit Hilfe von Google übersetzt): "<i>Mein alter Herr hat immer auf mich geschissen. Ich werde nie vergessen, wie er mich am 2. April 1982 verprügelte, als ich 11 Jahre alt war. Wir sahen alles über die Malvinas im Fernsehen und es kam mir in den Sinn, zu sagen, dass das wahnhaft war (…). Mein alter Herr bekam einen Wutanfall und fing an, mich zu schlagen und zu treten. Er trat mich durch die ganze Küche. Als ich älter wurde, hörte er auf, mich zu schlagen, um mir psychische Gewalt zuzufügen. (…) Können Sie sich den Unterschied zwischen einem 11-jährigen Jungen und einem Riesen von 1,90 und mehr als hundert Kilo vorstellen? Was ich Ihnen sagen kann, ist, dass ich von diesem Moment an vor nichts anderem mehr Angst hatte</i>.“</p><p><b>Original in Spanisch</b>: „<i>Mi viejo me cagaba a trompadas. No me olvido más de una golpiza que me dio el 2 de abril de 1982, cuando tenía 11 años. Estábamos viendo en la tele todo lo de Malvinas y a mí se me ocurrió decir que eso era un delirio, que nos iban a romper el culo. A mi viejo le agarró un ataque de furia y empezó a pegarme trompadas y patadas. Me fue pateando a lo largo de toda la cocina. De grande dejó de pegarme para infligir violencia psicológica. (…) Vos te imaginás la diferencia entre un nene de 11 años y un gigante de 1,90 y más de cien kilos? Lo que te puedo decir es que desde ese momento no le tuve miedo a nada más</i>” (Gallardo, A. (2018, 07. Juli). <a href="https://www.perfil.com/noticias/protagonistas/la-insolita-vida-privada-y-familiar-de-milei-el-economista-mas-polemico.phtml" target="_blank">La insólita vida privada y familiar de Milei, el economista más polémico</a>.)</p><p>In der Öffentlichkeit sagte er dem zuvor zitierten Artikel nach auch, dass für ihn seine Eltern gestorben seien. </p><p>In einem anderen Artikel wird er bezogen auf seinen Vater auch wie folgt zitiert: <br />„<i>Er sagte mir immer, dass ich Müll sei, dass ich verhungern würde, dass ich nutzlos sein würde</i>“ (original: „<i>Siempre me dijo que era una basura, que me iba a morir de hambre, que iba a ser un inútil</i>“) (Oliva A. (2023, 19. Nov.). <a href="https://www.bbc.com/mundo/articles/c3g26jvp8ymo" target="_blank">Javier Milei, el hombre “sin miedo a nada” que convenció a los argentinos de dinamitar el sistema y buscar un cambio radical</a>. )</p><p>Auch dieses Zitat spricht für sich:<br />“<i>An unauthorised biography of Milei (…) paints him as a mercurial loner who suffered a childhood of parental abuse and schoolyard bullying during the 1980s and was given the nickname El Loco (The Madman).</i>” (Phillips, T. (2023, 20. Nov.). <a href="https://www.theguardian.com/world/2023/nov/20/who-is-javier-milei-argentina-new-president-far-right-what-does-he-stand-for" target="_blank">Who is Javier Milei? Argentina’s new far-right president ‘El Loco’ takes the stage</a>)</p><p>Nun, die Zeit seiner Präsidentschaft wird zeigen, in wie fern er seine aggressiven, destruktiven Neigungen, die er zuvor immer wieder öffentlich zur Schau getragen hat, politisch umsetzen wird. Er gilt als strikt libertärer Politiker, was u.a. meint, dass er dem Staat sehr wenig Einflussnahme zugesteht. Oder anders ausgedrückt: "<b>Vater</b>"-Staat soll nicht die Gestaltungsspielräume seiner Bürger ("<b>Kinder</b>") beschränken und sich weitgehend raushalten...</p><div><br /></div>Unknownnoreply@blogger.com1tag:blogger.com,1999:blog-16293711446370484.post-15243174620432076892024-01-05T14:42:00.005+01:002024-01-05T15:23:34.907+01:00"Ganz viele geprügelte Kinder sind nicht Nazis geworden, sondern Helfer" - Kriminologe Dirk Baier über mein Buch und meine Anmerkungen dazu<p>Dirk Baier ist einer der bekanntesten Kriminologen im deutschsprachigen Raum. Zudem ist er Extremismusexperte. Ich selbst schätze seine Arbeiten sehr und habe ihn immer wieder auch zitiert. </p><p>Mitte 2023 hat er ein Interview (Tentakel Magazin, 01.07.2023, <a href="https://tentakel-magazin.ch/niemand-ist-vor-extremismus-gefeit/" target="_blank">"Niemand ist vor Extremismus gefeit"</a>) gegeben. Darin ging er u.a. auch auf mein Buch ein. </p><p><b>Camilla Landbø:</b> „<i>Sind schmerzhafte Erfahrungen in der Kindheit Wegbereiter dafür, dass jemand später extrem wird? Der Psychologe Arno Gruen hat das anhand von Nazi-Biografien nachgewiesen</i>.“</p><p><b>Dirk Baier:</b> „<i>Im Buch «Die Kindheit ist politisch» folgt der Autor Sven Fuchs ebenfalls dieser These: dass die Grundlage für extremes Verhalten und Extremismus in der Kindheit gelegt wird. Er weist dies an vielen Biografien nach. Das Buch enthält auch eine Kurzbiografie von Putin, der als Kind massiv geschlagen worden ist von seinen Eltern. Nun, da ist schon was dran, dass eine harsche, gewaltförmige Erziehungsmethode die Persönlichkeit beeinflussen kann. Ich bin jedoch immer sehr vorsichtig mit solchen Thesen. Ganz viele geprügelte Kinder sind nicht Nazis geworden, sondern Helfer</i>.“</p><p>Dieses Interview wollte ich schon lange kommentieren und habe bisher etwas gezögert, um die richtigen Worte zu finden. </p><p>Nun, zunächst freut es mich sehr, dass er meine Arbeit wahrgenommen hat und diese im Grunde ja auch zu einem Teil recht positiv bewertet (ähnlich hatte ich mich früher schon darüber gefreut, dass der sehr bekannte Kriminologe Christian Pfeiffer meine Arbeit „<a href="https://books.google.de/books?id=buWPDwAAQBAJ&pg=PT63&dq=%22Kindheit+ist+politisch%22&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwjkxbfh7dDlAhVP_qQKHWIrD5sQ6AEIQzAE#v=onepage&q=%22Kindheit%20ist%20politisch%22&f=false" target="_blank">als wichtiges Buch</a>“ bezeichnet hat). </p><p>Hier soll es jetzt um seine kritischen Anmerkungen gehen: „<i>Ich bin jedoch immer sehr vorsichtig mit solchen Thesen. Ganz viele geprügelte Kinder sind nicht Nazis geworden, sondern Helfer</i>.“</p><p>In diesen Zeilen steckt dieses klassische „Die meisten als Kind misshandelten Menschen werden keine Täter“, die häufigste Kritik die mir und ähnlich argumentierenden Menschen entgegnet wird. Oftmals wird diese Art der Kritik dann genutzt, um den Zusammenhang zwischen destruktiver Kindheit und destruktivem Verhalten des später Erwachsenen gänzlich zu leugnen, was sich i.d.R. vor allem nochmals intensiviert, wenn es um politische Führer und Extremisten geht. <br />Dirk Baier bleibt da allerdings dann glücklicher- und richtiger Weise doch ganz der Forschende und Experte. Auf die Nachfrage „<i>Aber die Kindheit ist doch wichtig</i>?“ antwortet er: <br />„<i>Ich gehöre zu den Forschenden, die sagen: Den Einfluss der Familie kann man gar nicht überschätzen. Familie prägt uns, in ganz vielen Sachen, die wir tun. Insbesondere negative Erziehungserfahrungen prägen uns. In der Forschung wissen wir mittlerweile, dass Kinder, die Gewalt erfahren haben, häufiger die Schule schwänzen, schlechtere Schulleistungen erbringen, geringere Lebenszufriedenheit, mehr Depressionen, Suizidgedanken haben sowie häufiger Gewalt anwenden. Und selbstverständlich taucht in dieser breiten Liste auch der Extremismus mit auf. Dennoch: Trotz dieser widrigen Bedingungen entwickeln sich viele dieser Menschen ganz positiv</i>.“</p><p><b>Warum nur die „Vorsicht“ bzgl. Extremisten und politischen Führern bzgl. dieser Zusammenhänge? </b></p><p>Ich möchte an dieser Stelle Dirk Baier selbst als Forschungsobjekt nutzen (diese Herangehensweise bedingte meine lange Bedenkzeit ob und wie ich einen solchen Text hier schreiben soll). Ich hoffe sehr, dass er, so er denn auf diesen Text hier stoßen sollte, Verständnis dafür hat. </p><p>„<i>Trotz dieser widrigen Bedingungen entwickeln sich viele dieser Menschen ganz positiv</i>“ fügte er wie oben zitiert an. Ich gehe stark davon aus, dass er dies auch auf sich selbst bezogen meint und damit hätte er ganz offensichtlich auch recht. </p><p>Im Interviewverlauf sagte Baier ganz offen: „<i>Ich wurde auch geprügelt von meinem Vater. Dann ist das Beste passiert, was mir passieren konnte: Meine Eltern trennten sich. Danach hatte ich immer gute Fußballtrainer, die mir Orientierung gaben. Gute, besorgte, interessierte Menschen um sich zu haben, das hilft</i>.“</p><p>Auch an dieser Stelle bleibt Baier ganz der Experte und verknüpft seine persönliche Geschichte mit seinem Fachwissen. Es ist längst erforscht, dass stützende erwachsene Bezugspersonen DER zentrale Faktor sind, die ein misshandeltes Kind in eine positive Richtung steuern können und die ein Abdriften in (Selbst-)Hass und Gewalt weniger wahrscheinlich machen (hilfreich ist natürlich auch eine Trennung vom Täter bzw. ein Unterbinden der Gewalt, was offensichtlich durch die Trennung von Baiers Eltern so geschah).</p><p>Das Team des <i>Center on the Developing Child</i> der Harvard Universität hat innerhalb des Grundlagentextes “A Guide to Toxic Stress” über Resilienz geschrieben: <br />„<i>The single most common factor for children who develop resilience is at least one stable and committed relationship with a supportive parent, caregiver, or other adult</i>." (Center on the Developing Child 2018, <a href="https://developingchild.harvard.edu/science/key-concepts/resilience/" target="_blank">Step 3: Preventing and Addressing Toxic Stress, Resilience</a>).<br />Alice Miller hat bzgl. der Weitergabe von erlittener Gewalt (Entwicklung vom Opfer zum Täter) formuliert, dass dies hauptsächlich geschieht, wenn dem gedemütigten, missbrauchten Kind niemand zur Seite stand, dem es sein Leid anvertrauen konnte bzw. der widerspiegelte, dass diese erfahrene Normalität nicht richtig ist. Bei Massenmördern, so Miller, fehlte grundsätzlich ein Helfender Zeuge. Ein Helfender Zeuge ist nach Miller ein Mensch (z.B. Bruder oder Schwester, ein Elternteil, Großmutter usw.), der einem misshandelten Kind beisteht, der ihm eine Stütze bietet, ein Gegengewicht zur Grausamkeit, die sein Alltag bestimmt. Dank dieses Zeugen erfährt ein Kind, dass es in dieser Welt so etwas wie Liebe gibt (Miller, A. 2001: „Evas Erwachen. Über die Auflösung emotionaler Blindheit“, S. 7–8).</p><p>Somit ist absolut klar, warum viele einst misshandelte Menschen in ihrem Leben einen positiven oder zumindest nicht durch Gewaltverhalten auffälligen Lebensweg hinbekommen: Sie hatten positive Ausgleichserfahrungen und Schutzfaktoren in ihrem Leben. Putin (der im Interview mit Baier erwähnt wurde) hatte solche Schutzfaktoren nicht!</p><p>Dazu kommt noch der Faktor Geschlecht bzw. Gender, denn die meisten Gewalttäter (außer in Bezug zu Kindern, hier sind Frauen bzgl. Gewalt mindestens gleichauf mit den Männern/Vätern) und erst recht Extremisten sind Männer. Dies wird Dirk Baier ebenfalls bekannt und sehr bewusst sein.</p><p>Präziser formuliert sind es also vor allem als Kind gedemütigte und deutlich belastete <i>Jungen</i>, denen <i>kaum positive Ausgleichserfahrungen und Schutzfaktoren</i> vor allem in Form zumindest einer guten Bindung an eine erwachsene, positive Bezugsperson fehlte, die besonders gefährdet sind, in Hass und Gewalt abzugleiten. Und auch von diesen wird wiederum nur ein gewisser Teil den Weg der Gewalt einschlagen.</p><p>Fakt bleibt aber auch, dass Misshandlungserfahrungen in der Kindheit vielfältige negative Folgen haben können (ehrlich gesagt habe ich noch keinen einzigen Menschen getroffen, dem eine Misshandlungsgeschichte nicht in irgendeiner Form geschadet hätte). Gewaltverhalten ist nur <b>eine</b> von vielen Möglichkeiten. </p><p>Kommen wir an dieser Stelle nochmal zurück zu der Misshandlungsgeschichte von Dirk Baier. Ich bin schon sehr lange der Überzeugung, dass Menschen, die diese klassische Kritik von wegen „<i>Nicht jedes einst misshandelte Kind wird</i>…“ so oder so ähnlich äußern, wenn sie ziemlich deutlich mit den möglichen destruktiven (vor allem auch politischen) Folgen von Kindesmisshandlung konfrontiert werden, immer auch - ob nun bewusst oder unterbewusst - sich selbst meinen: „Seht doch, ich bin ein Beispiel dafür, dass es anders kommen kann“ oder „Ich bin doch auch kein Terrorist geworden!“. </p><p>Empirisch ist diesen Kritikern immer ein ganzes Stück weit recht zu geben, denn wenn aus allen einst misshandelten Kindern automatisch Hasser und Gewalttäter werden würden, dann hätten wir schon morgen die Hölle auf Erden. Dies habe ich so auch in meinem Buch betont. <br /></p><p>Was aber gleichfalls Fakt ist und bleibt sind die destruktiven Kindheitshintergründe, die nun einmal routinemäßig bei Gewalttätern, Extremisten, Massenmördern und Diktatoren ausfindig zu machen sind.<br />Dass bei diesen Akteuren ihre destruktive Kindheit das Fundament für ihren destruktiven Weg legte, hat überhaupt nichts damit zu tun, dass viele andere, so auch Dirk Baier, ganze andere Wege gehen. Der eine Mensch steht hier, der andere Mensch steht dort. Diese gedankliche Verbindung muss raus aus der Debatte. Wir können und dürfen destruktive Kindheitserfahrungen von Extremisten und destruktiven Politikern besprechen und ins Scheinwerferlicht holen. Dadurch sprechen wir nicht gleichzeitig aus, dass alle einst misshandelten Kinder in irgendeiner Form gefährlich sind! </p><p>Ich plädiere dafür, dass wir damit aufhören, „vorsichtig mit solchen Thesen“ zu sein. Wir können und müssen gerade auch, weil die Kriminologie immer und immer wieder die Zusammenhänge zwischen destruktiver Erziehung und Gewaltverhalten aufgezeigt hat, diese Schablone - gepaart mit der Biografieforschung über Extremisten und Diktatoren - übertragen und nutzen. Die Antwort muss dann lauten: Die Kindheit ist politisch. </p><p>Ich selbst spitze dies dann zu, indem ich sage: "Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an, werden keine Massenmörder oder Diktatoren". Eine solche Aussage zielt natürlich in eine etwas andere Richtung als die Überschrift "<i>Niemand ist vor Extremismus gefeit</i>" des hier besprochenen Interviews.</p><p>Eine solche Zuspitzung erwarte ich nicht von einem Wissenschaftler. Als Forschender im Wissenschaftsbetrieb muss und sollte man vorsichtig formulieren. "<i>Nun, da ist schon was dran, dass eine harsche, gewaltförmige Erziehungsmethode die Persönlichkeit beeinflussen kann</i>.", sagte Baier wie oben zitiert mit Bezug zum Extremismus und auf politische Führer wie Putin. Eine vorsichtige Bemerkung. Warum nicht einfach einen Punkt dahinter lassen, im nächsten Interview?</p><p><br /></p><p><b>Anhang:</b></p><p>Ich möchte bzgl. dem Satz "<i>Ganz viele geprügelte Kinder sind nicht Nazis geworden, sondern Helfer" </i>noch anmerken, dass in der Nazizeit die Helfer und Judenretter mehrheitlich eine auffällig positive Kindheit hatten!<br />Siehe dazu: <br />- <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2012/06/die-kindheit-von-judenretterinnen.html">Die Kindheit von JudenretterInnen</a><br />- <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2019/06/oliner-oliner-die-kindheit-von.html">Oliner & Oliner: Die Kindheit von JudenretterInnen</a><br />Auch hier gilt, dass es auch einst misshandelte Kinder gab, die zu Judenrettern wurden. Die Tendenz war aber trotzdem deutlich. </p>Unknownnoreply@blogger.com1tag:blogger.com,1999:blog-16293711446370484.post-62084862628139652772023-12-31T07:36:00.003+01:002023-12-31T07:56:07.523+01:00Historiker Simon Sebag Montefiore über die Mütter von Hitler, Stalin und Trump. Eine kritische Anmerkung. <p>Der Historiker Simon Sebag Montefiore hat kürzlich dem SPIEGEL (52/2023) im Rahmen des Titelthemas „<i>Für immer Sohn. Wie Mütter das Leben von Männern prägen</i>“ ein ausführliches Interview gegeben (<a href="https://www.spiegel.de/wissenschaft/historiker-simon-sebag-montefiore-die-macht-von-frauen-lag-in-der-kontrolle-ihres-sohnes-a-6d95654f-368f-4b51-9870-3ed6e9131bbc?sara_ref=re-so-tw-sh" target="_blank">Historiker über Mütter mächtiger Männer. „Die Macht von Frauen lag in der Kontrolle ihres Sohnes“</a>)</p><p>In dem Interview geht er u.a. auf die Mütter von Stalin, Hitler und Donald Trump ein. Wobei die Mutterbeziehung Hitlers ihn mit am meisten beeindruckt hätte, wie er auf Nachfrage sagt. </p><p>Alle drei Mutterbeziehung kommentiert er nicht bzgl. ihrer destruktiven Wirkungen. Im Gegenteil, die Mütter von Hitler und Stalin werden sogar recht wohlwollend und zugewandt dargestellt. Auf SPIEGEL Frage "<i>Von der Mutter des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump heißt es, dass sie ihren Sohn für dumm gehalten habe</i>" hin kommentiert er nur, dass Trumps Mutter eine „<i>energische, direkte Frau</i>“ gewesen sei. Auf die folgende Nachfrage, warum Trump Frauen gegenüber immer wieder wenig Respekt gegenüber zeige, vermutet Montefiore als Ursache altes Klischeedenken von „<i>Heiliger und Hure</i>“. </p><p>In allen drei Fällen wurde somit die grausame Realität der Mutter-Sohn-Beziehungen in meinen Augen ausgeblendet und insofern wurde eine Chance verpasst, die Wirkung von destruktiven Elternfiguren auf politische Führer (und deren Verhalten) in einem großen Leitmedium zu besprechen. </p><p>Leider kommentiert der Historiker sogar noch an einer Stelle: <br />Hitlers Mutter „<i>war sehr nachsichtig. Man hat den Charakter von Diktatoren ja lange Zeit damit erklärt, dass ihre Eltern sie grausam behandelt hätten. Aber das stimmt nicht. Natürlich gab es viele Väter, die tranken und ihre Kinder schlugen, aber das war normal – der Freudianismus hat dem zu viel Bedeutung beigemessen. Hitlers Mutter hat ihren Sohn vergöttert</i>.“</p><p>Dieser Satz blendet alle Erkenntnisse aus, die es mittlerweile über die Kindheiten von Diktatoren (und auch Gewalttätern an sich) gibt. Die Gemeinsamkeit von Diktatoren ist gerade ihre massiv traumatische Kindheit (siehe auch mein Buch „<a href="https://mattes.de/buecher/psychohistorie/978-3-86809-143-4.html" target="_blank">Die Kindheit ist politisch! Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen</a>“). Diesen Satz dann auch noch mit „Hitler“ einzurahmen, entbehrt jeder Logik, da <i>gerade</i> Hitler eine unfassbar traumatische Kindheit erlebt hat.</p><p>Dass Hitler von seinem Vater häufig und schwer misshandelt und gedemütigt wurde, ist längst bekannt (und wird auch dem Historiker Montefiore bekannt sein). Der Historiker Roman Sandgruber hat 2021 beispielsweise sehr deutlich geradezu einen Schlussstrich über die Erkenntnislage bzgl. Hitlers von Gewalt geprägter Kindheit gezogen, da dies einfach überdeutlich belegt ist: „<a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2021/03/hitler-ein-einst-misshandeltes-kind.html">Hitler: Ein einst misshandeltes Kind. Deutliche Worte in einem neuen Buch</a>".</p><p>Hitlers Mutter stand hilflos und ohnmächtig daneben, ohne ihrem Sohn helfen/schützen zu können oder zu wollen. Was dies mit einer Mutter-Sohn-Beziehung macht, ist u.a. unter Kindertherapeuten bekannt. Das Gleiche gilt für einer mütterliche "Vergötterung" ihres Sohnes, was wenig mit Liebe zu tun hat und viel Destruktivität im Leben des Sohnes zur Folge haben kann. <br />Neben der Gewalt war Hitlers Kindheit von weiteren schweren Belastungen geprägt, darunter <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2020/03/hitlers-kindheit-im-schatten-des-todes.html">z.B. Tod von mehreren Kernfamilienmitgliedern</a>. </p><p>Die massiv destruktiven Eltern-Kind-Beziehungen bei den Trumps sind ebenfalls belegt (wenn auch öffentlich weniger bekannt/besprochen), auch der Einfluss der destruktiven und vor allem abwesenden Mutter (bei Interesse zwei lange Blogbeiträge dazu <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2019/07/die-kindheit-von-donald-trump.html ">hier</a> und <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2020/07/too-much-and-never-enough-die-kindheit.html">hier</a>) </p><p>Was mich am meisten fassungslos zurückließ sind die Kommentare des Historikers bzgl. Stalins Mutter, die er als "eine interessante Figur", die ihren Sohn gefördert und angetrieben habe, beschreibt. Stalin habe seiner Mutter viel zu verdanken. </p><p>Simon Sebag Montefiore selbst hat in seinem Buch „<a href="https://books.google.de/books/about/Der_junge_Stalin.html?id=ixv8CAAAQBAJ&redir_esc=y" target="_blank">Der junge Stalin</a>“ auf die massive Gewalt des Vaters UND der Mutter von Stalin hingewiesen. Ja, die Mutter von Stalin hat ihren Sohn körperlich misshandelt (nach meinen Recherchen zusätzlich auch emotional, aber das würde hier zu viel Raum einnehmen). Im SPIEGEL-Interview, das eine Titelstory über den Einfluss von Müttern auf ihre Söhne angelehnt ist, wird dieser extrem wichtige Faktor der mütterlichen Misshandlung einfach nicht erwähnt. </p><p>Anbei zwei Zitate aus dem Montefiore Buch „Der junge Stalin“ im Kapitel „Der verrückte Besso“:</p><p>„<i>Streitsüchtig und aggressiv, war er so schwer unter Kontrolle zu halten, dass sogar seine Mutter, die ihn anbetete, zu Züchtigungen griff, um ihren widerspenstigen Schatz zum Gehorsam zu zwingen</i>.“</p><p>"»<i>Sie verdrosch ihn häufig«, erzählt Stalins Tochter Swetlana. Als Stalin seine Mutter in den Zwanzigerjahren zum letzten Mal besuchte, fragte er sie, warum sie ihn so oft geschlagen habe. »Es hat dir nicht geschadet«, erwiderte sie. Aber das ist umstritten. Psychiater glauben, dass Gewalt Kindern stets schadet, und gewiss bringt sie weder Liebe noch Mitgefühl hervor</i>.“</p><p>Was ich auch sehe – und da hat Montefiore einen Punkt – ist, dass Diktatoren in ihrer Kindheit auffällig häufig eine Mutter hatten, die sie antrieb und übermäßig erhöhte (neben den gleichzeitigen Demütigungen und Erniedrigungen innerhalb der Familie). Die besonderen Größenfantasien der Diktatoren haben hier wahrscheinlich mit ihren Ursprung. Insofern ist diese Art von mütterlichem Einfluss ein bedeutsamer Faktor. </p><p>Aber ohne die viele Gewalt und die vielen Ohnmachtserfahrungen in der Kindheit dieser Akteure, wären sie nicht zu den gefühlskalten politischen Führern geworden, die sie wurden. Und genau darüber müssen wir sprechen und aufklären. </p><p><i>"Der Freudianismus hat dem zu viel Bedeutung beigemessen", </i>sagte der Historiker ja (siehe oben). Das ist genau das Paradoxe im öffentlichen Bewusstsein. Dass destruktive Kindheiten Folgen haben, wird zwar öffentlich besprochen und ist irgendwie auch bewusst. Wenn es aber um Politik und politische Führer geht, wird dies sehr oft ausgeblendet und gering geredet. Es ist auch nicht das erste Mal, dass ich von Seiten eines Historikers solche Zeilen hier lese: "<i>Natürlich gab es viele Väter, die tranken und ihre Kinder schlugen, aber das war normal". </i></p><p> Der Historiker Volker Ullrich hat z.B. in der Biografie "<i>Adolf Hitler. Biographie Band 1: Die Jahre des Aufstiegs 1889 – 1939</i>" sehr deutlich die Gewalt von Hitlers Vater beschrieben. Dann fügt er an: <br />„<i>Doch sollten sich Biographen hüten, zu weitreichende Schlüsse aus frühen Kindheitserlebnissen zu ziehen. Körperliche Züchtigung war damals als Erziehungsmittel durchaus noch an der Tagesordnung. (…) Nach allem, was wir wissen, scheint Hitler eine ziemlich normale Kindheit verbracht zu haben, jedenfalls gibt es keine gesicherten Hinweise auf eine abnorme Persönlichkeitsbildung, aus der sich die späteren Verbrechen ableiten ließen" (</i>Kapitel:<i> „1 Der junge Hitler“).</i></p><p>Was grausame Realität der Mehrheit der Kinder war, hat dann also keine negativen Folgen und übt keinen Einfluss auf Verhalten aus, wenn aus diesen Kindern später mal einflussreiche politische Akteure werden? </p><p>Eigentlich weiß es Montefiore ja auch besser, denn er schrieb ja selbst: "<i>Psychiater glauben, dass Gewalt Kindern stets schadet, und gewiss bringt sie weder Liebe noch Mitgefühl hervor" </i>(siehe oben).</p><p>Dieses Hin und Her, diese Widersprüchlichkeiten der Aussagen zeigen mir, dass der Historiker sich selbst noch nicht bewusst gemacht hat, dass Kindheit politisch ist! Damit ist er nicht alleine, sondern bildet die gedanklichen und emotionalen Mehrheitsverhältnisse der Gesellschaft ab. </p><p>Dies Stück für Stück zu verändern, wird auch mein Ziel im neuen Jahr 2024 bleiben. </p><p>In diesem Sinne: Einen guten Rutsch ins neue Jahr wünsche ich!</p><div><br /></div>Unknownnoreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-16293711446370484.post-9018261006404048492023-11-21T16:53:00.003+01:002023-11-21T17:10:37.080+01:00 Kindheit von Richard III. (England, 1452-1485)<p>Richards Mutter hatte über elf Jahre hinweg fast jedes Jahr ein Kind zur Welt gebracht. „<i>Das elfte Kind der Herzogin von York war klein und kränklich, vielleicht als Folge der Schwangerschaftskomplikation. Lange Zeit schien es, als sollte es, wie vier seiner Geschwister vor ihm, das Kleinkindalter nicht erreichen" </i>(Kalckhoff 1980, S. 14).<br />Richards frühe Kindheit war geprägt von Gesundheitsproblemen. „<i>Sein Gesundheitszustand war so misslich, dass ein Reimschmied, der die Geschichte der Herzogfamilie in Verse gebracht hatte, nur berichten konnte: ‚Richard liveth yet‘ (Richard lebt noch)</i>“ (Kendall 1980, S. 24). </p><p>„<i>Die meisten seiner Brüder und Schwestern kannte Richard kaum. Anna, dreizehn, und Elisabeth, acht Jahre alt, wurden, wie üblich, in anderen Adelshäusern erzogen. Die beiden ältesten Knaben, Eduard und Edmund, lebten weit entfernt in Ludlow Castle. Richards Spielkameraden waren der dreijährige Bruder Georg und die sechsjährige Schwester Margarete. Vater und Mutter sah er selten. (…) In diesen ersten sieben Jahren spielte seine Schwester Margarete die Rolle der Mutter. Ihr Liebling war jedoch Georg. Dem kleinen Richard blieb wohl nichts übrig, als diese ungleiche Liebe als unvermeidlich hinzunehmen, denn er fürchtete sich vor Georg. Georg war nicht nur drei Jahre älter, er war auch alles, was Richard nicht war: stark, groß für sein Alter, schön, anziehend und verwöhnt. Richard konnte niemals ganz von diesem Bild eines strahlenden älteren Bruders loskommen, der sich in den Kopf gesetzt hatte, dass ihm sofort gehorcht werde, und dessen gelegentliches Lächeln eine ihn verwirrende Belohnung war. Am Ende dieser sieben Jahre brach die jenseits des friedlichen Marschlandes liegende Welt plötzlich über das Kind herein, das England von 1459, eine Welt der nackten Gewalttätigkeit</i>“ (Kendall 1980, S. 24f.) </p><p>Der Biograf Andreas Kalckhoff beschreibt allerdings schon vorher das Miterleben von Gewalt: <br />„<i>Noch bevor Richard das siebte Lebensjahr vollendet hatte, war er Gefangener, das einzige Mal in seinem Leben. Die Soldateska der Königin massakrierten die wehrlosen Stadtbewohner und plünderten die Burg, die ohne Verteidigung dalag</i>“ (Kalckhoff 1980, S. 43). Die Mutter und ihre Kinder fielen zunächst in die Hände ihrer Feinde, kamen aber glimpflich davon. </p><p>Wenig später, im Jahr 1460, erfuhr der junge Richard, dass „<i>er im Kampfgewühl eines einzigen Tages den Vater, einen Bruder und einen Oheim verloren hatte</i>“ (Kendall 1980, S. 38).</p><p>Als Neunjähriger wurde Richard zur weiteren Erziehung fortgeschickt. „<i>Es war Übung in England, dass Heranwachsende als Pagen in fremde Familien gingen. So kam Richard im Herbst 1461 zu den Nevilles von Warwick auf Burg Middleham, Yorkshire</i>“ (Kalckhoff 1980, S. 64). Dort sollte er die nächsten drei Jahre seiner Erziehung verbringen, die von morgens bis abends strikt reglementiert war. „<i>Hier begann der junge Richard den Kampf, seine heimlichen Vorsätze zu verwirklich. Das kränkliche Kind, aus dem ein hagerer, im Wachstum zurückgebliebener Bursche geworden war, trieb sich selbst dazu an, stark zu werden und die Waffen gewandt zu handhaben. Mit ingrimmiger Leidenschaft arbeitete er am Kriegshandwerk. (…). Er musste sich darauf vorbereiten, seinem herrlichen Bruder Eduard zu dienen. Vielleicht lag es an dieser harten Ausbildung, dass ein rechter Arm und die rechte Schulter etwas stärker wurden als die linke Seite"</i> (Kendall 1980, S. 47). </p><p>Kalckhoff (1980, S. 66-71). beschreibt recht ausführlich die Praxis des „Weggebens“ der Kinder im England des 15. Jahrhunderts, die fast alle Kinder, ob arm oder reich, traf. Diese Kinder mussten im wahrsten Sinne des Wortes dienen und hatten keinerlei Schutz durch ihre natürlichen Eltern. </p><p>König Eduard (der ältere Bruder von Richard!) setzte in seinem „Schwarzen Buch der Hofhaltung“ fest, wie der Erzieher (der <i>Master of Henchmen</i>) mit den Pagen am Hofe umzugehen hatte. Darin ging es um viele Verhaltensnormen, strikte Kontrolle und Regeln. An einer Stelle steht geschrieben:„(…) <i>und diese Kinder täglich und stündlich gehörig anzuhalten, mit Züchtigungen auf ihren Zimmern, wie es bei solchen Herren nötig ist</i> (Kalckhoff 1980, S. 69). Der Erziehungsauftrag beinhaltete also auch eindeutig körperliche Gewalt gegen die Kinder. Gewalt durch Erziehungspersonen traf die Kinder des Mittelalters regelmäßig. Auch Richard wird diesem Schicksal mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht entkommen sein. </p><p>In den oben besprochenen Informationen stecken sehr viele Kindheitsbelastungen, die ganz sicher nicht ohne Folgen blieben: <br />Schwangerschaftskomplikation, schlechte Gesundheit, Aufwachsen ohne Eltern (betreut von Personal), Trennungen von Geschwistern, ein dominanter älterer Bruder, Miterleben von kriegerischen Entwicklungen seitens des Adels, der sich damals in England gegenseitig schwer bekämpfte ("Rosenkriege"), schließlich gewaltbedingter Tod des Vaters, des älteren Bruders Edmund und eines Onkels und erneuter Umgebungswechsel inkl. harter Ausbildung und Erziehung. </p><p>(Während meiner Recherchen über Richard stieß ich im ZDF zufällig auf die Doku "<a href="https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/heinrich-viii-der-junge-prinz--100.html" target="_blank">Heinrich VIII.: Der junge Prinz </a>" (erster Teil von drei Teilen). Seine Kindheit in England verlief recht ähnlich wie die von Richard: er wuchs ohne Eltern betreut von Personal auf; sein Vater war dominant, kontrollierend und hatte jahrelang kein Interesse am Sohn; einige Geschwister starben; die Mutter starb, als Heinrich elf Jahre alt war.)</p><p><br /></p><p><b>Quellen:</b></p><p>Kalckhoff, A. (1980). Richard III. Sein Leben und seine Zeit. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Glasbach. </p><p>Kendall, P. M. (1980). Richard III. Der letzte Plantagenet auf dem englischen Königsthron 1452-1485. Verlag Callwey, München. </p><div><br /></div>Unknownnoreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-16293711446370484.post-29743905276976648052023-11-05T13:19:00.026+01:002023-12-20T14:16:04.644+01:00Kindheit und islamistischer Extremismus/Terrorismus - eine Übersicht<p><b><span style="color: red; font-size: medium;">aktualisiert: 20.12.2023 (siehe neue Ergänzungen im Kommentarbereich)</span></b></p><p><b><span style="font-size: medium;"><br /></span></b></p><p><b><span style="font-size: medium;">Vorwort</span></b></p><p>Die aktuellen Ereignisse seit dem 07.10.2023 in Israel und Gaza (vor allem auch die Angriffe der islamistischen Terrorgruppe Hamas) haben mich motiviert, eine Zusammenfassung bzgl. meiner bisherigen Recherchen über Kindheit und islamistischen Extremismus/Terror zu verfassen. Geplant hatte ich einen solchen Text schon lange, jetzt endlich habe ich es geschafft. </p><p>Parallel zu diesem Text veröffentliche ich auch eine Zusammenfassung über "<a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2023/11/kindheit-in-gaza-und-der-nie-enden.html">Kindheit in Gaza</a>". "Trauma-Kindheit" in Gaza hat ganz sicher einen erheblichen Anteil an den grausamen Ereignissen der jüngsten Zeit! </p><p>In <a href="http://mattes.de/buecher/psychohistorie/978-3-86809-143-4.html" target="_blank">meinem Buch</a> schrieb ich im Kapitel „Das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in der Welt – Kindheiten der Allgemeinbevölkerung“: „<i>Was im internationalen Vergleich auffällt ist, dass viele Länder und Regionen, die historisch für schwere Konflikte, hohe Kriminalitätsraten, Kriege, Krisen, Diktaturen, autoritäre Staatsstrukturen und/oder Rekrutierungsgebiete für Terroristen stehen, gleichzeitig sehr hohe Gewaltraten gegen Kinder aufweisen</i>.“ Diesen Grundgedanken bleibe ich stets treu, was man auch an den diversen Länderanalysen hier im Blog sehen kann. Hervorheben möchte ich auch meinen Text „<a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2021/08/kindheit-in-afghanistan-und-der-nie.html">Kindheit in Afghanistan und der nie enden wollende Krieg und Terror</a>“. Der Mittlere Osten und Gesamtafrika sind außerdem <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2014/09/weltweit-grote-studie-zum-ausma-der.html">weltweit führend</a>, wenn es um Gewalt gegen Kinder in der Familie geht. Viele Problemlagen dieser Regionen sehe ich auch vor dem Hintergrund der schlechten Bedingungen für Kinder. </p><p>Die unten aufgezeigten Ergebnisse weisen auf einen in der Öffentlichkeit vielfach übersehenen Zusammenhang zwischen destruktiven Kindheitserfahrungen und islamistischem Extremismus hin. Diese Zusammenhänge gelten auch für andere Extremismusformen, was ich vielfach durch meine Recherchen zeigen konnte. <br /></p><p><b><span style="font-size: medium;">Ist die Datenlage wirklich dünn oder müssen wir nur genauer hinsehen? Studien über die Kindheitshintergründe von islamistischen Extremisten/Terroristen</span></b></p><p>Bzgl. des islamistischen Extremismus ist die Datenlage über Familien-/Kindheitshintergründe in der Tat dünner als bzgl. des Rechtsextremismus, was in der Literatur auch immer wieder betont wird. Die Befundlage wird meiner Auffassung nach dennoch ziemlich dicht und vor allem aussagekräftig, wenn man genau hinsieht, viele Einzelfälle sammelt und Ergebnisse von Studien zusammenführt.</p><p>Nach meinem Eindruck wird in der entsprechenden Forschung bzgl. Kindheitseinflüssen zu wenig hingesehen. Dies zeigt sich exemplarisch in einer aktuellen Review (Ohls et al. 2023) über Schutz- und Risikofaktoren bzgl. islamistischer Radikalisierung und Extremismus. Das Forschungsteam führt zwar auf Seite 10 als Risikofaktor den Punkt "<i>Victim of abuse and unstable family conditions</i>" auf, bezieht sich dabei aber nur auf zwei Studien (Jasko et al. 2017; Lützinger 2010), die ich in diesem Text hier ebenfalls besprochen habe. </p><p>Lloyd deMause (2002) hat in seinem Text „<i>The childhood origins of terrorism</i>“ schon früh auf deutliche Zusammenhänge zwischen extrem destruktiven Kindheiten und islamistischen Terrorismus hingewiesen. Aber auch er verfügte allerdings noch nicht über ausreichend empirische Daten. </p><p>Wichtige Impulse kommen u.a. aus der Praxis: „<i>Zum Stellenwert (…) familialer Einflüsse existieren für den gewaltorientierten Islamismus bislang allerdings keine dichten Befunde. Akteure aus der Beratungsarbeit, die mit gefährdeten Jugendlichen und ihren Eltern arbeiten, erachten familiäre Belastungen allerdings als überaus bedeutsam – sie weisen auf autoritäre und gewalthaltige Familienstrukturen, auf Aspekte emotionaler Entfremdung, überforderte Bezugspersonen und bei jungen Männern besonders auf das häufige Fehlen verlässlicher Vaterfiguren hin</i>“ (Glaser et al 2018, S. 18).</p><p>Solche Hinweise kommen auch von dem in der Praxis sehr aktiven Psychologe Ahmad Mansour (2015) in seinem Buch „Generation Allah“ (in dem übrigens auch die Kindheit des Autors selbst und seine damalige Radikalisierung behandelt wird: <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2021/04/generation-allah-von-ahmad-mansour.html">hier</a> besprochen). </p><p>Im Streetworkerbuch "Die Wütenden" von Fabian Reicher & Anja Melzer (2022) werden fünf Fallbeispiele von Dschihadisten ausgebreitet. In drei Fällen werden schwere Traumatisierungen in der Kindheit deutlich (vor allem auch Kriegserfahrungen). An einer Stelle fasst das Autorenteam zusammen: "<i>Rachefantasien entstehen, wenn Unrecht geschieht. Alle Attentäter haben ihre eigenen Geschichten, aber was alle miteinander verbindet, sind schwere traumatische Verletzungen, Erfahrungen von Erniedrigung und Ohnmacht, die sie nicht verarbeiten können, ohne Gewalt anzuwenden</i>" (Reicher & Melzer 2022, S. 120). </p><p><b>Mittlerweile existieren allerdings auch so einige Studien, die ich nachfolgend vorstellen möchte:</b></p><p>Lützinger (2010) hat 39 männliche Extremisten/Terroristen (24 rechts, neun links und sechs islamistisch) befragt. Zusammenfassend schreibt sie: „<i>Resümierend kann festgehalten werden, dass die hier untersuchten Biographien grundlegend entwicklungsbelastete Personen charakterisieren, die mangels eines funktionierenden und eine gesunde und gelingende psychosoziale Entwicklung garantierenden Elternhauses äußerst prekäre soziale Kontakte eingegangen sind. Das jeweilige extremistisch-terroristische Milieu bzw. Gruppenangebot fungierte als Ersatz für ein funktional und strukturell gestörtes Elternhaus</i>" (Lützinger et al. 2010, S. 75f.). „<i>In den meisten Biografien spielten Gewalt und Unterdrückung schon im Kindesalter eine Rolle</i>“ (Lützinger 2010, S. 31). Diese Ergebnisse gelten entsprechend auch für die sechs Islamisten aus dem Sample. </p><p>Es gibt auch andere interessante Ansätze (Jasko et al. 2017): In den USA wurden 1496 Akteure (90 % männlich), die ideologisch-bedingte Straftaten (rechtes, linkes und islamistisches Spektrum) begangen hatten, an Hand öffentlich zugänglicher Daten/Berichte untersucht (keine direkten Befragungen). 62 % der untersuchten Akteure hatten Gewalt ausgeübt. 35 % aller Akteure wurden als Kind misshandelt, 48 % erlitten ein Trauma (nicht nur auf Kindheit bezogen), 29 % hatten stark extremistische Familienmitglieder. Dafür, dass keine direkten Befragungen stattfanden, sind die Ergebnisse bezogen auf Belastungen recht eindrucksvoll. Auch hier wird deutlich, dass traumatische Erfahrungen und belastende Kindheitserfahrungen bedeutsam bei der Genese von Extremismus sind.</p><p>Srowig et al. (2017) haben 33 (davon zwei weiblich) in Deutschland straffällig gewordene Islamisten auf Grundlage von Gerichtsakten und ergänzend vier Interviews mit Personen aus der Stichprobe analysiert. Das Autorenteam fasst zusammen: „<i>Über alle Fälle hinweg konnten eine Vielzahl von Konflikten in der Familie, in der Schule, bei dem Übergang in das Berufsleben, wie auch in Interaktion mit der Gruppe Gleichaltriger identifiziert werden. Die Konflikte lassen sich wie folgt aufschlüsseln: </i></p><p><i>- Kritische Lebensereignisse, wie die Erkrankung oder der Verlust einer nahestehenden Person bzw. vergleichbare Krisensituationen</i></p><p><i>- Gewalterfahrungen als Opfer im Elternhaus</i></p><p><i>- Gewalterfahrungen als Täter</i></p><p><i>- Exzessiver Konsum von Drogen und Alkohol</i>“ (Srowig et al. (2017, S. 105).</p><p>Leider wurde nicht die genaue prozentuale Verteilung dieser Belastungsfaktoren aufgestellt. Fest steht, dass die genannten Belastungsfaktoren zentrale Gemeinsamkeiten der Islamisten sind. Ich möchte ergänzend erwähnen, dass ein exzessiver Drogen- und Alkoholkonsum laut Forschungslage vor allem von Menschen praktiziert wird, die ein hohes Maß an kindlichen Belastungen (ACEs) erlitten haben. Zusammen mit dem Punkt „Gewalterfahrungen als Opfer im Elternhaus“ sowie auch dem Verlust von Bezugspersonen zeigt diese Studie also eindeutig auf den Einfluss von Kindheitserfahrungen bzgl. Radikalisierungsprozessen.</p><p>2016 wurden von einem Forscherteam (Aslan et al. 2018) 29 Interviews durchgeführt, davon 26 in Gefängnissen in Österreich und drei in Jugendeinrichtungen. Die Befragten standen im Zusammenhang mit der Verübung von terroristischen Straftaten islamistischen Charakters. Aus den Befragungen wurden drei Fallbeispiele herausgefiltert, die ausführlich besprochen wurden. Am Ende wurden elf weitere Fallbeispiele in stark verkürzter Zusammenfassung besprochen. Insgesamt hat man also biografische Einblicke bezogen auf 14 islamistische, männliche Akteure. Die Studie war nicht auf Kindheitserfahrungen fokussiert. Allerdings zeigt sich bei der Durchsicht, dass die deutliche Mehrheit der Befragten erhebliche Belastungen in der Kindheit erlitten haben (vor allem Kriegs- und Fluchterfahrungen und Trennungen und/oder Verlust von Familienmitgliedern). Wie der jeweilige elterliche Erziehungsstil ausgesehen hat, erschließt sich in der Studie leider nicht. </p><p>Eine Möglichkeit, zu Erkenntnissen in diesem Feld zu gelangen, sind auch gedankliche Ableitungen. Das Bundeskriminalamt et al. (2016) konnte z.B. in einer großen Untersuchung von 778 Islamisten (mehrheitlich Männer), die aus Deutschland im Zeitraum zwischen Januar 2012 bis Juni 2016 nach Syrien oder dem Irak ausgereist sind (und sich mehrheitlich nach ihrer Ausreise einer islamistisch-jihadistischen Gruppierung angeschlossen haben), diverse Daten sammeln und auswerten. Zwei Drittel der Islamisten hatte eine kriminelle Vorgeschichte (vor allem Eigentums-, Gewalt- und/oder Drogendelikte). 53 % von den Personen mit einem kriminellen Hintergrund hatten drei oder mehr Delikte und 32 % hatten sogar sechs oder mehr Delikte begangen (Bundeskriminalamt et al. 2016, S. 18f.). Wie <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2017/03/kindheit-von-gewalt-und-straftatern.html">diverse Studien</a> zeigen, lassen sich bei Straftätern stark erhöhte <i>Adverse Childhood Experiences </i>(ACEs) nachweisen. Generelle Studien über die Kindheit von Gewalt-/Straftätern sagen weitergedacht also auch etwas über die Kindheiten der hier untersuchten (kriminellen) Islamisten aus!</p><p>Diese Ableitung gilt auch für eine Untersuchung vom Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen (2011), für die 140 Konvertiten aus islamistischen Milieus analysiert wurden. Über die Hälfte dieser Akteure hatte eine kriminelle Vorgeschichte (Drogendelikte, Diebstähle und Körperverletzungen). Ergänzend gab es deutliche Hinweise in Richtung problematischer Entwicklungen in der Kindheit: „<i>Bei den meisten Konvertiten gab es Auffälligkeiten in den Sozialisationsverläufen. Es handelt sich um »instabile« Persönlichkeiten. Ein häufiger Grund lag in gestörten Familiensystemen und fehlenden sozialen Bindungen, teilweise bereits seit frühster Kindheit</i>“ (Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen 2011, S. 46). <br />Auch eine weitere Erkenntnis dieser Untersuchung bzgl. Islamisten deckt sich mit den Erkenntnissen aus der Rechtsextremismusforschung: „<i>Die empfundene Geborgenheit, das Gemeinschaftserlebnis und die Erlebniswelt Islamismus an sich mit ihren verschiedenen Veranstaltungsformen bieten einen starken Kontrast zu dem vorher gelebten Leben. Es scheint somit sehr wahrscheinlich zu sein, dass weniger die Ideologie als vielmehr Defizite im eigenen Lebenslauf und in der Persönlichkeit Grund für den Zulauf zu einem extremistischen-islamischen Milieu sind</i>“ (Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen 2011, S. 46f.).</p><p>Ich fand ein weiteres Projekt zum Thema Extremismus und Terror. Allerdings habe ich bisher keine wissenschaftliche Ausarbeitung der Ergebnisse gefunden. Insofern muss ich den diversen Medien vertrauen, die über dieses Projekt berichtet haben. Meine ausgewählte Quelle ist in dem Fall SPIEGEL-Online. Die beiden Schwestern Nancy und Maya Yamout von der Nichtregierungsorganisation Rescue Me haben im Roumieh-Gefängnis in Beirut 20 verurteilte Terroristen (darunter auch Mitglieder des IS, der Nusra-Front und der syrischen Qaida) innerhalb von zwei Jahren regelmäßig interviewt (ein Vertrauensverhältnis wurde hergestellt!), um herauszubekommen, warum sie sich radikalisierten. Auffällige Gemeinsamkeiten der Terroristen sind, dass sich keiner gut mit Religion auskannte. Sie hatten nur oberflächliche Kenntnisse über den Islam. „<i>Große Ähnlichkeit gab es bei den Kindheitsgeschichten. Keiner der 20 Terroristen kam aus einem normalen Elternhaus. Ihre Väter prügelten, demütigten und instrumentalisierten sie. Der Vater eines Terroristen drückte Zigaretten auf seinem Sohn aus. Die kreisrunden Narben auf dem Arm des Häftlings zeugen immer noch davon. Ein anderer Vater war Kämpfer im libanesischen Bürgerkrieg. Für seine Kinder war er nicht da. Die mussten schon als Achtjährige mithelfen - Waffen reinigen und Leichenteile einsammeln</i>“ (Salloum 2014). Islamistische Führer wurden laut den beiden Schwestern zu Vaterfiguren für die untersuchten Terroristen. </p><p>Interessant sind auch die Ergebnisse einer vergleichenden Analyse von Amokschützen in den USA und Selbstmordattentätern im Nahen Osten. Eine wesentliche Gemeinsamkeit beider Tätertypen sind belastende Kindheitserfahrungen: „<i>In general research has found strong relationships between childhood suffering, delinquency, and criminality (…). In addition, childhood victimisation has been determined to be strongly related to substance abuse, sex crimes, prostituition, promiscuity, teenage pregnancy, and a number of violent crimes (…). Therefore, it should not be particularly suprising that the violent actors in these cases have often suffered from a troubled childhood – altough this is just one of the many factors which contributes to their ultimate attacks. This appear to be a key similarity between volunteer suicide bombers in the Middle East and rampage shooters in the U.S. The range of their disturbing childhood experiences includes being repeatedly harassed, bullied, or abused as a child, witnessing abuse, growing up in dysfunctional families, and growing up in conflict-ridden refugee camps (…)</i>” (Lankford & Hakim 2011, S. 102). Eine weitere Gemeinsamkeit dieser Akteure war ein geringes Selbstbewusstsein, was, so meine Vermutung, wiederum mit belastenden Kindheitserfahrungen in einem Zusammenhang stehen könnte.</p><p>In Kanada wurden Interviews mit sieben islamistisch-radikalisierten Personen geführt. Die Ergebnisse bzgl. Kindheitserfahrungen wurden nicht vertiefend ausgeführt. Allerdings zeigt eine Zusammenfassung in eine eindeutige Richtung: „<i>Significantly, most interviewees, particularly the converts, led a deeply troubled existence during their youth and in a number of cases came from broken homes or dysfunctional families. For instance, one convert was forced to grow up without his father after his father was imprisoned for murdering a police officer</i>” (Ilardi 2013, S. 714). In der Folge dieser Erfahrungen neigten viele der Befragten zu selbstschädigendem Verhalten wie Alkohol-/Drogensucht oder Spielsucht. </p><p>Van Leyenhorst & Andres (2017) haben 26 Fälle aus den Niederlanden auf Grundlage von Akten analysiert. Die analysierten Akteure waren bzgl. dschihadistischer Taten in oder für ISIS in Syrien verdächtigt. Bzgl. der Vorerfahrungen in der Kindheit gibt einige wenige, aber interessante Daten: “<i>More than half of the suspects (54%) were brought up in large families with six or more siblings. Fourteen suspects experienced one or more separations and nine grew up without a father being present</i>” (Leyenhorst & Andres 2017, S. 325). Dazu muss ich anmerken, dass ich bei einer solch hohen Geschwisterzahl potentiell und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit von elterlicher Vernachlässigung oder zumindest entsprechenden Gefühlen der Kinder ausgehe. Viel Zeit der Eltern für das einzelne Kind ist in solchen Familien einfach nicht schaffbar. <br />In der Studie wurde nur von vier Akteuren Aussagen zitiert. Eine davon begann so: “<i>My parents were divorced and my stepfather favoured his own kids over me. […] I was bullied at school and was eventually placed in foster homes. […] I felt I belonged to no one and asked myself questions about belonging and meaning in life. I started to find answers in religion (…)</i>“ (Leyenhorst & Andres 2017, S. 319). Hier werden im Einzelfall vielfältige Kindheitsbelastungen deutlich.</p><p>Ebenfalls aus den Niederlanden kommt eine Studie (Grimberger & Fassaert 2022), für die 34 Personen (davon 29 männlich) analysiert wurden, die bzgl. gewalttätigen Extremismus verdächtigt wurden. Die Personen waren in einer Art Präventionsprojekt registriert, in dem alle Spektren des Extremismus auftauchen. In der Studie wird nicht klar, welchem Spektrum die hier behandelten Akteure zuzuordnen sind. Allerdings hatten 88,2% einen Migrationshintergrund und fast alle von diesen Akteuren hatten Familienhintergünde aus islamischen Ländern wie z.B. Syrien, Marokko, Ägypten oder der Türkei. Ich gehe insofern davon aus, dass die meisten der 34 Akteure bzgl. islamistischem Extremismus verdächtigt wurden. <br />Die Kindheishintergründe der Befragten waren i.d.R. belastet. 35,3% berichteten von vier oder mehr belastenden Kindheitserfahrungen (ACEs). Die häufigsten ACEs waren emotionale Vernachlässigung (47,1 %), psychische Erkrankungen im Haushalt (44,1 %), Verlust eines Elternteils (38,2 %), Miterleben von häuslicher Gewalt (23,5%) und Misshandlungen (23,5%). </p><p>Mohammed & Neuner (2022) haben 59 männliche Jugendliche/junge Erwachsene im Gefängnis von Erbil (kurdisches Gebiet im Irak) interviewt, die für terroristische Taten vor allem im Rahmen von ISIS verurteilt worden waren. <br />Zu Gewalterfahrungen in der Familie wurden acht Fragen gestellt. Im Durchschnitt hatten die Befragten 2,84 verschiedenen Formen von Gewalt in der Familie erlitten. Die drei häufigsten Formen der Gewalt wurden von den Autoren zahlenmäßig genannt: 81,4 % wurden geschlagen, 50,8 % wurden Zeuge, wie Familienmitglieder geschlagen wurden und ebenfalls 50,8% wurde gesagt, sie seien ein schlechter Sohn. Auch bzgl. der psychischen Situation der Befragten fand man Auffälligkeiten. 69.5% zeigten Kriterien für eine mögliche Posttraumatische Belastungsstörung und 89,8% für Depressionen. <br />Außerdem standen traumatische Erfahrungen in einem starken Zusammenhang zu von den Befragten selbst berichtetem Täterverhalten: “<i>We also found that history of victimization (war events, family violence and ISIS specifc events) was strongly correlated with perpetration events reported by the sample. This interaction could be possibly explained through the habituation to violence and the vicious cycle of violence</i>“ (Mohammed & Neuner 2022, S. 9).</p><p>In Frankreich fand eine Befragung von 150 Jugendlichen/jungen Erwachsenen, die sich islamistisch radikalisiert hatten und sich dem „Islamischen Staat“ anschließen wollten, statt (Oppetit et al. 2019).</p><p>Die Ergebnisse bzgl. Kindheitserfahrungen stellen sich wie folgt dar:</p><p>Körperliche Misshandlungen oder sexueller Missbrauch: 26,7 %</p><p>Vernachlässigung oder emotionale Misshandlungen: 85,3 %</p><p>Verlassenheitserfahrungen: 82 %</p><p>Sucht und Drogenmissbrauch eines Familienmitglieds: 32 % </p><p>Vergewaltigung oder Missbrauch eines Familienmitglieds: 16 %</p><p>Körperliche Misshandlung eines Familienmitglieds: 32 %</p><p>Depressionen eines Familienmitglieds: 40,7 %</p><p>Körperliche Gesundheitsprobleme eines Familienmitglieds: 27,3 %</p><p>Nina Käsehage hat 50 Dschihadistinnen aus Europa befragt. Sie fasst die Ergebnisse bzgl. der Kindheit der Befragten wie folgt zusammen: “<i>All of the women from my European sample had experienced violence in a psychological, physical or sexual way in their childhood and have found specific methods of channelling their negative experiences in order to feel »relief« or to »recover«</i>” (Käsehage 2020, S. 182). Aus Platzgründen bespricht sie in dem Artikel nur ein Fallbeispiel ausführlich zur Anschauung. Dabei werden vor allem auch Mehrfachbelastungen in der Kindheit deutlich. </p><p>In einem aktuelleren Artikel geht sie speziell auf die Kindheitserfahrungen von 20 Dschihadistinnen aus Deutschland ein (Käsehage 2023). Den Artikel habe ich <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2023/09/kindheiten-von-jungen-frauen-aus.html">hier im Blog</a> bereits besprochen. Die massiv traumatischen Kindheitserfahrungen der Befragten werden in dem Artikel überdeutlich. </p><p>Im Jahr 2024 wird Nina Käsehage das Buch „<i>Frauen im Dschihad: Salafismus als transnationale Bewegung</i>“ veröffentlichen. In dem Buch wird aus Befragungen von 60 Mädchen und jungen Frauen aus dem salafistisch-dschihadistischen Milieu in Europa eingegangen. Vermutlich werden die Kindheitshintergründe dort noch ausführlich ausgebreitet werden, als in den beiden zitierten Artikeln.</p><p><b><span style="font-size: medium;">Nur Einzelfälle?</span></b></p><p>Ich selbst habe für mein Buch einige Kindheiten von islamistischen Terroristen recherchiert (Fuchs 2019, S. 196-201): Ich fand schwere Belastungen in der Kindheit von <b>Osama bin Laden</b> (Anführer des Terrornetzwerks al-Qaida), <b>Zacarias Moussaoui </b>(Islamist, der ursprünglich für al-Qaida ein Flugzeug ins Weiße Haus lenken sollte), der <b>Brüder Chérif und Saïd Kouachi</b> (Anschlag auf Charlie Hebdo) <i>(siehe auch im Blog dazu <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2021/01/ein-reiner-albtraum-die-kindheiten-der.html">hier</a> und <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2015/01/anschlag-auf-charlie-hebdo-die-kindheit.html">hier</a>)</i>, <b>Youssef Zaghba</b> (islamistische Terroranschlag in London vom 03. Juni 2017), <b>Syed Farook</b> (islamistische Terroranschlag in San Bernardino, USA vom 2. Dezember 2015) <i>(siehe auch unten im Text) </i>und <b>Hasna Ait Boulahcen</b> (Islamistin und Cousine des Drahtziehers der Anschläge in Paris vom November 2015, die sich bei einem Polizeieinsatz selbst in die Luft sprengte). </p><p>Der islamistische Terroranschlag von San Bernardino (USA) wurde von einem Pärchen verübt, das danach auf der Flucht erschossen wurde. Über den Mann, <b>Syed Farook</b>, ist einiges bzgl. seiner Kindheit bekannt geworden. "<i>Etwas mehr wissen die Behörden über Seyd F. Der 28-Jährige hat ebenfalls pakistanische Eltern, wurde aber in den USA geboren. Er hatte eine schwierige Kindheit, sein Vater war Alkoholiker und quälte die Familie. In den Scheidungspapieren gab seine Mutter an, von ihrem Mann einmal vor ein Auto gestoßen worden zu sein</i>" (Medick 2015).</p><p>Die <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2020/03/kindheiten-und-lebenswege-von-zwei.html">Forschungsarbeit von Martin Schäuble</a> (2011) beinhaltet zwar nur zwei Fallbeispiele, allerdings glänzt die Arbeit durch eine unvergleichliche Tiefe und Ausführlichkeit bei der Biografieforschung. Umfassend werden die Lebenswege von <b>„Daniel“</b> (ein deutscher Konvertit, sich der Islamischen Dschihad Union anschloss und mit seinen Gesinnungsbrüdern, die in Deutschland unter dem Namen Sauerland-Gruppe bekannt sind, einen Anschlag plante) und <b>„Sa'ed“</b> (einem Palästinenser, der Teil der sogenannten Aqsa-Brigaden wurde und der schließlich einen Selbstmordanschlag in Jerusalem verübte) vorgestellt. Beide Extremisten sind in autoritären Elternhäusern aufgewachsen und haben diverse traumatische Erfahrungen in der Kindheit gemacht. </p><p><b>"Fatma"</b> ist mit einem Jihadisten der Sauerland-Gruppe verheiratet und war eine Schlüsselperson der virtuellen Welt des Jihadismus. Neben dem Fall „Daniel“ bekommen wir also einen ergänzenden Blick auf die Kindheit der Akteure des entsprechenden Netzwerks: Ihre Eltern trennten sich früh, die Mutter, mit der es offensichtlich viele Konflikte gab, war anschließend alleinerziehend. „<i>Von ihrer Mutter wurde sie streng, aber nicht religiös erzogen. Die Mutter scheint gewalttätig gegenüber ihrer Tochter gewesen zu sein</i>“ (Baehr 2020, S. 162).</p><p>Für eine klinische Studie wurde der Fall <b>"Lea"</b> ausführlich vorgestellt. Lea wurde vier Jahre lang seit ihrem siebzehnten Lebensjahr im Rahmen eines anderen Forschungsprojekts gefolgt. Lea radikalisierte sich islamistisch und zog in Erwägung, nach Syrien auszureisen und sich dem "Islamischen Staat" anzuschließen. Die traumatischen Kindheitsbedingungen werden recht ausführlich besprochen und an einer Stelle wie folgt zusammengefasst: "<i>In total, at the time of her radicalization, Lea is a 17-year old girl whose childhood was marked by early and repeated trauma such as neglect, physical and sexual abuse, humiliation combined with emotional deprivation and attachment disorders</i>" (Rolling et al. 2022, S. 4).</p><p>Der Fall <b>Harry M.</b> ist laut dem Autorenteam Dantschke et al. (2011) ein "typischer Fall" für eine Radikalisierung. Dazu gehört auch eine sehr destruktive Kindheit. Seinen Vater kenne er nicht, dieser habe die Familie verlassen, als Harry zwei Jahre alt war. Mit der Mutter gab es offenbar ständig Probleme; als Harry dreizehn Jahre alt war, schmiss sie ihn raus. "<i>Harry übernachtete mal hier, mal dort, schlug sich irgendwie durch</i>" (Dantschke et al. 2011, S. 74). Er nahm Drogen und Alkohol zu sich, um sich zu beruhigen. Mit 16 Jahren schmiss er die Schule und kam dann durch einen Schwager mit dem Islam in Verbindung. Verschiedene islamistische Prediger prägten in der Folge den jungen Mann für seinen weiteren Weg in die Radikalität.<br />In der Frankfurter Rundschau wird sein Leben wie folgt kurz beschrieben: „<i>Sein Werdegang im Schnelldurchlauf: Heimaufenthalte, Drogenexzesse, Blitzradikalisierung. Harry M. machte sich in der Salafistenszene schnell einen Namen</i>“ (Behr 2019). </p><p>Der als IS-Terrorist angeklagte <b>Kerim Marc B.</b> hat vor Gericht über seine Kindheit berichtet. <br />"<i>Sein Stiefvater habe ihn oft geschlagen und verprügelt, etwa wegen schlechter Schulnoten.</i> <i>Seine Mutter habe sein Gesicht auf Familienfotos herausgeschnitten. Bevor sie in Urlaub gefahren sei, habe sie ihn zu Verwandten gebracht. Er habe mit seinen Eltern nie über Gefühle sprechen können. Der Islam habe ihm in dieser Situation Halt gegeben. Der Gang zur Moschee sei eine Rebellion gegen sein Elternhaus gewesen</i>“ (Welt-Online 2016). </p><p>Der Münchner <b>Harun P.</b> (mit afghanischen Wurzeln) ist ca. Mitte 2015 wegen seiner Beteiligung am Terror in Syrien zu elf Jahren Haft verurteilt worden. Der Mann war der erste Syrien-Rückkehrer, der wegen Mordes vor einem deutschen Gericht stand. Im Prozessverlauf kamen auch Details über seine Kindheit an die Öffentlichkeit. Das Verhältnis zu seinem Vater beschreibt er so: „<i>Ich konnte es ihm nie Recht machen. Er war keine Bezugsperson für mich und machte alles schlecht, was ich tat</i>“. Und über die Mutter: „<i>Meine Mutter hat einige Stöcke auf mir zerbrochen. Ich habe als Kind auch gut eingesteckt</i>.“ (Thieme 2015). Als Kind sei er von seinem Vater so lange geschlagen worden, "<i>bis meine Mutter dazwischen ging</i>" (Focus-Online 2015). <br />In einer anderen Quelle wird formuliert: “H<i>arun’s parents were from Afghanistan, but he was born and raised in the wealthy city of Munich. Based on his testimony, Harun had a bad relationship with his father, who was very religious and often beat him. Harun also engaged in self-mutilation, `to relieve pressure,` cutting his arms so they required stitches</i>” (Hellmuth 2016, S. 33).<br />Dazu kamen weitere Problemlagen im Lebensverlauf (unschwer zu erkennen teils sicher auch mit seinen Kindheitserfahrungen verbunden): Er litt unter Depressionen, nahm Drogen, neigte zu Selbstverletzungen und nahm seit der Jugend auch fast täglich Schmerzmittel. Drei Berufsausbildungen scheiterten. Dazu kam ein weiteres traumatisches Erlebnis: Das gemeinsame Kind mit seiner Freundin starb kurz nach der Geburt (Focus-Online 2015; Thieme 2015). </p><p>Auch bei weiteren Einzelfall-Recherchen stieß ich auf deutlich belastete Kindheiten. So ist z.B. über <b>Arid Uka</b>, der am 02.03.2001 den ersten islamistischen Anschlag in Deutschland verübte, bekannt, dass er eine schwierige Kindheit hatte. Geboren im Kosovo erlebte er als Säugling die frühe Scheidung seiner Eltern, Auswanderung des Vaters zusammen mit dem Säugling nach Deutschland, jahrelange Trennung von der Mutter, Leben in relativer Armut, kaum Unterstützung im familiären Umfeld und in Jugend Erkrankung des Vaters mit anschließender Verschlechterung der eh schon prekären Verhältnisse (Ben Slama 2020, S. 338). Hinzu kam ein traumatisches Erlebnis als er sechs oder sieben Jahre alt war: Ein fremder Mann missbrauchte ihn sexuell in einem Park (Safferling et al. 2011).</p><p>Der frühere Musiker <b>Denis Cuspert</b>, der sich dem „Islamischen Staat“ anschloss, bekam medial viel Aufmerksamkeit. In einem Medienbericht wird deutlich, dass auch seine Kindheit belastet war: „<i>Eine behütete Jugend war es aber nicht, sondern eine, in der die Eltern ständig überfordert waren und es eine Mutter gab, die behauptete, ihre im Haus von der Polizei gefundenen Drogen gehörten dem eigenen Sohn. Wenn sie keine Lust auf Denis hatte, warf sie den Sohn einfach aus der Wohnung</i>“ (Krüger 2013). Seinen leiblichen Vater lernte Denis nie kennen. Mit dem Stiefvater gab es schwere Spannungen, so dass Denis selten zu Hause war. Er wurde später zum Gangmitglied und kriminell (Hellmuth 2016, S. 27f.). Jemaine, der Halb-Bruder von Denis, berichtet in einem Podcast von seinem Vater, dem Stiefvater von Denis „<i>Mein Vater war sehr sehr streng</i>“. Er sei gegenüber Denis strenger gewesen, als gegenüber ihm. Außerdem habe der Vater selbst eine „<i>sehr sehr harte Kindheit</i>“ gehabt. „<i>Was Du halt kennst ist für dich normal und so gibst du es weiter. Wir haben auch, ich und mein Bruder, haben auch kassiert, von meinem Vater. Wir haben auch kassiert</i>“ (funk – von ARD und ZDF 2022). Gemeint ist hier Gewalt! </p><p>Große Bekanntheit erreichte in Deutschland auch der ehemalige islamistische Prediger und Salafist <b>Sven Lau</b>. In seiner Autobiografie hat er deutlich über seine Kindheitsbelastungen geschrieben. Sein Vater prügelte ihn und auch die Mutter. Seine Mutter war noch ein Teenager, als sie mit Sven schwanger war und war dadurch wohl auch überfordert. Nach der Trennung sah Sven seinen Vater erst wieder im Alter von 18 Jahren. Es gab Phasen, in denen Sven kein Essen hatte, weil die ökonomische Situation der alleinerziehenden Mutter zu angespannt war. Ein späterer Stiefvater trennte sich ebenfalls wieder von seiner Mutter (Lau 2021, S. 16ff.). </p><p><b>Omar Mateen</b> (Massenmörder und Attentäter von Orlando), der sich vor seiner Tat zum „Islamischen Staat“ bekannte, hatte ebenfalls eine belastete Kindheit. Eine ehemalige Nachbarin sagte in einem Interview, dass Omar ein sehr rastloses und schwer zu kontrollierendes Kind gewesen sei. Seine Mutter habe ihn häufig geschlagen. „<i>She said that Mateen’s mother `used to slap him a lot` when he got too rambunctious</i>” (New York Daily News 2016). Aber auch der Vater schlug Mateen einmal vor aller Augen vor der Schule seines Sohnes ins Gesicht (Sullivan & Wan 2016). Ebenso gibt es Hinweise auf häusliche Gewalt im Hause Mateen. Omars Mutter wurde 2002 inhaftiert, weil sie gewalttätig gegen ihren Ehemann wurde (Montero 2016). In einem anderen Bericht wurde ebenfalls über die Inhaftierung der Mutter geschrieben. Omars Mutter habe allerdings ausgesagt, ihr Mann hätte gedroht, sie zu töten (Jones 2016). Welche der beiden Versionen auch immer stimmen mag, häusliche Gewalt war offenbar eine Realität.</p><p>Der ehemalige islamistische Extremist <b>Jesse Curtis Morton</b> (bis 2012 nannte er sich: Younus Abdullah Muhammad) sagte über seine Kindheit: “<i>I came from a very tumultuous childhood, where there was very severe abuse. And when I reached out to my society and tried to get assistance to stop that abuse, the school, my family, and the society around me didn't prevent it. And so, at a very young age, I rejected American culture and the American way of life, so to say, and sought a new identity</i>” (PBS NewsHour 2016). </p><p><b>Robert Baum</b> “<i>left for Egypt and Syria in fall 2012, together with his best friend, Christian Emde. He was from the small town of Solingen, where his father died of cancer shortly before Robert’s thirteenth birthday. Robert went on to complete Hauptschule and joined the German military when he was 17, but was discharged for disseminating right-wing extremist propaganda</i>” (Hellmuth 2016, S. 32). In diesem Fall wird das Trauma “Tod des Vaters“ deutlich, ergänzend auch früh die Lust am Militärischem und Extremismus. Weitere Infos über seine Kindheit fand ich leider nicht. </p><p><b>Harry S</b>. konvertierte zum Islam und radikalisierte sich, was schließlich zu seiner Ausreise in die Kampfgebiete nach Syrien führte. In Deutschland wurde er nach seiner Rückkehrt inhaftiert<i>. <br />"Harry did not experience the proverbial happy childhood. His Christian parents emigrated from Ghana to Germany, but separated once they settled in a blue-collar neighborhood of Bremen, a large city in Northern Germany. His American stepfather was arrested by German police when Harry was four years old. The biological father rejoined the family but regularly beat the children. Harry’s mom worked late hours. His older stepbrother was shot to death when Harry was a teenager</i>” (Hellmuth 2016, S. 37).</p><p><b>Abdullah al H. H</b>. kommt aus Syrien und hat sich in Deutschland dem "Islamischen Staat" zugewandt. Nach einem schweren Angriff auf ein schwules Paar (einer der beiden starb) stand er vor Gericht. Seine Kindheit wurde dort nicht ausführlich behandelt (vor allem auch was den elterlichen Erziehungsstil angeht, der in Syrien sehr oft gewaltbelastet ist), zeigt aber in eine deutlich belastete Richtung: <br />"<i>Mit seinen Eltern und acht Geschwistern lebte er in ärmlichen Verhältnissen in einem Vorort von Aleppo. Die Schule besuchte er bis zur fünften Klasse, früh fiel er durch Schlägereien und Diebstähle auf. 2015 schickte ihn sein Vater fort. Er solle sich ein Leben in Deutschland aufbauen, Geld für die Familie verdienen und die Eltern später nachholen. Abdullah al H. H. war 15 Jahre alt, als er seine Heimat verließ</i>" (Ramm 2021).</p><p><b>Colleen LaRose, "</b><i>a white woman from suburban Philadelphia who became a Muslim jihadist and has pleaded guilty to conspiracy to murder a Swedish cartoonist under the codename "Jihad Jane" has revealed that she was drawn to Islam because it gave her a sense of belonging after a troubled childhood in which she was raped over many years by her biological father</i>" (Pilkington 2012).</p><p><b>17-Jähriger aus Österreich</b>: Der Jugendliche war Anhänger vom "Islamischen Staat" und wollte eigenen Angaben zufolge am 11. September 2023 am Wiener Hauptbahnhof einen Terror-Anschlag verüben. Geplant war auch, dass er durch die Aktion ums Leben kommt. Eine Kinder- und Jugendpsychologin wies auf diverse traumatische Belastungen in der Kindheit des Angeklagten hin, darunter der Tod der Mutter als der junge Mann sechs Jahre alt war, Mobbingerfahrungen in der Schule, "ungünstige soziale Umstände" und "weitere Belastungsfaktoren" (Tiroler Tagesanzeiger 2023).</p><p>Die Kindheiten der <b>Brüder Merah</b> (islamistische Terroranschläge in Frankreich) habe ich <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2023/02/islamistischer-terror-die-kindheit-der.html">im Blog</a> bereits ausführlich besprochen und verweise an dieser Stelle darauf bzw. spare mir die erneute Ausführung hier. Auch die Kindheit des Top-Terroristen <b>Khalid Scheich Mohammed</b> habe ich <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2021/01/kindheit-des-top-terroristen-khalid.html">hier</a> besprochen. </p><p>Einzelfallanalysen sind Einzefallanalysen (ich habe wirklich lange über diesen Satz nachgedacht…). Aufhorchen sollten wir, wenn sich „Einzelfälle“ häufen, wie hier gezeigt. Noch mehr Gewicht bekommen die Einzelfälle, wenn die Studienlage bzgl. größerer Befragungsrunden oder Auswertungen zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt, auch das konnte hier gezeigt werden. </p><p><b><span style="font-size: medium;">Fazit</span></b></p><p><b>Es lässt sich also zusammenfassend sagen, dass destruktive Kindheitshintergründe bei islamistischen Extremisten/Terroristen ganz offensichtlich eine ähnliche große Rolle spielen, wie beim Rechtsextremismus </b> (siehe dazu auch:<b> </b><a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2020/09/kindheitsursprunge-von.html">Kindheitsursprünge von Rechtsextremismus: DIE gesammelten Studien</a>)<b>. </b>Die innerpsychischen Dynamiken scheinen „verwandt“ zu sein. Prävention von belastenden Kindheitserfahrungen (oder auch sozialpsychologische Hilfen für Kinder, die bereits solche Erfahrungen gemacht haben) sind demnach zentral, um auch dem islamistischen Extremismus und Terror zu entgegen. </p><p><b><span style="font-size: medium;"><span style="color: red;">Anhang:</span> Hatten Terroristen die vergleichsweise friedlichsten Kindheiten? Zwei Studien und meine Kritik dazu</span></b></p><p>Erwähnt werden muss auch eine Studie von Speckhard & Ellenberg (2020), die aufzeigte, dass IS-Terroristen die weltweit verglichen friedlichsten Kindheiten überhaupt hatten. Vor allem die männlichen Befragten zeigten bei allen möglichen Misshandlungswerten in der Kindheit Werte auf, die zwischen 0 und 1,7% lagen! Selbst in Schweden, das statistisch nachweisbar weltweit führend ist, wenn es um eine gewaltfreie Kindheit geht, findet man in der Allgemeinbevölkerung keine solch niedrigen Misshandlungsraten. Die Studie und ihre Methodik habe ich <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2021/04/neue-studie-zeigt-is-terroristen-sind.html">hier im Blog ausführlich kritisiert </a>und möchte dies nicht wiederholen. Ich halte es für einen Fehler der Autorinnen, dass sie diese Studie nicht selbstkritisch hinterfragt haben. Wer sich mit Daten über und dem Thema Kindesmisshandlung an sich auskennt, kann solche Ergebnisse nur anzweifeln. </p><p>Ähnlich kritisch sehe ich die Studie von Clemmow et al. (2020), die 125 “Lone-Actor“ Terroristen (verschiedene Extremismusrichtungen) und 2.108 Befragte aus der Allgemeinbevölkerung bzgl. verschiedenster Bereiche verglichen haben. Auch belastende Kindheitserfahrungen wurden verglichen. Die Allgemeinbevölkerung war deutlich belasteter in der Kindheit als die Terroristen! </p><p>Schaut man auf die Methodik, wird allerdings schnell klar, wodurch die großen Unterschiede kamen: Die Leute aus der Allgemeinbevölkerung wurden ausführlich und direkt befragt, <b>bzgl. der Terroristen gab es keine Befragungen</b>, man sammelte öffentlich zugängliche Datenquellen wie z.B. Gerichtsberichte oder Medienberichte. Bei einem so sensiblen Bereich wie Kindesmisshandlung ist es nur logisch, dass hier unterschiedliche Ergebnisse zu Tage treten! Auch diese Studie habe ich <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2022/03/studienergebnis-vergleichsweise.html">hier im Blog</a> bereits ausführlich besprochen.</p><p>Beide Studien zeigen auf, dass bzgl. des Themas belastende Kindheitserfahrungen ein geschulter Blick wichtig ist, um Ergebnisse auch richtig darstellen und einordnen zu können. (siehe ergänzend und zur Info auch meinen Text: <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2020/06/verklart-beschonigt-verdrangt.html">Verklärt, beschönigt, verdrängt: Kindheiten von Gewalttätern und Extremisten. Eine Mahnung an die Forschung</a>)</p><p> </p><p><br /></p><p><b><span style="font-size: medium;">Quellenverzeichnis</span></b></p><p>Baehr, D. (2020). Die Rolle des Internets im Radikalisierungsprozess einer jihadistischen Straftäterin – eine Einzelfallstudie. <i>Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik</i>, 13, S.151–175. <a href="https://doi.org/10.1007/s12399-020-00812-x">https://doi.org/10.1007/s12399-020-00812-x</a></p><p>Behr, S. (2019, 04. Jan.). "Wir leben hier ja nicht in einem Kalifat". <i>Frankfurter Rundschau</i>. <a href="https://www.fr.de/rhein-main/wir-leben-hier-nicht-einem-kalifat-10965806.html">https://www.fr.de/rhein-main/wir-leben-hier-nicht-einem-kalifat-10965806.html</a></p><p>Ben Slama, B. (2020). Die psychologische Dimension von Radikalität, Extremismus und Terrorismus. In: Ben Slama, B. & Kemmesies, U. (Hrsg.). <i>Handbuch Extremismusprävention. Gesamtgesellschaftlich - Phänomenübergreifend. Bundeskriminalamt</i> (Polizei+Forschung, Band Nr. 54).</p><p>Bundeskriminalamt, Bundesamt für Verfassungsschutz & Hessisches Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus (2016). Analyse der Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die aus islamistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien oder Irak ausgereist sind. Fortschreibung 2016. <a href="https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Publikationsreihen/Forschungsergebnisse/2016AnalyseRadikalisierungsgruendeSyrienIrakAusreisende.html?nn=27638">https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Publikationsreihen/Forschungsergebnisse/2016AnalyseRadikalisierungsgruendeSyrienIrakAusreisende.html?nn=27638</a>. </p><p>Clemmow, C., Schumann, S., Salman, N. L., & Gill, P. (2020). The Base Rate Study: Developing Base Rates for Risk Factors and Indicators for Engagement in Violent Extremism. J<i>ournal of Forensic Sciences</i>. Vol. 65, No. 3, S. 865-881.</p><p>Dantschke, C.; Mansour, A., Müller, J. & Serbest, Y. (2011). "Ich lebe nur für Allah". Argumente und Anziehungskraft des Salafismus. Eine Handreichung für Pädagogik, Jugend- und Sozialarbeit, Familien und Politik. ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH, Berlin.</p><p>deMause, L. (2002). The childhood origins of terrorism. <i>The Journal of Psychohistory</i>, 29(4), S. 340–348.</p><p>El-Khodary, B., Samara, M. & Askew, C. (2020). Traumatic Events and PTSD Among Palestinian Children and Adolescents: The Effect of Demographic and Socioeconomic Factors. <i>Front Psychiatry</i>. 11(4). doi: 10.3389/fpsyt.2020.00004 <a href="https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7137754/">https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7137754/</a></p><p>Focus-Online (2015, 20. Jan.). Dschihadisten-Prozess in München - "Dann explodiere ich einfach": Harun P. erklärt den Terror in sich. <a href="https://www.focus.de/politik/deutschland/mutmasslicher-terrorhelfer-vor-gericht-hass-auf-alles-das-leben-des-harun-p_id_4418405.html">https://www.focus.de/politik/deutschland/mutmasslicher-terrorhelfer-vor-gericht-hass-auf-alles-das-leben-des-harun-p_id_4418405.html</a></p><p>Fuchs, S. (2019). Die Kindheit ist politisch! Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen. Mattes Verlag, Heidelberg.</p><p>funk – von ARD und ZDF (2022, 24. März). Deso – Der Rapper, der zum IS ging. #2 Der große Bruder. Produziert von ACB Stories und Qzeng Productions. <a href="https://www.ardaudiothek.de/episode/deso-der-rapper-der-zum-is-ging/2-der-grosse-bruder/funk/10386611/">https://www.ardaudiothek.de/episode/deso-der-rapper-der-zum-is-ging/2-der-grosse-bruder/funk/10386611/</a></p><p>Glaser, M., Herding, M. & Langer, J. (2018). 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Terror-Prozess: "Ich wollte Teil des Heiligen Krieges sein“ <a href="http://www.tz.de/muenchen/stadt/terror-prozess-muenchen-harun-p-auftrag-terroristen-unterwegs-tz-4658405.html">http://www.tz.de/muenchen/stadt/terror-prozess-muenchen-harun-p-auftrag-terroristen-unterwegs-tz-4658405.html</a></p><p>Van Leyenhorst, M. & Andres, A. (2017). Dutch Suspects of Terrorist Activity: A Study of Their Biographical Backgrounds Based on Primary Sources. Journal for Deradicalisation, Nr. 12, ISSN: 2363-9849, S. 309-344. <a href="https://www.researchgate.net/publication/332414215_Dutch_Suspects_of_Terrorist_Activity_A_Study_of_Their_Biographical_Backgrounds_Based_on_Primary_Sources">https://www.researchgate.net/publication/332414215_Dutch_Suspects_of_Terrorist_Activity_A_Study_of_Their_Biographical_Backgrounds_Based_on_Primary_Sources</a></p><p>Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen (2011). Konvertiten – im Fokus des Verfassungsschutzes? Ministerium für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf. S. 44-48 (veröffentlicher Teil eines offensichtlich unveröffentlichten, umfangreichen Verfassungsschutzberichtes) <a href="https://e-pflicht.ub.uni-duesseldorf.de/download/pdf/79501?originalFilename=true">https://e-pflicht.ub.uni-duesseldorf.de/download/pdf/79501?originalFilename=true</a>. </p><p>Welt-Online (2016, 14. März). Mutmaßlicher IS-Terrorist spricht von schwerer Kindheit. <a href="https://www.welt.de/regionales/nrw/article153257393/Mutmasslicher-IS-Terrorist-spricht-von-schwerer-Kindheit.html">https://www.welt.de/regionales/nrw/article153257393/Mutmasslicher-IS-Terrorist-spricht-von-schwerer-Kindheit.html</a></p>Unknownnoreply@blogger.com1tag:blogger.com,1999:blog-16293711446370484.post-65923909033528600242023-11-05T13:18:00.011+01:002024-01-12T16:35:26.273+01:00Kindheit in Gaza und der nie enden wollende Krieg und Terror<p><span style="color: red;">(aktualisiert: 12.01.2024)</span></p><p><br /></p><p>Erinnert dieser Blogtitel jemanden an etwas? Ja richtig, ich habe den Titel an meinen Blogbeitrag "<a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2021/08/kindheit-in-afghanistan-und-der-nie.html"><b>Kindheit in Afghanistan und der nie enden wollende Krieg und Terror</b></a>" aus dem Jahr 2021 angelehnt. Ich halte es für keinen Zufall, dass die Krisenregionen dieser Welt stets auch ein alptraumhaftes Bild bzgl. der Situation von Kindern aufweisen. </p><p>Kinder werden in Gaza und auch den anderen Gebieten der Palästinenser in der Region extrem häufig belastet und traumatisiert. Wer meine Arbeit kennt, der weiß, worauf ich hinaus will: Denn die Kindheit ist politisch! </p><p>Das bedeutet, dass belastenden Kindheitserfahrungen politisch höchst destruktive Wirkungen haben <i>können</i>. Dazu gehört u.a. auch eine besondere Anfälligkeit für Extremismus, Radikalisierung und Terror (vor allem auch für Jungen/Männern), aber auch Folgen bzgl. der Organisation und politischen Führung eines ganzen Landes. </p><p>Es ist nicht das erste Mal, dass ich über die palästinensischen Gebiete etwas schreibe (siehe hier: "<a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2014/07/gewalt-gegen-kinder-in-israel-und.html">Gewalt gegen Kinder in Israel und Palästina. Ein Zusammenhang zur irrationalen politischen Gewalt?</a>"). Dies möchte ich heute mit einigen Daten auffrischen. </p><p>In einer großen UNICEF-Studie wurden viele Länder bzgl. der Situation von Kindern miteinander verglichen. Die Studie zeigte, dass in den palästinensischen Gebieten die besonders <b>sensible Gruppe der ein Jahr alten Kinder</b> zu über 85% innerhalb von vier Wochen körperliche und/oder psychische Gewalt durch Erziehungspersonen erleben, <b>der höchste Wert der Vergleichsauswertung</b> (UNICEF - United Nations Children’s Fund 2017, S. 27).</p><p>Der aktuellste MICS-Report von UNICEF zeigt für die palästinensischen Gebiete (Auswertung bzgl. <b>16.387 Kindern zwischen einem und vierzehn Jahren</b>), dass <b>innerhalb von vier Wochen</b> 87,5% aller Kinder psychische Gewalt, 69,15% körperliche Gewalt und 20,1% besonders schwere körperliche Gewalt durch Erziehungspersonen erleben. Rein gewaltfreie Methoden der Disziplinierung innerhalb der Familie erleben nur 7,4% aller Kinder (Palestinian Central Bureau of Statistics & UNICEF 2021, S. 230).</p><p>Der spezielle MICS-Report "<i>Palestinian Camps and Gatherings in Lebanon</i>" von UNICEF ist hier ebenfalls von Interesse. Die palästinensischen Flüchtlingskinder im Libanon erleben ähnlich hohe Raten von Gewalt wie im vorherigen MICS-Report gezeigt. <br />Auszugsweise möchte ich den Blick auf die sensible Altersgruppe der <b>zwei bis vier Jahre alten Kinder</b> lenken. Innerhalb von vier Wochen erleben 85,6 % dieser Kinder psychische Gewalt, 76,6% körperliche Gewalt und 20,4% besonders schwere körperliche Gewalt durch Erziehungspersonen. Rein gewaltfreie Methoden der Disziplinierung innerhalb der Familie erleben nur 6,6% aller Kinder dieser sensiblen Altersgruppe (Palestinian Central Bureau of Statistics & UNICEF 2012, S. 126).</p><p><b>Interessant ist auch der Vergleich zwischen der Westbank und Gaza</b>. In der Westbank erleben demnach 20,6% der Jungen und 13,7% der Mädchen (im Alter zwischen null und elf Jahren) innerhalb eines Jahres schwere körperliche Gewalt durch Erziehungspersonen. In Gaza sind die Gewaltraten deutlich höher: Dort erleben 33,4% der Jungen und 24,7% der Mädchen schwere körperliche Gewalt (Palestinian Central Bureau of Statistics 2019, S. 29).</p><p>Auch die Gesetzeslage in der Region ist sehr rückständig, in den meisten gesellschaftlichen Bereichen sind Körperstrafen gegen Kinder erlaubt. Prohibition of corporal punishment “<i>is still to be achieved in the home, alternative care settings, day care, some schools and possibly some penal institutions and as a sentence for crime</i>” (End Corporal Punishment 2021).</p><p>Im Jahr 2021 wurden Daten von 772 schwangeren palästinensischen Flüchtlingsfrauen, die in fünf Geburtskliniken in Jordanien behandelt wurden, ausgewertet. 88% der Befragten erlebten mindestens eine Form von belastenden Kindheitserfahrungen (<i>Adverse Childhood Experiences </i>- ACEs). 26% erlebten vier oder mehr Formen von ACEs (Horino et al. 2023). Mehrere ACEs-Werte standen der Studie nach in einem Zusammenhang mit Fettleibigkeit, psychischen Erkrankungen und Rauchen.</p><p>Auch wenn zumindest in den meisten dortigen Schulen Körperstrafen gegen Schüler verboten sind, heißt dies nicht, dass die Lehrkräfte sich alle daran halten. Beispielsweise erlebten 10 % der Mädchen und 41% der Jungen (Alter zwischen zwölf und siebzehn Jahren) im Gaza-Streifen innerhalb eines Jahres körperliche Gewalt durch eine Lehrkraft. Ergänzend erlebten 10% der Mädchen und 24% der Jungen psychische Gewalt durch eine Lehrkraft (Palestinian Central Bureau of Statistics 2019, S. 18).<br />Hinzurechnen muss man die Kinder, die Zeugen dieser Gewalt durch Lehrkräfte werden. Auch Zeugenschaft kann schädigende Folgen haben und vermittelt auch ein Gefühl, in der Schule keinen sicheren Ort zu haben. </p><p>Die Schule ist in Gaza zudem ein Ort, an dem eine ideologische Indoktrination stattfindet; organisiert von der Terrorgruppe Hamas, die dort alle Lehrerverbände und Gewerkschaften kontrolliert. "<i>Terroranschläge werden im Unterricht als notwendiges Mittel im gewaltsamen Kampf für die Befreiung Palästinas thematisiert. (...) Das Bus-Attentat von 1978 unter der Leitung von Dalal al-Mughrabi (Kommandantin einer Gruppe von Fatah-Terroristen), bei dem 38 Zivilisten ums Leben kamen, wird in der fünften Klasse behandelt. Dabei dient Mughrabi als nachahmenswertes Vorbild. Dies sind nur einige Beispiele einer Reihe von ähnlichen Fundstellen in aktuellen Schulbuchausgaben</i>" (Goldstein 2021). <br />Gewalt und Hass kennen diese Schüler und Schülerinnen schon reichlich aus ihrem Leben und aus eigener Erfahrung. Der Hamas-Lehrplan gibt diesen so geprägten (oft traumatisierten) Kindern ein Ziel vor, auf das sie ihren Hass kanalisieren können (anstatt die eigenen Eltern, Lehrer und Nachbarn anzuklagen). <br />Tausende Jugendliche werden zusätzlich militärisch in "Sommercamps" von der Hamas ausgebildet. Zum Training gehöre der Umgang mit Granaten, Sprengsätzen und Sturmgewehren (Rössler 2015). Der emotionalen "Aufrüstung" (durch belastende Erfahrungen) folgt also eine handfeste, militärische Aufrüstung, woraus nichts Gutes entstehen kann. Die ideologische Indoktrination stellt eindeutig eine besondere Form von Kindesmissbrauch dar. <br />Teils gibt es auch Einzelberichte über massive Traumatisierungen von Kindern in Ausbildungslagern der Hamas. Yaron Abraham, "<i>a former Hamas terrorist-in-training told an Israeli news station of his brutal upbringing — including watching other children being beheaded and being forced to lie in graves to practice being a martyr — as he was indoctrinated by Hamas in Gaza during his childhood" </i>(Pearce 2023)<i>. </i>Die Ausbildung dort würde die Kinder auf den Tod im Kampf vorbereiten. </p><p>Einen sicheren Ort finden die Kinder (zwölf bis siebzehn Jahre alt) auch draußen auf den Straßen oftmals nicht. 10% der Mädchen und 52% der Jungen erleben innerhalb eines Jahres auf den Straßen von Gaza Gewalt durch Andere (Palestinian Central Bureau of Statistics 2019, S. 17).</p><p>Und wo wir gerade beim Thema Zeugenschaft waren: 26% der Frauen in Gaza, die verheiratet sind oder jemals verheiratet waren, erlebten innerhalb eines Jahres körperliche Gewalt durch ihren Ehemann, 11% erlebten im gleichen Zeitraum sexuelle Gewalt und 64% psychische Gewalt. Aber auch Ehemänner erleben – nach Angaben der Frauen - Gewalt durch ihre Ehefrauen: 37% der Männer in Gaza erlebten innerhalb eines Jahres psychische Gewalt und 14% körperliche Gewalt (Palestinian Central Bureau of Statistics 2019, S. 20, 33). Sofern Kinder im Haushalt diese Gewalt mitbekommen, stellt dies eine enorme Belastung auch für die Kinder dar.</p><p>Was in den vielen Statistiken (obigen Angaben sind nur einige Auszüge) des Palestinian Central Bureau of Statistics (2019) auffällt ist, dass die Menschen im Gaza-Streifen durchweg in allen Gewaltbereichen häufiger betroffen sind, als die Menschen in der Westbank. Wenn es um Gewalt gegen Kinder geht, fällt zudem auf, dass Jungen i.d.R. häufiger Gewalt erleben, als Mädchen (dies gilt auch für die Westbank). Beide Sachverhalte könnten eine Rolle bei der Analyse von Gewalt in der Region spielen, auch was Unterschiede zwischen z.B. politischer Gewalt in Gaza und der Westbank angeht. </p><p><b>Dazu kommen die Erlebnisse von Gewalt, Krieg und Terror außerhalb der Familie.</b><br />So fand man nach einer Befragung von 607 Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Gaza-Streifen heraus, dass 97,2% der Befragten bis zum Jahr 2006 mindestens sechs traumatische Erlebnisse im Zusammenhang mit kriegerischen Ereignissen gemacht hatten and 100% der Befragten hatten mindesten 21 solch traumatische Erlebnisse bis zum Jahr 2021 erlebt (Mohamed et al. 2023). Entsprechend hoch waren auch die Anzeichen für eine Posttraumatische Belastungsstörung. </p><p>Im Jahr 2013 wurden 1029 Schulkinder im Alter zwischen elf und siebzehn Jahren im Gazastreifen befragt. Jedes Kind hatte mindestens ein traumatisches Erlebnis in Zusammenhang mit kriegerischen Ereignissen gemacht. 88,3% hatten direkte traumatische Erfahrungen, 83,7% wurden Zeugen von traumatischen Erfahrungen anderer Menschen und 88.2% wurden Zeugen von Zerstörungen durch den Krieg. 54% der befragten Schüler trafen die Kriterien für eine Posttraumatische Belastungsstörung (El-Khodary 2020). </p><p>Im Jahr 2010 wurden 449 Kinder im Gaza-Streifen befragt. Die Kinder hatten im Durchschnitt ca. 3,6 unterschiedliche traumatische Erfahrungen im Zusammenhang mit Krieg gemacht. 12.4% trafen deutlich die Kriterien für eine Posttraumatische Belastungsstörung, ca. ein Drittel trafen teilweise die Kriterien einer Posttraumatische Belastungsstörung, 20,5% hatten Angststörungen und 22,3% zeigten Depressionen (Azis et al. 2015).</p><p>Armut, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und weitere Problemlagen in dieser Region sind hinreichend bekannt und nicht minder folgenreich. </p><p><b>Solche Gesellschaften sind tief traumatisierte Gesellschaften</b>. Trotzdem wird nicht die Mehrheit der Menschen dort zu Terroristen (tatsächlich dürften die meisten negativen Folgen im körperlichen und psychischen Gesundheitsbereich auszumachen sein), aber die Wahrscheinlichkeiten dafür steigen. Diese "Trauma-Täter" sind es dann, die grauenvolle Taten begehen. </p><p>Ihre Taten werden nur auf Basis eines abgespaltenen, entfremdeten Selbst möglich (Gruen 2002). Mitgefühl ist dann nicht mehr möglich. Ohne das Fühlen sind Menschen zu allen erdenklichen Taten fähig. Es sind keine „Barbaren“ oder „menschlichen Tiere“ (wie wir so oft in den Medien lesen konnten), die Israel mit Folter, Tod und Grauen überzogen haben. Es sind Menschen mit einer Trauma-Geschichte; Menschen, die ihre menschlichen Gefühle verloren haben und in absoluten Hass abgeglitten sind. Und ja, es sind Täter, die trotzdem voll für ihre Taten verantwortlich sind. Ihre Traumageschichte entschuldigt nichts!<br />Und ja, solche „Trauma-Täter“ müssen gestoppt werden, denn ihre Entwicklung ist abgeschlossen und unter den Umständen vor Ort wohl nicht mehr rückgängig zu machen bzw. bzgl. Hassgefühlen abzumildern.</p><p>Ich plädiere an dieser Stelle eindringlich dafür, die von Israel gefangen genommen Hamas-Terroristen später ausführlich bzgl. traumatischen Erfahrungen (vor allem auch in der Kindheit) zu befragen. Die Ergebnisse werden sicher aufschlussreich sein, auch bzgl. der langfristigen Prävention. </p><p>Fataler Weise überzieht das israelische Militär in seiner aktuellen Reaktion und Terrorabwehr neben Hamas-Terroristen auch die Bevölkerung in Gaza, dabei vor allem auch die Kinder, mit neuen schweren Traumaerfahrungen. Gepaart mit den Gewalterfahrungen in den Familien, Schule und Nachbarschaft entsteht heute in Gaza die neue Trauma-Generation, die morgen eine traumatisierte Gesellschaft bilden und gestalten wird. Der Kreislauf schließt sich erneut... </p><p><b>Die kriegerischen Ereignisse vor Ort füllen aktuell den Nährboden für Terrorismus und Hass enorm auf</b>.</p><p>Von manchen Experten hörte ich sagen, dass die Mentalität vor Ort eine andere sei und die radikalisierten Kreise keine harte Reaktion mit Schwäche gleichsetzen würden. Das mag so sein oder auch nicht. Bzgl. der sachlichen Traumanalyse bleiben alle politischen Überlegungen an dieser Stelle irrelevant. Denn Menschen sind überall gleich, wenn es um mögliche Traumafolgen geht. Eine „harte Reaktion“ bedingt vielfache neue Traumatisierungen und schürt die Gefühlskälte und den Hass, denen es langfristig ja eigentlich zu entgegen gilt. Dies bleibt, wie auch immer man die politische Lage vor Ort einordnen mag, eine Tatsache. </p><p>Die neuen Kriegstraumatisierungen werden zudem auch transgenerational weitergegeben. Kriegstraumatisierte Menschen haben keine guten Ausgangsbedingungen dafür, besonders gute, herzliche und fürsorgliche Eltern zu werden. "Blitzableiter" werden in vielen Fällen erneut die Kinder sein. </p><p>Abschließend noch der <b>Hinweis auf den Fall</b> "<b>Sa'ed“</b> (einem Palästinenser, der Teil der sogenannten <i>Aqsa</i>-Brigaden wurde und der schließlich einen Selbstmordanschlag in Jerusalem verübte). Sein Fall zeigt genau diese Kombination von Belastungen bzw. kumulierte Trauma-Erfahrungen (Familie, Umfeld + Kriegserlebnisse) auf, die schließlich in die Radikalisierung führten. Seinen Fall habe ich <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2020/03/kindheiten-und-lebenswege-von-zwei.html">hier im Blog</a> bereits ausführlich besprochen. </p><p>Dieser Text steht außerdem in einer Linie mit dem Text "<a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2023/11/kindheit-und-islamistischer.html">Kindheit und islamistischer Extremismus/Terrorismus - eine Übersicht</a>", den ich zeitgleich veröffentliche. </p><p><br /></p><p><b><span style="font-size: medium;">Quellen:</span></b></p><p>Azis, A., Thabet, M. & Vostanis, P. (2015). <a href="https://www.researchgate.net/publication/266684857_Impact_of_Trauma_on_Palestinian_Children%27s_and_the_Role_of_Coping_Strategies" target="_blank">Impact of Trauma on Palestinian Children’s and the Role of Coping Strategies</a>. <i>British Journal of Medicine & Medical Research</i>, 5(3), S. 330-340.</p><p>El-Khodary, B., Samara, M. & Askew, C. (2020). Traumatic Events and PTSD Among Palestinian Children and Adolescents: The Effect of Demographic and Socioeconomic Factors. <i>Front Psychiatry</i>. 11(4). doi: 10.3389/fpsyt.2020.00004 <a href="https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7137754/">https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7137754/</a></p><p>End Corporal Punishment (2021). Corporal punishment of children in the State of Palestine. <a href="http://www.endcorporalpunishment.org/wp-content/uploads/country-reports/StateOfPalestine.pdf">http://www.endcorporalpunishment.org/wp-content/uploads/country-reports/StateOfPalestine.pdf</a></p><p>Goldstein, T. (2021, 02. Mai). <a href="https://www.welt.de/debatte/kommentare/article230577485/Palaestinensische-Schueler-lernen-Hass-und-Gewalt-mit-deutschen-Geldern.html" target="_blank">Palästinensische Schüler lernen Hass und Gewalt – mit deutschen Geldern</a>. Welt-Online. </p><p>Gruen, A. (2002). Der Fremde in uns. Deutscher Taschenbuchverlag, München.</p><p>Horino, M., Abu-Rmeileh, N.M.E., Yang, W., Albaik, S., Al-Kathib & Seita, A. (2023). Exploring the link between adverse childhood experiences and mental and physical health conditions in pregnant Palestine refugee women in Jordan. <i>Public Health</i>, Volume 220, S. 179-186. <a href="https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0033350623001531?via%3Dihub">https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0033350623001531?via%3Dihub</a></p><p>Mohamed, A. S. A., El-Asam, A. & Khadaroo, A. (2023). Impact of chronic war trauma exposure on PTSD diagnosis from 2006 -2021: a longitudinal study in Palestine. <i>Middle East Current Psychiatry</i>, 30(14), S. 1-8. <a href="https://mecp.springeropen.com/articles/10.1186/s43045-023-00286-5">https://mecp.springeropen.com/articles/10.1186/s43045-023-00286-5</a></p><p>Palestinian Central Bureau of Statistics & UNICEF (2012). <a href="https://mics-surveys-prod.s3.amazonaws.com/MICS4/Middle%20East%20and%20North%20Africa/Lebanon%20%28Palestinians%29/2011/Final/English.pdf?utm_campaign=MICS%20Notification%20-%20January%202024&utm_medium=email&utm_source=Mailjet" target="_blank">Final Report of the Multiple Indicator Cluster Survey in the Palestinian camps and gatherings in Lebanon in 2011</a>. Ramallah – Palestine.</p><p>Palestinian Central Bureau of Statistics (2019). Preliminary Results of the Violence Survey in the Palestinian Society 2019. Ramallah – Palestine. <a href="https://palestine.unfpa.org/sites/default/files/pub-pdf/violence_survey_preliminary_results_2019.pdf">https://palestine.unfpa.org/sites/default/files/pub-pdf/violence_survey_preliminary_results_2019.pdf</a></p><p>Palestinian Central Bureau of Statistics & UNICEF (2021). <a href="https://www.unicef.org/sop/media/1736/file/MICS%202019-2020.pdf" target="_blank">Palestinian Multiple Indicator Cluster Survey 2019-2020, Survey Findings Report</a>. Ramallah, Palestine.</p><p>Pearce, T. (2023, 10. Nov.). Man Raised By Hamas Tells Horrifying Story Of Their Brutal Indoctrination. Daily Wire. <a href="https://www.dailywire.com/news/man-raised-by-hamas-tells-horrifying-story-of-their-brutal-indoctrination " target="_blank">https://www.dailywire.com/news/man-raised-by-hamas-tells-horrifying-story-of-their-brutal-indoctrination </a></p><p>Rössler, H.C. (2015, 01. Feb). GAZA - Tausende Jugendliche trainieren für den Krieg. FAZ.net. <a href="https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/gaza-streifen-tausende-trainieren-fuer-den-krieg-13399720.html">https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/gaza-streifen-tausende-trainieren-fuer-den-krieg-13399720.html</a></p><p>UNICEF - United Nations Children’s Fund (2017). <a href="https://www.unicef.org/reports/familiar-face" target="_blank">A familiar face: violence in the lives of children and adolescents</a>. New York.</p><div><br /></div><p><br /></p>Unknownnoreply@blogger.com2tag:blogger.com,1999:blog-16293711446370484.post-33730032325325761022023-10-20T15:27:00.001+02:002023-10-21T07:01:47.103+02:00Kindheit von Joe Biden<p>Über die Kindheit von US-Präsident Joe Biden fand ich den verwendeten Quellen nicht all zu viele Informationen, die es hier hervorzuheben gilt. </p><p>Ich bin ja bekanntlich jemand, der eher auf belastende Kindheitserfahrungen fokussiert ist, gerade auch bei politischen Führern. Joe Biden sticht allerdings als Person und Präsident nicht gerade durch eine derartige Destruktivität hervor, wie sie einige seiner Vorgänger gezeigt haben. Insofern hatte ich persönlich auch nicht damit gerechnet, eine hoch traumatische und gewaltbelastete Kindheit bei ihm zu finden, wie ich sie z.B. bei <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2019/07/die-kindheit-von-donald-trump.html">Donald Trump</a> oder <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2008/10/31-ein-kurzer-abriss-ber-diktatoren-und.html">George W. Bush</a> fand. </p><p>Joe Biden wurde 1942 in den USA geboren. Beide Sachverhalte (Sitten der damaligen Zeit und hohe Gewaltbelastungen – auch heute noch - vieler amerikanischer Kinder) erhöhen i.d.R. allein statistisch die Wahrscheinlichkeit für Belastungen in der Kindheit. Darunter zähle ich u.a. die Wahrscheinlichkeit, von den eigenen Eltern Prügelstrafen verabreicht bekommen zu haben. Nun, wir werden sogleich sehen, was ich fand. </p><p>Einige Belastungen fielen mir in der Tat ins Auge. Biden war sein Leben lang Abstinenzler. „<i>Er erklärt das damit, dass es in seiner Familie zu viele Alkoholiker gegeben habe. Als Heranwachsender teilte er sich ein Zimmer mit dem Bruder seiner Mutter und erinnert sich daran, dass er und seine Geschwister `schon als Kind bemerkten, dass Onkel Boo-Boo ein bisschen zu viel trank</i>`“ (Osnos 2020, S. 45).<br /></p><p>„<i>Die bedeutsamste Kindheitserfahrung Joe Bidens war die, mit einem Stottern aufzuwachsen</i>“ (Osnos 2020, S. 56). O-Ton „<i>Ich kann mich derart lebhaft an die quälende Angst, die Scham, die ohnmächtige Wut erinnern, dass es sich anfühlt, als hätte ich es vor wenigen Augenblicken erlebt</i>“ (Osnos 2020, S. 56.) Andere Kinder betrachteten ihn als zurückgeblieben und betitelten ihn mit Spitznamen. </p><p>Einmal machte sich sogar eine Lehrerin (eine Nonne) vor der Klasse über sein Stottern lustig. Joe verließ wütend den Unterricht und ging einfach nach Hause. Dort empfing ihn bereits seine Mutter, die durch die Schule von seinem Weglaufen informiert worden war. Sie fuhr mit ihrem Sohn zur Schule und stellte die Lehrerin zur Rede. Als diese den Sachverhalt zugab, sagte die Mutter: „<i>If you ever speak to my son like that again, I´ll come back and rip that bonnet off your head. Do you understand me?</i>” (Witcover 2010, S. 20). Danach schickte sie ihren Sohn wieder zurück in seine Schulklasse. Eine eindrucksvolle Bestätigung von dem familiären Zusammenhalt und den moralischen Prinzipien in der Familie Biden. Joe lernte schließlich im Laufe der Zeit, sein Stottern unter Kontrolle zu bekommen. </p><p>Die Geschwisterkinder der Familie Biden waren sehr eng miteinander verbunden, klärten Konflikte untereinander und passten aufeinander auf (Witcover 2010, S. 15f.). Auch insgesamt entstand bei mir beim Lesen der Quellen der Eindruck, dass diese Familie zusammenhielt und sich gerne mit anderen Menschen austauschte und in Verbindung stand. </p><p>Valerie Biden Owens, die jüngere Schwester von Joe Biden, sagte über die gemeinsamen Eltern: <br />„<i>Each had a backbone of steel. They were principled people. My parents tried to teach about basic decency and basic justice, and sometimes we got it and sometimes we didn`t. My parents never hit us</i>” (Witcover 2010, S. 16). </p><p>Dies ist die für mich größte Überraschung bzgl. der Kindheit von Joe Biden: Seine Eltern wendeten überhaupt keine Körperstrafen gegen die Kinder an. Damit gehörten die Biden-Kinder zu einer wirklich sehr kleinen Minderheit ihrer Generation in den USA, die Zuhause gewaltfrei aufwachsen durfte! </p><p><b>Quellen:</b></p><p>Osnos, E. (2020). Joe Biden. Ein Porträt. Suhrkamp, Berlin.</p><p>Witcover, J. (2010). Joe Biden. A Life of Trial and Redemption. Harper Collins, New York.</p><div><br /></div>Unknownnoreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-16293711446370484.post-16037883308810470352023-09-08T17:08:00.001+02:002023-09-08T17:14:34.183+02:00Kindheiten von jungen Frauen aus jihadistischen bzw. salafistischen Gruppen<p>Nina Käsehage ist in einem aktuellen Beitrag erneut auf die destruktiven Kindheiten von Mädchen und jungen Frauen (Alter 15 bis 21 Jahre), die Mitglieder von jihadistsichen bzw. salafistischen Gruppen in Deutschland sind, eingegangen:</p><p><b>Käsehage, N. (2023). Jihadistische Sozialisationsprozesse junger Mädchen aus gewaltaffinen Milieus. In: Langer, J., Zschach, M., Schott, M. & Weigelt, I. (Hrsg.). <i>Jugend und islamistischer Extremismus: Pädagogik im Spannungsfeld von Radikalisierung und Distanzierung</i>. <br />Verlag Barbara Budrich, Opladen - Berlin - Toronto. Kindle E-Book Version. S. 147- 164. </b></p><p>Ich hatte bereits <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2022/04/studie-kindheiten-von-50-weiblichen.html">in einem Blogbeitrag</a> eine andere Arbeit von Käsehage besprochen, innerhalb der es um 50 junge Frauen aus Europa ging. Ob diese 20 Fälle aus Deutschland auch in dem Sample aus Europa enthalten waren, erschließt sich nicht (ist aber zu vermuten, da sie 2024 das Buch "<i>Frauen im Dschihad: Salafismus als transnationale Bewegung</i>" herausbringen wird, in dem es um befragte Frauen aus Europa gehen wird). <br />In beiden Texten werden jedenfalls die gleichen Ergebnisse aufgezeigt: Die Kindheiten dieser Frauen waren vielfach belastet. „<i>Sämtliche Gesprächspartnerinnen wiesen unterschiedliche Missbrauchsformen in ihrer Kindheit und Jugend auf. Vielfach erlebten die Respondentinnen eine Kombination von sexueller und psychischer Gewalt</i>“ (Käsehage 2023, S. 155.). </p><p>Käsehage unterlegt diese Ausführungen mit Fallbeispielen, die teils unfassbar heftige Gewalterfahrungen wie häufige Vergewaltigungen durch den eigenen Onkel oder den eigenen Vater enthalten. </p><p>Eine Befragte, die seit ihrem 10. Lebensjahr von ihrem Vater vergewaltigt worden ist, rechtfertigt die Gewalt des IS und scheint mit der Macht identifiziert zu sein. Die Gewalt durch den Vater habe ihr außerdem gezeigt, was Allahas Plan sei und „ (…) <i>es hat mir sehr früh gezeigt, dass die Menschen schlecht sind und rechtgeleitet werden müssen</i>“ (ebd. S. 156). <br /><br />Käsehage kommentiert den Fall weiter so: <br />„<i>Die Konstruktion eines religiösen Narratives, in dem der erlebte Schmerz Teil eines göttlichen Plans gewesen sei, um sie auf den ihr vorbestimmten (religiösen) Weg vorzubereiten, helfen der Jihadistin, dem widerfahrenen Leid einen ‚Sinn‘ zu geben. Andernfalls wäre sie vermutlich an diesen Erfahrungen zerbrochen. Die eigene Zugehörigkeit zur ‚auserwählten‘ Gruppe der Kämpfer:innen, zu der sie ihre jihadistische Bezugsgruppe zählte, verlieh der Respondentin das Bewusstsein, „kein Opfer“ (…) mehr zu sein (…). Diesen Wunsch äußerten sämtliche Befragten</i>“ (ebd. S. 156)</p><p>Das sind im Grunde ganz ähnliche Argumentations- und Verdrehungsmechanismen, wie ich sie so oder so ähnlich auch oft bzgl. Rechtsextremisten gelesen habe! </p><p>Auch folgende Zusammenfassung von Käsehage kann man so ähnlich auch bzgl. Untersuchungen von Rechtsextremisten finden: „<i>Die frühen Traumatisierungen, denen die Befragten durch den körperlichen und seelischen Missbrauch im familiären Umfeld ausgesetzt waren, scheinen ihr Interesse an einer Kanalisierung der bislang unterdrückten Wut und Ohnmacht, die sich im Zuge der Gewalterfahrungen in ihnen aufgestaut hatte, über die jihadistische Bezugsgruppe und deren Ideale zu erklären</i>“ (ebd., S. 158). </p><p>Auch die Probleme bzgl. der eigenen Person und Selbstwahrnehmung finden sich so ähnlich immer wieder auch bei Rechtsextremisten. Die Mehrheit der Befragten bei Käsehage hatten z.B. starke Selbstwertprobleme und eine große Sehnsucht nach Stärke und Führung durch Männer. 15 Befragte verwendeten die Begriffe „wertlos“ und „klein“ in Bezug auf die eigene Person (ebd., S. 152). Bei den Rechtsextremisten, die ja mehrheitlich Männer sind, findet sich die Sehnsucht nach Stärke, Führung und Halt dann eher im Ausdruck einer „überstarken“ traditionellen Männlichkeit und durch eigenes Gewaltverhalten in der Gruppe. </p><p>Schlussendlich kann man der Autorin nur zu dieser Arbeit gratulieren! Sie schreibt und argumentiert trauma-informiert (was man leider nicht über viele Forschende aus dem Extremismusbereich sagen kann) und legt den Fokus letztendlich auf Prozesse, die weniger mit Ideologie zu tun haben, sondern mehr mit der besonderen Attraktivität (Halt, Sicherheit, Schwarz-Weiß-Denken, klare Feindbilder, Identitätsstiftung, Ausleben von Wutgefühlen, Ausstieg aus der Opferrolle usw.) von extremen Ideologien für einst als Kind schwer belastete Menschen. </p><div><br /></div>Unknownnoreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-16293711446370484.post-66852735676097322062023-08-23T16:48:00.008+02:002023-08-23T17:15:59.173+02:00Der Historiker David G. Marwell und die Kindheit von Josef Mengele <p>David G. Marwell ist amerikanischer Historiker und hat das Buch „<b>Mengele. Biographie eines Massenmörders</b>“ (2021, wbg Theiss, Kindle E-Book Version; original Titel aus 2020: „<b>Mengele: Unmasking the "Angel of Death</b>") geschrieben.</p><p>Für mich bot das Buch eine große Überraschung und lenkt mein Interesse auf den Autor an sich. </p><p>Belastende Kindheitserfahrungen von Josef Mengele habe ich relativ ausführlich in <a href="http://mattes.de/buecher/psychohistorie/978-3-86809-143-4.html" target="_blank">meinem Buch</a> besprochen. Meine beiden Quellen dafür waren: </p><p>Knopp, G. (1998): Hitlers Helfer. Täter und Vollstrecker. C. Bertelsmann Verlag, München.</p><p>Völklein, U. (1999): Josef Mengele – Der Arzt von Auschwitz. Steidl Verlag, Göttingen.</p><p>Die <b>Kindheitsbelastungen von Josef Mengele</b> lassen sich diesen Quellen zufolge wie folgt zusammenfassen: im Alter von drei Jahren fast ertrunken, weil niemand auf ihn aufgepasst hatte (Rettung in letzter Sekunde); der Vater war chronisch abwesend, seine sehr dominante Mutter (die bei ihren Angestellten gefürchtet war) war ebenfalls häufig abwesend, Personal kümmerte sich um das Kind, Gefühlskälte in der Familie und Erziehung, häufige Streitigkeiten zwischen den Eltern, hohe Erwartungen und Gehorsamsforderungen, Vater war sehr dem Alkohol zugeneigt, beide Elternteile wendeten Körperstrafen gegen das Kind an (<a href="http://mattes.de/buecher/psychohistorie/978-3-86809-143-4.html" target="_blank">Fuchs 2019</a>, S. 290-292).</p><p>Und jetzt die Überraschung: Von den genannten Belastungen findet man fast nichts in dem viel neueren Buch von David G. Marwell! Wie kann das sein?</p><p>Das erste Kapitel, in dem er auch den Blick auf Kindheit und Familie von Mengele richtet, fängt Marwell so an: <br />„<i>Allen Berichten nach ließ wenig darauf schließen, dass Mengeles Zuhause einen Mann hervorbringen würde, der zum `Todesengel` werden sollte. Anzeichen für extreme politische Überzeugungen, Antisemitismus und Fähigkeit zum Mord sind schwer zu finden. Studien über den sozialen Hintergrund und die Kindheitserfahrungen von Männern, die später Verbrechen unter den Nazis verübten, beschreiben oft die Wirkung des Ersten Weltkriegs auf ihre psychische und emotionale Entwicklung</i>“ (Marwell 2021, S. 18).</p><p>In diesen einleitenden Sätzen sind gleich zwei Ausblendungen enthalten, was Einfluss von Familie und Kindheit angeht. Insofern ahnte ich nach diesen Zeilen schon, wie es weitergehen würde…und zwar so:</p><p>„<i>Während Mengele seinen Vater später als `gutmütig und weichherzig` beschrieb, war seine Mutter `äußerst resolut und energisch`. Nach Aussage eines Bekannten war das Erscheinen von Mengeles Mutter in der Fabrik viel mehr gefürchtet als das seines Vaters</i>“ (ebd., S. 19).</p><p>„<i>In seiner Autobiografie widmete Mengele über 100 Seiten seiner Kindheit und Jugend und zeichnete das Bild einer behüteten Kindheit inmitten von Eltern, Großeltern und Hausangestellten</i>“ (ebd., S. 19).</p><p>„<i>Mit seinen jüngeren Brüdern Karl und Alois, die in den folgenden drei Jahren geboren wurden, verlebte er eine recht unbeschwerte und ereignislose Kindheit</i>“ (ebd., S. 19). Dem hängt der Autor noch an, dass laut einem Kindheitsfreund von Mengele die Atomsphäre in der Familie „<i>konservativ, katholisch, konventionell</i>“ gewesen wäre. </p><p>Bei diesen spärlichen Ausführungen bzgl. der Innenansicht der Familie bleibt es im Grunde. Das Bild, das der Autor zeichnet, ist ziemlich deutlich: Es war halt eine <i>ganz normale</i> Familie, die sogar im Wohlstand lebte. In der Kindheit von Mengele findet der Autor keine Auffälligkeiten. </p><p>Laut dem Quellenverzeichnis hat Marwell auch das von mir als Quelle verwendete Buch „<i>Hitlers Helfer. Täter und Vollstrecker</i>“ von Ulrich Völklein verwendet. Dem Buch von Völklein konnte ich u.a. entnehmen, dass beide Elternteile Körperstrafen gegen ihren Sohn Josef anwendeten, was eine massive und folgenreiche Belastung für ein Kind bedeutet. Kein Wort davon bei Marwell. </p><p>Nun müssen wir auf zwei Dinge blicken: Marwell ist Amerikaner und wurde 1951 geboren. </p><p>In den USA sind Körperstrafen gegen Kinder bis heute in keinem einzigen US-Staat verboten. In vielen Staaten ist sogar weiterhin das Schlagen von Kindern in der Schule erlaubt und wird auch praktiziert. Eine Mehrheit der Amerikaner befürwortet weiterhin das elterliche Recht, Kinder körperlich zu bestraften. Von seinem Geburtsjahr her, dürfte David G. Marwell mit einer hohen Wahrscheinlichkeit noch weit aus mehr von dieser Art Einstellungen bzgl. Körperstrafen geprägt worden sein, als dies heute der Fall ist. Wer in einer Kultur aufgewachsen und geprägt wurde, die kein Problem mit dem Schlagen von Kindern hat (und in der Folgen auch keine negativen Folgen für die Kinder sehen möchte), der ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auch blind gegenüber Kindheitsleid, wenn es um die Erforschung von historischen Akteuren geht. </p><p>Insofern wird hier der Historiker David G. Marwell für mich quasi selbst zum Forschungsobjekt. Er ist darüber hinaus auch kein Einzelfall. In meinem Buch habe ich ein eigenes Kapitel unter dem Titel „<i>Das große Schweigen</i>“ verfasst, in dem ich u.a. das häufige Wegsehen von Fachleuten bzgl. Kindheitsleid von historischen und politischen Persönlichkeiten besprochen habe. <br />Dieses Wegsehen gilt übrigens auch für die für mich ergiebige Quelle "Völklein" (siehe oben). Immerhin hat er diverse Daten und Infos bzgl. der Kindheit von Mengele aufgeführt, die für mich hilfreich waren. Ganz und gar erstaunlich ist dagegen das Schlusswort des Biografen Ulrich Völklein (Historiker und Journalist) am Ende des Kapitels über die Kindheit und Jugend: „<i>Josef Mengele erlebte zwar keine behütete und beschirmte Kindheit in der Geborgenheit seiner Familie, aber es war eine von wirtschaftlicher Not freie Jugendzeit in dem überschaubaren Beziehungsgeflecht einer kleinen Stadt in Schwaben. Nichts in seinen äußeren Lebensbedingungen kann als notwendige Voraussetzung seiner späteren Entwicklung gedeutet werden</i>" (Völklein 1999, S. 52). </p><p>Abschließend sei noch erwähnt, dass das Buch von Marwell für mich immerhin zwei neue Infos bzgl. der Kindheit von Josef Mengele gebracht hat. </p><p>Josef scheint ein sehr kränkliches Kind gewesen zu sein und das hatte Folgen: <br />„<i>Mengeles Schulakte zeigt, dass er seit dem Schuljahr 1927–28 eine Reihe von Infektionen wie Knochenmarkentzündung, Nierenentzündung und Blutvergiftung hatte und wegen dieser Krankheiten längere Zeit die Schule versäumte. Sie führten auch zu einem bleibenden Nierenschaden. Dies hinderte ihn daran, das Familienunternehmen zu übernehmen, was ihm als ältestem Sohn zugestanden hätte</i>“ (Marwell 2021., S. 22). </p><p>Außerdem scheint um die Geburt von Josef eine gewisse Aufregung in der Familie geherrscht zu haben. Denn das erste Kind der Familie war wenige Tage nach der Geburt gestorben (ebd., S. 19). Wie diese Tragödie die Familie geprägt hat, lässt sich nur erahnen. </p><p>Kommen wir nochmals zurück zur Einleitung von Marwell: „<i>Allen Berichten nach ließ wenig darauf schließen, dass Mengeles Zuhause einen Mann hervorbringen würde, der zum `Todesengel` werden sollte</i>“, schreibt er. </p><p>Wie ich auf Grundlage anderer Quellen (wie oben beschrieben) nachweisen konnte, war die Kindheit von Josef Mengele schwer belastet. Dies führt nicht automatisch dazu, dass jemand zum Täter und Massenmörder wird. Diese Kindheitserfahrungen bilden allerdings das Fundament für destruktives Agieren bzw. die belastenden Kindheitserfahrungen erklären, warum ein Mensch zum „Todesengel“ werden <i>konnte</i>. <b>Die NS-Forschung legt sich selbst Steine in den Weg, wenn sie nicht endlich <i>trauma-informiert</i> wird! </b>Vermutlich wird dies zukünftig - aus oben besagten Gründen - eher die jüngere Forschergeneration erfüllen. </p><div><br /></div>Unknownnoreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-16293711446370484.post-4014085266663007552023-08-16T16:54:00.013+02:002023-09-12T17:11:22.779+02:00Zwischenbilanz: Entwicklung meiner Arbeit, aber auch meiner Person<p>Es wird Zeit für einen Zwischenbericht zur Entwicklung meiner Arbeit, aber auch über meine persönliche Entwicklung. </p><p>Ich erinnere mich heute zunächst zurück an das Jahr 2003. Damals war ich noch Student der Soziologie an der UNI Hamburg. Im Nebenfach Politologie hielt ich innerhalb eines Seminars über Kriegsursachen ein Referat über die Zusammenhänge zwischen destruktiven Kindheitserfahrungen und Krieg. Geleitet wurde das Seminar von einer Dozentin, die auch aktives Mitglied der Hamburger <i>Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung </i>(AKUF) war. </p><p>Geprägt war ich zu der Zeit ganz wesentlich von dem ca. Anfang 2002 veröffentlichen Buch „Der Fremde in uns“ von Arno Gruen, aber auch von „Am Anfang war Erziehung“ von Alice Miller. Ergänzend konnte ich zwei Semester lang einer großen Vorlesungsreihe am UKE von Peter Riedesser (früherer Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und Experten für Psychotraumatologie) über Kindheit folgen. Diese Vorlesungen, fast alle von Riedesser persönlich gehalten, haben mich damals schwer beeindruckt und auch bestätigt. Später fand ich <a href="https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/abstract/10.1055/s-2002-30640" target="_blank">einen eindrucksvollen Text (bzw. eine Rede)</a> von Riedesser, aus dem ich auch heute noch oft zitiere. </p><p>Schon damals erkannte ich für mich die absolut wertvollen Aussagen von Gruen und Miller, die gesellschaftliche destruktive Prozesse auf einer tieferen Ebene analysierten. Schon damals sah ich aber auch, wie beiden Arbeiten empirisches Material und handfeste Daten fehlten, weil sie sehr psychoanalytisch ausgerichtet waren. </p><p>Meine damalige Hausarbeit (Titel:<i> Der "Krieg" in den Kinderzimmern als Wurzel kriegerischer Gewalt</i>) war ein erster Versuch, diese „Lücke“ zu schließen. Im Jahr 2003 war meine Herangehensweise provokant. Zudem musste ich auf die noch verhältnismäßig wenig Daten über das internationale Ausmaß von Gewalt gegen Kinder zurückgreifen (was heute ganz anders aussieht). </p><p>Ich werde nie das Gefühl vergessen, als der Tag der Besprechung meiner Hausarbeit anstand. Die Rahmenbedingungen entsprachen auf eine Art dem Thema. Das Gebäude, in dem der Termin mit der Dozentin stattfand, war von innen her ein fast klassisches „Behördengebäude“: Optisch kalte und karge Räume und Gänge, große und lange Flure. Ich weiß nicht warum, aber als ich das Gebäude betrat, war kein einziger Mensch zu sehen, auch auf meinem Weg nach oben zum Raum der Dozentin nicht. Es war fast etwas unwirklich und ich rechnete damit, hinter der Tür mit der mir aufgezeigten Raumnummer niemanden anzutreffen. Nun, da saß sie nun, meine Dozentin und wir begannen damit, meine Hausarbeit zu besprechen. </p><p>Mit Anfang 20 ist man noch nicht ganz reif und neigt auch zur Überschwänglichkeit. Ich betrat damals mit dem Gefühl diesen Raum, dass ich jetzt Meldung bei der „Feuerwehr“ abgeben werde. Die Dozentin repräsentierte für mich die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) und mir war bewusst, dass Kindheitserfahrungen in der sozialwissenschaftlich ausgerichteten Ausrichtung dieser Einrichtung kein Thema war. Ich kam mit dem Gefühl, den „Schlüssel“ zu übergeben, der dann weitergereicht werden sollte. </p><p>Nun, meine Erwartungen wurden enttäuscht. Auf den Inhalt ging die Dozentin kaum ein. Meinen Ausführungen lauschte sie zwar, gab aber am Ende bzgl. der Benotung den Kommentar, dass ich die einigermaßen gute Note vor allem auf Grund meiner Vielzahl an Quellenarbeit erhalten würde. </p><p>Diese Hausarbeit war mein Startpunkt bzgl. der Erforschung der politischen Folgen von Kindheit. Seit ca. 2001 hatte ich mich zuvor intensiv mit dem Gesamtthemenkomplex Kindesmisshandlung und den individuellen Folgen befasst. Damals betrieb ich auch eine Homepage über das Thema, die ich dann später einstellte. Nun betrat ich zunehmend den politischen Raum. </p><p>An der Tür der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) wurde ich nach meinem Empfinden abgewiesen. Später schickte ich noch – in meinem jungen Überschwang... - die überarbeitete und ausgeweitete Hausarbeit an diverse Mitglieder der AKUF. Reaktion bekam ich nur von einer einzigen Person, die im Jahr 2003 noch studentische Hilfskraft des oben besprochenen Seminars gewesen war und die meine Hausarbeit mit kontrolliert hatte. Wir verfielen in einen tagelangen Emailverkehr zu dem Thema. Im wesentliche kam heraus, dass das Thema Kindheitseinflüsse abgewehrt wurde. </p><p>Diese Abwehr des Themas blieb jahrelang mein beständiger Begleiter. Oder besser gesagt: Die Nicht-Reaktion auf Anschreiben, Aussagen, Gespräche und Blogbeiträge. Dies änderte sich erstmals im Jahr 2012, als mein Arbeitspapier „<a href="https://ib.uni-koeln.de/fileadmin/templates/publikationen/aipa/AIPA_4_2012_FINAL_01.pdf" target="_blank">Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an: Plädoyer für einen offenen Blick auf die Kindheitsursprünge von Kriegen</a>“ am Lehrstuhl Internationale Politik der Universität zu Köln veröffentlicht wurde. Prof. Dr. Thomas Jäger hatte nach einem kurzen Austausch mit mir Interesse für das Thema gezeigt und wollte dazu etwas von mir veröffentlichen. </p><p>Irgendwann in den Jahren danach kam ein Vertreter der <a href="https://psychohistorie.de/" target="_blank">Gesellschaft für Psychohistorie und Politische Psychologie e. V.</a> auf mich zu und regte eine Zusammenarbeit an. Daraus entstanden dann erste Beiträge von mir im „Jahrbuch für psychohistorische Forschung“. Im Jahr 2018 schrieb ich mein Buch und konnte es durch die Vermittlung von Dr. Ludwig Janus 2019 im Mattes-Verlag veröffentlichen. Das Buch hat mir in der Folge viele Türen geöffnet. Es entstanden <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2021/07/uberblick-uber-meine-veroffentlichungen.html" target="_blank">weitere einzelne Fachbeiträge</a> von mir und seit dem Jahr 2021 wurde ich ergänzend zu einigen Fachvorträgen u.a. auch von renommierten Akteuren wie „Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin“, „Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin“ oder dem „Deutschen Präventionstag“ eingeladen. </p><p>Beim <i>Deutschen Präventionstag</i> (dem größten europäischen Kongress zur Kriminalprävention) ist ergänzend auch <a href="https://www.praeventionstag.de/dokumentation/download.cms?id=6597&datei=9-Fuchs-6597.pdf" target="_blank">ein großer Text von mir</a> erschienen. Mehr fachlichen „Feueralarm“ kann ich im Grunde fast nicht mehr auslösen :-), was mich emotional enorm entlastet. </p><p>Nebenbei verbreitete sich mein Buch immer weiter in Fachkreisen (mit so einigen Fachleuten hatte ich auch persönlich Kontakt und Austausch) und ist mittlerweile auch in <a href="https://www.google.com/search?q=%22Die+Kindheit+ist+politisch%22+&sca_esv=557451199&biw=1920&bih=929&tbm=bks&ei=adncZLzrCryI9u8Ph6en8A4&ved=0ahUKEwj8w7SjruGAAxU8hP0HHYfTCe44ChDh1QMICQ&uact=5&oq=%22Die+Kindheit+ist+politisch%22+&gs_lp=Eg1nd3Mtd2l6LWJvb2tzIh0iRGllIEtpbmRoZWl0IGlzdCBwb2xpdGlzY2giIEiLElDKB1ipDXAAeACQAQCYAVmgAfIDqgEBNrgBA8gBAPgBAYgGAQ&sclient=gws-wiz-books" target="_blank">so manchen Büchern zitiert</a> worden. Auch renommierte Kriminologen wie Christian Pfeiffer und Dirk Baier haben mein Buch gelesen und darauf verwiesen (wobei Pfeiffer mein Buch als <a href="https://books.google.de/books?id=buWPDwAAQBAJ&pg=PT63&dq=%22Kindheit+ist+politisch%22&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwjkxbfh7dDlAhVP_qQKHWIrD5sQ6AEIQzAE#v=onepage&q=%22Kindheit%20ist%20politisch%22&f=false" target="_blank">„wichtiges Buch“</a> bezeichnet hat, während Baier <a href="https://tentakel-magazin.ch/niemand-ist-vor-extremismus-gefeit/" target="_blank">es halb würdigte und halb kritisierte</a>). </p><p><b>Warum schreibe ich dies alles?</b> <br />Es ist zum einen ein großer Rückblick auf die vergangenen über 20 Jahre. Was aber viel wesentlicher ist, ist das ganz private und persönliche Gefühl von mir, das mit dieser Entwicklung einhergeht. Die beständige Bestätigung der Bedeutsamkeit meiner Erkenntnisse und auch die Anerkennung dieser Arbeit, dabei vor allem auch die Anerkennung, dass diese einen hohen Wahrheitsgehalt hat, haben mich nervlich wirklich extrem beruhigt. Ich fühle mich nicht länger als jemand, der einen Brand sieht, überall anruft und man lässt es halt brennen. Klar, auf gesellschaftlicher Ebene fehlt weiterhin viel an Bewusstsein. Dass die genannten Fachkreise meine Arbeit gesehen haben, gibt mir aber einfach ein gutes und auch beruhigendes Gefühl. </p><p>Die Kehrseite des Ganzen: Meine Motivation ist etwas abgeflaut. Oder anders gesagt: Es „brennt“ auch weniger in mir, das „Feuer“ wurde quasi auch innerlich etwas gelöscht, was ich persönlich sehr gute finde. Nach den Coranajahren und dem für mich, als unternehmerisch tätigen Menschen, schwierigem Wirtschaftskrisen-Jahr 2022 (ausgelöst durch den Ukraine-Krieg, der wiederum viel mit Kindheit in Russland zu tun hat; ich als Unternehmer also quasi – meinen psychohistorischen Erkenntnissen nach - auch ein Stück weit an den Folgen von Kindheit in anderen Ländern zu leiden hatte...) steht zudem auch die Frage im Raum: Wie viel Zeit möchte ich dem Thema noch zugestehen? Die Zeit, die ich dem Thema widme, ist - außer bzgl. dem Buch - unbezahlt und ehrenamtlich. Meine Antwort ist, dass ich deutlich weniger Zeit in das Thema stecken werde. </p><p>Das hat auch etwas damit zu tun, dass ich im Grunde kaum noch Entdeckerarbeit sehe. Alle für mich wesentliche Bereiche habe ich ergründet und bearbeitet. Wesentliche neue Infos und Erkenntnisse verbreite ich meist <a href="https://twitter.com/SvenFuchs15" target="_blank">über Twitter</a>, weil dies einfach viel schneller zu machen ist, als über einen Blogbeitrag und die Reichweite auch größer ist. Blogbeiträge kommen sicher noch, aber nicht mehr so häufig. </p><p><b>Für meinen Blog sehe ich drei wesentliche Aufgaben vor mir:</b></p><p>1.<span style="white-space: pre;"> </span>Es muss dringend ein ausführlicher neuer und großer Beitrag über die <i>Adverse Childhood Experiences</i> Studien her. In Fachtexten, in meinen Vorträgen und innerhalb meines Twitter-Accounts ist die ACEs Forschung zentral. Im Blog habe ich das Thema dagegen bisher vernachlässigt. </p><p>2.<span style="white-space: pre;"> </span>Nachdem die geplante Übersetzung meines Buchs ins Englische vorerst gescheitert ist, plane ich die Übersetzung zumindest eines großen Textes ins Englische. Das Thema ist viel zu wichtig, als dass ich meine Erkenntnisse nur im deutschsprachigen Raum verbreite. </p><p>3.<span style="white-space: pre;"> </span>Immer noch plane ich den Umzug des Blogs. Eine entsprechende Domain habe ich bereits reserviert. Der Blog soll optisch ansprechender und frischer werden. Viele Texte müssen zudem überarbeitet werden. Das wird sehr viel Zeit kosten und ist für mich nur Stück für Stück machbar (vermutlich innerhalb der nächsten drei Jahre). Am Ende soll dann quasi ein verschlankter Blog mit den zentralsten Beiträgen stehen, die dann für die „Ewigkeit“ im Netz allen zur Verfügung gestellt werden. Vermutlich werde ich auch einiges aus meinem Buch online stellen bzw. zusammenfassen. </p><p>Und dann ist auch irgendwann auch mal gut. Immer wieder werde ich natürlich interessiert neue Infos sichten. Aber ich bin jetzt 46 Jahre alt und plane nicht, dass Thema derart intensiv bis ins Rentenalter zu bearbeiten. Letztendlich hängt es ja auch nicht mehr am Informationsstatus, sondern an dem Vermögen und Willen, die Dinge wahrzunehmen. Dafür braucht die Gesellschaft – die gesellschaftliche „Psyche“ - einfach ihre Zeit. Meine Texte werden diesen Prozess nicht beschleunigen, sondern nur ankitzeln. Es steht und fällt mit der Evolution von Kindheit (Verbesserung von Kindheitsbedingungen) und von persönlicher, wie auch kollektiver Aufarbeitung von erlebten Traumatisierungen. Dieser Prozess ist im Gang und er ist auch nicht zu stoppen. Evolution muss immer sehr langfristig gedacht werden. So ist es nun einmal in der Welt. </p><p>Das lustige ist, dass sich, trotz der vielen gezeigten Entwicklungen, meine Grundaussagen seit dem Jahr 2003 im Grunde nie geändert haben. Damals zweifelte ich etwas an mir selbst, weil die Feedbacks so still, ausweichend oder kritisch waren. Durch meine vielen Datensammlungen habe ich diese Selbstzweifel längst überwunden. Im Kern bleibt die Grundaussage, dass eine friedlichere Kindheit eine friedlichere Gesellschaft/Welt zur Folge hat. Und natürlich gelten weiterhin die Sätze: "<b>Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an!</b>" und "<b>Die Kindheit ist politisch!</b>"</p><p>Für mich persönlich hat sich durch mein angearbeitetes "trauma-informiert-sein" allerdings der Blick auf meine Familiengeschichte, meine Verwandten, mein Umfeld, meine Alltagsbegegnungen und bzgl. dem täglichen Wahnsinn der Berichterstattungen über Geschehnisse in der Welt verändert. Viele Dinge sind für mich erklärbarer geworden. Privat sowie beruflich ist dies manches Mal auch nützlich für mich, weil man Warnzeichen bzgl. anderer Menschen und ggf. sich anbahnenden "dunklen Wolken" früher erkennt. </p><p>Insgesamt bedauere ich etwas, dass ich schon mit Anfang 20 ein Stück weit Leichtigkeit im Leben verloren habe. Zu wissen, wie die Welt heute mit Kindern umgeht und wie unsere Vorfahren sogar noch weit schlimmer mit Kindern umgegangen sind, das hinterlässt auch Spuren. Realitäten auszublenden, kommt aber nicht für mich in Frage. Denn dies würde in der Folge auch bedeuten, Präventionsmöglichkeiten auszublenden.</p><div><br /></div>Unknownnoreply@blogger.com2tag:blogger.com,1999:blog-16293711446370484.post-59218157405835329052023-08-07T14:45:00.007+02:002023-08-07T15:28:42.889+02:00Kindheit von Till Lindemann (Rammstein)<p>Jüngst haben diverse Frauen Vorwürfe gegen Till Lindemann von der Band Rammstein erhoben. Ich nahm dies zum Anlass, etwas über die Kindheit des Sängers zu recherchieren. Im Internet fand ich zunächst nicht viele Infos dazu. </p><p>Ich fand nur zwei wichtige Details: Till, der damals Leistungsschwimmer war, hat seine Kindheit weitgehend im Sportinternat in der DDR verbracht (Könnau, S. (2023, 30. Mai): <a href="https://www.mz.de/kultur/musik/rammstein-frontsaenger-till-lindemann-was-vater-werner-ueber-seinen-sohn-schrieb-1656548" target="_blank">Rammstein-Frontsänger: Was Vater Werner über seinen Sohn Till Lindemann schrieb</a>. Mitteldeutsche Zeitung.).<br />Damit einher ging eine räumliche Trennung von der Familie, aber vermutlich auch der auf Leistung bezogene Erziehungsrahmen, den die damalige DDR Leistungs-Sportlern aufdrückte. </p><p>Seine Mutter Brigitte „Gitta“ Lindemann hat innerhalb eines Interview gesagt: „<i>Wir waren ja nicht immer sehr glücklich als Familie, weil es waren ja alles Individualisten und jeder meinte sein Anspruch realisierten zu müssen</i>“ (SWR2 Tandem (2013, 21. August): <a href="https://web.archive.org/web/20150405235723/http://mp3-download.swr.de/swr2/tandem/podcast/2013/08/21/swr2tandem-20130821-1920-mike-oldfield.6444m.mp3" target="_blank">Irgendein Mike Oldfield neuerdings</a>, ca. Minute 3:18).</p><p>Ich habe mir dann das Buch „<b>Mike Oldfield im Schaukelstuhl. Notizen eines Vaters</b>“ <b>von Werner Lindemann </b>(1988, Buchverlag Der Morgen, Berlin) besorgt. Der Vater von Till Lindemann berichtet darin über das Zusammenleben mit seinem Sohn, der als Neunzehnjähriger für eine kurze Zeit zu ihm aufs Land zog. Im Buch heißt sein Sohn „Timm“. </p><p>Dass mit „Timm“ Till gemeint ist, hat der Sänger in einem späteren Nachwort zum Buch selbst ausgesagt: „<i>Ich fand überhaupt nicht gut, dass mein Vater das einfach veröffentlicht hat, ohne mich zu fragen. Alle wussten, dass ich der Timm im Buch bin. Das waren mir zu viele Einblicke in mein Leben</i>“ (Süddeutsche Zeitung (2020, 13. März): <a href="https://www.sueddeutsche.de/kultur/till-lindemann-vater-und-sohn-1.4844350" target="_blank">Vater und Sohn</a>). </p><p>In dem Buch fand ich ganz wesentliche Infos über die Kindheit von Till Lindemann. Sein Vater schreibt ganz zu Anfang statt einer Widmung: „Junge Bäume haben Mühe, hochzukommen im Schatten der alten“. Dieser Satz durchzieht auch das Buch, denn der Vater ringt stets mit sich, seinem Sohn und dem Vater-Sohn-Verhältnis. „Eine jähe Erkenntnis: Die Kluft zwischen Timm und mir ist breit und tief. Was weiß er über mich? – Was weiß ich über ihn? Der Junge hat in den vergangenen Jahren seltener an meinem Tisch gesessen, als der Vollmond am Himmel erschienen ist. In der Kinder- und Jugendsportschule war er beinahe jedes Wochenende gefordert: Schwimmtraining, Reisen, Wettkämpfe. Die gemeinsamen Tage in der Stadtwohnung könnte ich zählen; ich habe seit eh und je lieber hier draußen in unserem alten Bauernhaus zwischen den Weidenhügeln gesessen“ (Lindemann 1988, S. 10). </p><p>Manchmal gibt es intensivere Begegnungen zwischen Vater und Sohn. Manchmal verläuft es auch so: „Timm hat wohl wieder seine Dunkelkammerzeit. Schweigend verlässt er das Haus, ohne Worte betritt er es. Keine Fragen, keine Antworten. Ein gefühlloser Schatten“ (S. 62). </p><p>Der Vater scheint seinerseits auch sehr in sich zurückgezogen gewesen zu sein und wirkt melancholisch bis teils depressiv. An einer Stelle im Buch unterbricht er z.B. den Textfluss und schreibt einfach das Wort „Selbstmordeinsam“ dazwischen (S. 19). </p><p>Tills Vater wurde im Zweiten Weltkrieg schwer belastet und musste als Jugendlicher kämpfen. Aufschlussreich ist, dass er seine Erinnerungen an seinen Sohn ständig mit Erinnerungen aus seinem frühen Leben unterbricht, die er auch oft mit „Erinnerung“ betitelt, um sie vom Rest des Textes abzugrenzen. Oft sind diese Erinnerungen geprägt von Berichten über belastende Erfahrungen. </p><p>An einer Stelle erinnert er sich an das Jahr 1941, als er bei einem Großbauern in die Lehre ging. Der Bauer strafte ihn einmal mit einer Peitsche, weil er eingeschlafen war (S. 13). Auch erinnert er sich an konkrete Kriegserlebnisse, u.a. an verletzte Kameraden und der Gefahr, selbst getötet zu werden (S. 37f.). Auf der Flucht wird er von einem Panzer beschossen. „Mit jeder Granate fliegen zwei, drei Flüchtende in die Luft“ (S. 115). Oder er erinnert sich, wie ihn sowjetische Soldaten mit gezogener Pistole beklauen (S. 57f.). Dann ist er wieder im Hier und Jetzt mit Timm, um dann anzuschließen: „Aus dem Morgen, vom Dambecker See her, tief gestaffelt, ziehen Graugänse heran. Erinnerung überfällt mich: Flugzeuge – Sirenengeheul – pfeifende Bomben. Die grauen Keile – Wildgänse. Welch heiteres Geschwätz am Himmel“ (S. 58f.). Ich vermute allein auf Grund dieser Schilderungen bzgl. Flashbacks, dass Werner Lindemann an einer posttraumatischen Belastungsstörung gelitten hat. Dies kann auch Folgen für Angehörige und insbesondere Kinder haben (Stichwort: transgenerationales Trauma). </p><p>Manchmal besucht die Mutter aus der Stadt kommend Vater und Sohn. Einmal gibt es Streit und sie sagt zu ihrem Mann: „Der Junge ist so verrückt, weil wir uns zu wenig um ihn gekümmert haben“. Der Vater: „Wie kümmern, wenn er jahrelang von früh bis spät, sieben Tage in der Woche im Schwimmbecken liegt?“. Die Mutter: „Wir hätten öfter mitfahren sollen“ (S. 65). </p><p>Eine glückliche Familie scheint dies nicht gewesen zu sein, was ja auch die Mutter so ähnlich in dem Zitat oben ausgesagt hat. </p><p>Werner Lindemann berichtet auch kurz über das eigene Erziehungsverhalten seinem Sohn gegenüber: es war offenbar auch geprägt von Gewalt. Der Vater hatte seinem Sohn alte Gedicht gezeigt. In einem Gedicht geht es um Fehlverhalten (meterlang die Tapete bemalt) von „Timm“ (der rechtfertigt sich damit, dass dies Arbeit gewesen wäre) und am Ende fragt der Vater sich „Bin ich berechtigt, Arbeit zu bestrafen? Timm liest die Gedichte und sagt lächelnd: `Du hast mir oft den Arsch versohlt`“ (S. 22). </p><p>Dass der Vater zu Gewalt neigte, zeigt sich auch in einer weiteren Szene. Nach einem Streit mit seinem Sohn über Unordnung schreibt Werner: „Wo es an Argumenten fehlt, gebraucht man die Fäuste – ich hole aus, schlag zu. Timm wehrt sich. Ich stolpere, falle auf die Stufen des Hauseingangs. “ (S. 103). </p><p>Vater und Sohn sprechen danach eine Zeit nicht miteinander. Seine Frau macht ihm später Vorwürfe wegen des körperlichen Übergriffs. Und er hält ein weiteres Streitgespräch mit ihr fest: „Kein Wunder bei unseren Scheißfamilienverhältnissen.“ Der Vater reagiert. „Ihr hättet ja alle mit nach hier ziehen können“. Die Mutter: „Du hättest dich ja öfter in der Stadt sehen lassen können“ (S. 105). </p><p>Werner Lindemann und seine Frau sind noch ein Paar, leben aber wohl seit Jahren getrennt. </p><p>Bereits bei der Geburt von „Timm“ war das Paar offensichtlich räumlich getrennt. Er habe in dem Haus der Familie als Untermieter zwei eigene Zimmer gehabt, schreibt Werner. „Als Timm geboren wurde, lebte jeder für sich“ (S. 143). </p><p>Der Auszug seines Sohnes erfolgte heimlich und schweigend. Er ging einfach, ohne zu sagen wohin. Werner erfährt schließlich, wo sein Sohn jetzt wohnt und schließt sogleich damit, dass er in der Folge über eine Koppel läuft und die Umgebung auf sich wirken lässt. Er fügt direkt an: „Ein Augenblick, wo das Leben so vollendet scheint, dass ich sterben möchte“ (S. 186). Was für ein Ende für ein Buch über das eigene Vater-Sohn-Verhältnis... </p>Unknownnoreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-16293711446370484.post-2301247765675678382023-06-19T16:10:00.001+02:002023-06-19T16:10:21.815+02:00Kindheiten von 27 Neo-Nazis/Skinheads aus Schweden und den USA<p>Erneut habe ich eine Studie gefunden, innerhalb der deutlich auf Kindheitserfahrungen von Extremisten eingegangen wird: </p><p><b>Mattsson, C. & Johansson, T. (2022). Radicalization and Disengagement in Neo-Nazi Movements: Social Psychology Perspective (Routledge Studies in Countering Violent Extremism). Routledge, New York. (Kindle E-Book Edition)</b></p><p>27 (davon fünf weiblich) ehemalige oder aktive Neo-Nazis/Skinheads aus Schweden und den USA wurden über lange Zeiträume (bis zu fünf Jahre lang) hinweg wiederholt befragt. Die Autoren fassen an manchen Stellen im Buch die Ergebnisse bzgl. der Kindheitsbedingungen der Befragten wie folgt zusammen: </p><p>„<i>Most of the interviewees in the skinhead group describe their upbringing as characterized by a lack of care, often sheer neglect and physical and psychological violence. Growing up in conditions such as poverty, abuse, violence or other social ills risks undermining the individual`s life chances, but there are also large variations in how people relate to their upbringing</i>” (S. 55). </p><p>“<i>When we asked them about their experiences childhood, they sometimes found it difficult to convey a clear memory. It is often painful to be confronted with and process memories of parents who failed, and an adult world that has not been able to provide much-needed support in a chaotic life</i>” (61). </p><p>“<i>Several of our informants were bullied at school</i>” (S. 63). </p><p>“<i>There are recuring mentions about the betrayal of the adult world and a lack of trust. The betrayal has taken different forms. In some cases, it is about violence and extreme insecurity in the home. In others, it is more about emotional vulnerability and the fact that the adults have been absent. All informants express a desire to escape from their families and from the shame of being different, and to seek comfort and confirmation elsewhere</i>” (S. 68). </p><p>In einigen Fällen wird von einer Kindheit ohne Probleme berichtet, so z.B. bei “Andreas” und “Julius”. Zwischen den Zeilen der Selbstberichte fanden die Forschenden allerdings Auffälligkeiten: Andreas wurde von der Schule verwiesen und musste später zwei Jahre wiederholen; Julius verließ früh sein Zuhause, um den starken Kontrollbedürfnissen seines Vaters zu entkommen. Die Forschenden kommentieren: „<i>These informants seem to be compelled to avoid the stereotype of the skinhead raised in a deprived home. Thus, there are reasons to believe that vital parts of their childhood memories are left out of the narrative</i>” (S. 67). <br />Während meiner Recherchen fand ich nicht oft solche Kommentierungen. Dabei sind dies ganz wichtige Anmerkungen! Es gibt viele Gründe dafür, warum solcher Art von extremistischen Akteuren nicht ausführlich und genau über ihre Kindheit berichten können oder wollen. Außerdem muss man auch "zwischen den Zeilen lesen", so wie hier durch Mattsson & Johansson geschehen. (Siehe dazu auch meinen Blogbeitrag <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2020/06/verklart-beschonigt-verdrangt.html" target="_blank"> Verklärt, beschönigt, verdrängt: Kindheiten von Gewalttätern und Extremisten. Eine Mahnung an die Forschung</a>).</p><p>Wenn man sich die Fallbeispiele im Buch anschaut, fallen auch Mehrfachbelastungen in der Kindheit auf, so z.B. bei <b>„Chris“</b>:<br />„<i>My upbringing was marked by drugs and difficult home conditions. It was really bad. My upbringing was … traumatic, negative. I actually do not know how to describe it. It was very destructive and quite violent</i>“ (S. 37). Sein Vater verbrachte zudem Jahre im Gefängnis und seine Mutter starb, als Chris ein Teenager war. </p><p>Mehrfachbelastungen beschreibt auch <b>“Carl”</b>: “<i>He grew up in a socially vulnerable environment, with an abusive father but a caring mother. Carl had difficulties being accepted at school, by both peers and teachers. (…) During his first 6 years of school, Carl reported being severely bullied and was on psychotropic medication due to his attention-deficit disorder</i>” (S. 56). </p><p>Auch <b>"John"</b> beschreibt vielfältige Problemlagen: “<i>He describes his upbringing as quite chaotic. His parents got divorced, and he moved in with his father. He lost contact with his mother, but still has a good relationship with his father. Although he was never beaten as a kid, he often felt threatened by his father. (…) John tells us about a lack of adult support and a feeling of being on his own. During high school, he felt increasingly like an outsider</i>” (S. 39). </p><p><b>“Sofie”</b> beschreibt keine Gewalterfahrungen, aber auch in ihrer Kindheit zeichnen sich deutliche Schatten ab: „<i>Sofie’s parents were divorced before she was born. She describes growing up in a poor suburb, with a single mother. There was no violence or hatred, but a lack of parental guidance. Sofie’s relation with her mother was troublesome and complicated. She revolted and became a rowdy and unruly teenager</i>” (S. 41). Sie beschreibt den Ort, an dem sie aufwuchs zudem als „Ghetto“. <br />Sofie “<i>sees her half-siblings get the father’s full attention while she herself strives for it without feeling that she gets his support</i>” (S. 180). </p><p>Im Fall <b>“Sven”</b> finden sich keine deutlichen Hinweise auf Gewalt oder Vernachlässigung. Er wuchs in einer Mittelklasse-Familie in Schweden auf und beschreibt die Familie als harmonisch, außer einem Problem: „<i>And it was like that when I was five or six. My parents joined a Christian congregation that you know by many is understood as a bit extreme. It was Jehovah’s Witnesses, and I think that they did this [in the early’70s]. In revival moments like this, in those days, it was very much ‘The end is near!’ This Armageddon preaching attracted my parents, who decided that the end is probably quite near, and they’d better join in</i>” (S. 45). Die Familie musste außerdem auf Grund der Karriere des Vaters häufig umziehen, so dass Sven immer wieder neu anfangen musste. Auch in diesem Fall deuten sich also Belastungen an. </p><p>Dies sind nur einige Auszüge aus dem Buch, in dem noch deutlich mehr Fallbeispiele besprochen werden. Die Kindheiten der Befragten unterscheiden sich bzgl. der Problemlagen. Wichtig ist hier festzuhalten, dass nach den o.g. Zusammenfassungen der Autoren die Mehrheit der Befragten Problemlagen während ihrer Kindheit ausgesetzt war. Dies konnte auch in <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2020/09/kindheitsursprunge-von.html">etlichen anderen Extremismusstudien</a> belegt werden. </p><p>Was darüber hinaus auffällt ist, dass die ehemaligen Extremisten häufiger über Probleme in der Kindheit berichten als die noch aktiven Extremisten. Diese Feststellung unterstreicht nochmals die o.g. Anmerkungen bzw. Mahnungen der Autoren bzgl. der Fälle "Andreas" und "Julius" (auch diese sind beide weiterhin aktive Extremisten). </p><p><br /></p><p><br /></p>Unknownnoreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-16293711446370484.post-27102514132093366442023-04-30T18:29:00.001+02:002023-04-30T18:31:13.057+02:00Traumahintergründe und Kindheit von ehemaligen IS-Terroristen<p>Erneut habe ich eine Studie gefunden, die Kindheitshintergründe von Terroristen offen legt:</p><p><b>Mohammed, R. & Neuner, F. (2022). <a href="https://conflictandhealth.biomedcentral.com/articles/10.1186/s13031-022-00489-3#Abs1" target="_blank">Putative juvenile terrorists: the relationship between multiple traumatization, mental health, and expectations for reintegration among Islamic State recruited adolescent and young adult fighters</a>. <i>Conflict & Health</i>, 16:58 (2022). </b></p><p>Für diese Studie wurden 59 männliche Jugendliche und junge Erwachsene (14 bis 24-Jährige; Durchschnittsalter: 18 Jahre) befragt, die für terroristische Taten im Rahmen von ISIS inhaftiert sind (Jugendgefängnis in Erbil/Irak). </p><p>Diverse Belastungen wurden abgefragt (Kriegserlebnisse, Folter usw.), darunter auch die Kategorie "Gewalt in der Familie". Obwohl u.a. auch Vernachlässigung und frühe Erfahrungen von sexueller Gewalt abgefragt wurden, haben die AutorInnen nur die Ergebnisse für drei Belastungen in der Familie zahlenmäßig aufgeführt:</p><p><b>Körperliche Gewalt in der Familie: 81,4%.</b></p><p><b>Zeuge körperlicher Gewalt in der Familie: 50,8%.</b></p><p><b>Gesagt bekommen, man wäre ein schlechter Sohn: 50,8%.</b></p><p><b>Im Durchschnitt machten die Befragten ca. drei Gewalterfahrungen in der Familie. </b></p><p>Ergänzend interessant und aufschlussreich sind einige Oberflächendaten über die Familie:<br />Von 81,4% der Befragten war die Mutter und von 78% der Befragten war der Vater gestorben. Dazu kommt eine hohe Anzahl von Geschwistern: 45,8% hatten drei bis fünf Geschwister; 28,8% hatten sechs bis acht Geschwister und 17% hatten sogar neun oder mehr Geschwister. Eine sehr hohe Anzahl von Geschwistern (zudem in einer armen Region) erhöht die Wahrscheinlichkeit von Vernachlässigungserfahrungen meiner Auffassung nach sehr. </p><p>Bzgl. der mentalen Gesundheit fassen die AutorInnen zusammen: “<i>A high percentage of the sample, 89.8%, met the criteria for depression, and 69.5% met the criteria for PTSD</i>” (S. 3).</p><p>Die Studie bestätigt erneut die hier im Blog vielfach vorgetragene Erkenntnis, dass Extremisten sehr belastete Kindheitshintergründe aufweisen! </p><div><br /></div>Unknownnoreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-16293711446370484.post-27539698809044551412023-03-12T15:50:00.001+01:002023-03-12T15:50:35.647+01:00"Hitlers Mann im Vatikan": Kindheit von Bischof Alois Hudal<p>Auf Alois Hudal bin ich zufällig gestoßen. Meine verwendete Quelle für seine Kindheitserfahrungen ist:</p><p><b>Sachslehner, J. (2019). Hitlers Mann im Vatikan. Bischof Alois Hudal. Ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Kirche. Molden Verlag, Wien – Graz.</b></p><p>Der Titel erklärt bereits etwas, wer dieser Mann war. In der Buchbeschreibung wird es nochmals deutlicher: „<i>Adolf Hitler wurde von Bischof Alois Hudal als Siegfried deutscher Größe verehrt, das Ideal des aus Graz stammenden Theologen war ein christlicher Nationalsozialismus, verbunden mit der Vernichtung der kommunistischen und bolschewistischen Weltgefahr. Als Rektor des deutschen Priesterkollegs Santa Maria dell Anima und Leiter des vatikanischen Pass- und Flüchtlingsbüros avanciert der umtriebige Bischof nach 1945 zum Fluchthelfer für zahlreiche NS-Kriegsverbrecher, unter ihnen Alois Brunner und Franz Stangl</i>.“</p><p>Alois Hudal scheint ein schlechtes Verhältnis zu seinem Vater gehabt zu haben: „<i>Alois Hudal, der sich den Namen der Mutter gewünscht hätte, verschloss sich Zeit seines Lebens der Erinnerung an seinen Vater. Konsequent betrieb er eine damnatio memoriae, einige abfällige Bemerkungen sind alles, wozu er sich hinreißen ließ</i>“ (S. 16). </p><p>Über seine Mutter und ihre Beziehung zu seinem Vater schreibt Hudal: „<i>Sie lebte mit 73 Jahren ganz allein, schwer geprüft durch eine unglückliche Ehe mit einem Mann, der religiös und politisch im kirchenfeindlichen Lager der Sozialisten stand</i>“ (S. 19). <br />An anderer Stelle berichtet er über die Mutter: „<i>Sie war eine bescheidene, schlichte Frau, aber durch ihren tiefen Glauben von menschlicher Haltung. … So oft ich ihr Zimmer betrat, fand ich sie im Gebet versunken, eine milde fast unendlich primitive Religiosität, reine Engherzigkeit zeichnete sie aus</i>“ (S. 20). Dem hängt er an, dass infolge „<i>ihres unglücklichen Familienlebens</i>“ ihr Leben „<i>ein täglicher Opfergang</i>“ gewesen sei. </p><p>Was bedeutet es für ein Kind, die Mutter stets "versunken" vorzufinden? Wie war der psychische Zustand dieser Mutter? Was hat sich alles in dieser Familie zugetragen, dass der Sohn seinen Vater derart ablehnte? Und wie sah der genaue Erziehungsstil der Eltern aus? Weitere Details dazu finden sich leider nicht in der verwendeten Quelle. Belastungen für den Jungen deuten sich allerdings an. </p><p>Ein Ereignis, das den Jungen deutlich geprägt haben wird, ist allerdings belegt. 1896 trat der damals elfjährige Alois in das Seckauer Diözesan-Knaben-Seminar ein, um ihn auf den Priesterberuf vorzubereiten. „<i>Acht Jahre lebten die heranwachsenden jungen Burschen in einer eigenen Welt, rund um die Uhr behütet und bewacht. Das religiöse Ritual bestimmte ihren Tag</i> (…)“ (S. 21). </p><p>Ein ehemaliger Zögling des Instituts berichtet von einer religiös „<i>sein Denken durchdringende Disziplin</i>“, die die Erziehung im Seminar ausmachte (S.21). Manche Zögling wären am „<i>harten Ringen</i>“ dieser Ausbildung gescheitert. „<i>Nicht wenige haben die ganze Höhe nie erreicht und versanken in soziale Isolation, zuweilen zu Sonderlingen geworden, einzelne gingen daran zugrunde, von der Welt, die sie umringte, überwältigt</i>“ (S. 22).<br />Den Berichten ist nicht zu entnehmen, wie mit den Zöglingen umgegangen wurde. Fest steht, dass sie sich einem strikten, organisierten Tagesablauf zu unterwerfen und wenig Freiheiten hatten. Für ein Kind, das ab dem elften Lebensjahr Jahre aus seiner Familie gerissen wird, werden diese Umstände deutliche Belastungen bedeutet haben. Es ist zudem keine aus der Luft gegriffene Spekulation, wenn man annimmt, dass um das Jahr 1900 herum ein autoritäres Denken in solchen Internaten vorgeherrscht haben wird, mit entsprechenden Folgen für die Kinder. </p><p>Wie so oft kann man auch bei diesem Nazi deutliche Belastungen in der Kindheit ausmachen. Das Gesamtbild, das sich aus den zitierten Passagen ergibt, ist deutlich. </p><div><br /></div>Unknownnoreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-16293711446370484.post-34547425050622759032023-03-12T15:39:00.000+01:002023-03-12T15:39:55.309+01:00Kindheit des NS-Täters Franz Murer<p>Meine Quelle für die Kindheit des NS-Täters Franz Murer ist:</p><p><b>Sachslehner, J. (2017). "Rosen für den Mörder": Die zwei Leben des SS-Mannes Franz Murer. Molden Verlag, Wien – Graz – Klagenfurt. </b></p><p>Aus der Inhaltsbeschreibung: „<i>Der steirische Bauernsohn Franz Murer, ausgebildet auf der NS-Ordensburg Krössinsee, errichtet im Ghetto von Wilna eine wahre Herrschaft des Schreckens. Seine Brutalität und sein Sadismus sind gefürchtet, Frauen und Kinder bevorzugte Opfer</i>.“</p><p>„<i>Murer war sehr aktiv. Er brauchte Blut. Er musste Menschen morden. Das war ihm eine Art Bedürfnis. Ein Unmensch</i>“ (Augenzeugin Mascha Rolnikaite) (S. 7). </p><p>Franz Murer wurde im Januar 1912 als siebtes Kind seiner Eltern geboren. Eine solche große Geschwisterzahl war damals keine Seltenheit. Trotzdem kommentiere ich diesen Sachverhalt stets gerne damit, dass diese Anzahl von Kindern auch wenig Zeit der Eltern für das einzelne Kind bedeutet haben wird und – damalige Lebensverhältnisse zu Grunde legend – auch Kindesvernachlässigung deutlich wahrscheinlicher macht. Die Familie hatte zudem einen Hof zu bewirtschaften und ständig mussten die Eltern arbeiten. Der Biograf schreibt mit Blick auf die Geburt von Franz: „<i>Maria Murer bleibt nur eine kurze Zeit der Erholung – die Arbeit am Hof ruft, auch jetzt im Winter</i>“ (S. 14). Bereits 1913 kommt noch ein weiteres Kind hinzu: Georg. Insgesamt wird Maria Murer ihrem Mann dreizehn Kinder gebären und dies war in der Tat eine außergewöhnlich hohe Zahl, selbst zur damaligen Zeit! Ein Mädchen namens Katharina starb allerdings wenige Wochen nach der Geburt. Ob die anderen Kinder alle überlebten, erschließt sich in der Quelle nicht. </p><p>Über den Erziehungsstil der Eltern erfährt man nichts in der verwendeten Quelle. Allerdings gab es einen großen Wendepunkt und Einschnitt im Leben des Jungen. Seine Eltern schickten den damals elfjährigen Franz für einige Jahre in einen über 50 Kilometer entfernten Ort in die Schule. Ein Postunterbeamter sorgte nun als „<i>verantwortlicher Aufseher</i>“ für den Jungen (S. 17). <br /><br />Als Vierzehnjähriger wechselt Franz zunächst auf eine Schule in Neumarkt. Zwei Jahre später geht es weiter nach Grottenhof bei Graz. Auf Grund der Entfernung zu dem elterlichen Hof gehe ich davon aus, dass er weiterhin nicht bei seiner Familie lebte (der Biograf führt dies leider nicht im Detail aus), sonst wäre der Weg zur Schule nicht schaffbar gewesen. Somit verlor dieser Junge ab dem elften Lebensjahr gänzlich sein Familienleben und war abhängig vom Wohlwollen fremder Menschen. Wie er dies erlebte und empfand und welche Art von Belastungen er in dieser Zeit erlebte, scheint nicht überliefert zu sein. Man braucht allerdings nicht viel Fantasie dafür, um sich vorzustellen, dass dieser Junge im Grunde tief vereinsamt aufgewachsen ist und sich durchschlagen musste. </p><p><br /></p><p><br /></p><p><br /></p>Unknownnoreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-16293711446370484.post-47385658989847873752023-02-26T11:45:00.009+01:002023-02-27T12:09:14.610+01:00 „Warum ich Nazi wurde“: Biogramme früher Nationalsozialisten<p>Ich habe ein sehr interessantes Buch entdeckt:</p><p><b>Giebel, W. (Hrsg.) (2018). „Warum ich Nazi wurde“: Biogramme früher Nationalsozialisten. Die einzigartige Sammlung von Theodore Abel. Berlin Story Verlag, Berlin. </b></p><p>Das Buch und sein Inhalt werden in einem Artikel vom <a href="https://www.deutschlandfunkkultur.de/wieland-giebel-hrsg-warum-ich-nazi-wurde-begeisterung-fuer-100.html" target="_blank">Deutschlandfunk</a> ausführlich vorgestellt, insofern erspare ich mir eine große Einleitung durch den Link.</p><p>Nur kurz: Theodor Abel hat 1934 per Preisausschreiben die Kurzbiografien von etlichen überzeugten Nazis erhalten und gesammelt, die alle vor 1933 Mitglieder der NSDAP waren. </p><p>Das Interessante für mich sind dabei natürlich mögliche Schilderungen über Kindheitshintergründe. Allerdings zeigte sich schnell, dass die meisten biografischen Schilderungen sich bezogen auf die Kindheit rein auf Oberflächendaten beziehen: Geburtsdatum, Geburtsort, Berufe der Eltern, Schullaufbahn, Ausbildung. Für die Akteure, die nur diese Oberflächendaten beschrieben, bleibt die Kindheit im Dunkeln (was auch bedeutet, dass negative Erfahrungen nicht auszuschließen sind). Allerdings haben auch mehrere Akteure Hinweise auf ihre Kindheit geliefert. </p><p>Was mir zunächst immer wieder auffiel, ist der Tod von Vätern (was bei mehr Akteuren der Fall war, als ich unten in meinen Auszügen darstelle). Dies ist bei dieser „Nazi-Generation“ auch kaum verwunderlich, weil viele Väter im Ersten Weltkrieg umkamen. Für die Kinder allerdings ist der Verlust des Vaters eine enorme Belastung. Was mir ergänzend ins Auge fiel (sofern die Akteure Angaben dazu machten), ist die hohe Anzahl an Geschwistern. Viele Geschwister (gepaart mit sehr viel zu erledigenden Arbeiten der Eltern in der damaligen Zeit, was auch einzelne Akteure so berichten) können zumindest auch ein Indiz für Vernachlässigung sein. </p><p>Anbei stelle ich die Akteure vor, für die sich belastende Kindheitserfahrungen andeuten oder sogar belegen lassen. Diese Generation ist nicht gerade bekannt dafür, allzu kritisch über die eigenen Eltern zu berichten oder diesbezüglich deutliche, offene Worte zu finden. Wenn man zwischen den Zeilen liest, wird man aber auch hier manches Mal fündig. </p><p>Dies gilt so z.B. für <b>F. Lüttgens</b> (nach 1900 als Sohn eines Fabrikarbeiters geboren). Über seinen Vater berichtet er: „<i>Ich entsinne mich noch sehr gut, dass wir Kinder ihn nicht allzuhäufig zu Hause gesehen haben, wenn er zu Hause war, so war dieses zu Hause sein auch nichts anderes als Arbeit und Mühe</i>“ (S. 254). Die Mutter scheint ebenso viel beschäftig gewesen zu sein: „<i>Die Mutter war eine brave, ehrliche deutsche Hausfrau. (…) In heisser Liebe arbeitete sie morgens von ½ 5 Uhr bis abends spät für ihren Mann und ihre Kinder</i>“ (S. 254). Lüttgers betont im Nachsatz, wie wichtig Deutschland für die Eltern war. „Naturgemäß“ sei auch bei den Kindern der Same der Vaterlandsliebe gesät worden, ebenso Ehrgeiz und Wissensdurst. Dem fügt er an: „<i>In der Schule machte sich die Art dieser Erziehung sehr bald bemerkbar. Absoluter Glaube an die Autorität des Lehrers gepaart mit gläubigem Vertrauen zu ihm als denjenigen, der die Arbeit von Vater und Mutter zu ergänzen hatte, trat selbstverständlich ein</i>“ (S. 255). Die Art und Weise der Wortwahl kommt geradezu einer untergebenen Lobpreisung der eigenen Erziehung gleich, die der Akteur als sehr gelungen empfindet und nicht in Zweifel zieht. Der absolute „Glaube an die Autorität“ macht mich besonders hellhörig. Wie die Eltern ihre Autorität gegenüber den Kindern durchgesetzt haben, bleibt unserer Fantasie überlassen. <br />Ein weiteres Ereignis sticht hervor: Als er zehn Jahre alt war, litt er nach einer Verletzung an einer Blutvergiftung. "<i>Durch diese Blutvergiftung wurde ich fast 2 Jahre lang an das Krankenbett gebunden. Abgeschlossen von allen Spielkameraden war ich die meiste Zeit mir ganz allein überlassen</i>" (S. 256). Ein Großteil dieser Zeit scheint er sogar im Krankenhaus verbracht zu haben, aus dem er 1914 entlassen wurde, wie er berichtet. Für ein Kind eine schwere Belastung, zu der die Trennung von den Eltern noch hinzu kam. </p><p>Der 1893 geborene <b>Fritz Schroner </b>berichtet nur wenig über seine Kindheit. Er sei das siebte von insgesamt acht Kindern gewesen. Dass diese hohe Geschwisterzahl auch Not und wenig Zeit der Eltern für die Kinder bedeutete, führt er selbst aus: "(...) <i>die hungrigen Mäuler zu stopfen, war für die Eltern nicht immer leicht. Und sie mussten wahrlich von früh bis spät tätig sein, um die Familie zu versorgen. Dass auch wir Kinder dabei auch noch im schulpflichtigen Alter je nach unserer Kraft und unserem Vermögen mit Hand anlegen mussten in Haus, Hof, Garten und Feld, war uns nicht immer leicht, aber unbedingt notwendig</i>" (S. 210). Nach dem Ersten Weltkrieg musste er fünf Jahre in Gefangenschaft in Sibirien verbringen. An diesen Jahren wäre er fast zerbrochen. </p><p>Der 1907 geborene <b>Gustav Kohlenberg</b> schreibt: "<i>Von Jugend auf war ich in streng nationalem Geiste im Elternhaus erzogen worden. Das Schicksal hat meine Familie mit schwersten Schlägen bedacht. Nur während der ersten Kinderjahre lebten wir zu Hause in Wohlstand (...) Mein ganzes Leben hat bis heute stets Kampf bedeutet</i>" (S. 236). Sieben Kinder hatte die Familie zu versorgen. Während der Kriegsjahre mussten sie eine schwere Hungerzeit und auch Krankheitswellen überstehen. </p><p>Die Kindheit von dem 1890 geborenen <b>Gustav Heinsch</b> zeigt deutliche Schatten. Er wurde als fünfter Sohn seiner Eltern geboren worden. Allerdings waren alle seine Geschwister vor seiner Geburt verstorben. Wir dürfen annehmen, dass der Tod von vier Kindern diese Eltern extrem belastet und ggf. auch den Umgang mit dem überlebenden Kind geprägt haben wird. Viel Zeit für ihren Sohn hatten die Eltern nicht. Seine Großmutter war hauptsächlich für seine Erziehung verantwortlich, denn: „<i>Meine Mutter musste genau so wie mein Vater vom frühen Morgen bis zum späten Abend auf dem Gut arbeiten. Trotzdem beide schwer arbeiteten, reichte es gerade zum Notwendigsten</i>“ (S. 344). Ab dem achten Lebensjahr musste auch Gustav nachmittags arbeiten, zusätzlich zu seinen Arbeiten für die Schule. Die Eltern mussten außerdem arbeitsbedingt häufig umziehen. Gustav besuchte in der Folge fünf verschiedene Volksschulen, was befriedigende Bindungen an Gleichaltrige sicherlich schwierig gestaltete. </p><p>Der Vater des 1868 geborenen <b>Waldemar von Schöler</b> war einst Divisionskommandeur und hatte Kriegserfahrungen. Über seine Erziehung schreibt von Schöler: „<i>In welchen weltanschaulichen Gedankengängen ich erzogen wurde, geht am klarsten aus den Grundsätzen hervor, die mir in meiner Kindheit eingeimpft wurden. Sie gründen sich alle auf die altpreußische, auf Friedrich Wilhelm I. zurückgehende Ideenwelt. Du musst vor allen Dingen stets Deine Pflicht erfüllen, ob es Dir angenehm ist oder nicht, und zwar nicht nur obenhin, sondern mit vollem Einsatz Deiner Person und Deiner Fähigkeiten</i>“ (S. 376). Das Wort „eingeimpft“ möchte ich hier hervorheben. Nach weiteren Ausführungen u.a. über Tüchtigkeit, Gewissenhaftigkeit und Sparsamkeit mit Blick auf seine jungen Jahre kommt dann noch folgender Satz: „<i>Autorität in Staat und Familie galten als die Grundpfeiler menschlicher Ordnung</i>“ (S. 377). Man kann sich entsprechend vorstellen, dass dieser Junge autoritär erzogen worden sein wird, auch wenn er keine konkreten Beispiel dafür gibt. </p><p>Der 1904 geborene <b>Alfred Raeschke</b> zog im Altern von sechs Jahren vom Lande in die Stadt, nach Berlin. Ca. ab dem dritten Kriegsjahr des Ersten Weltkriegs musste die Familie hungern. „<i>Und das Schlimmste: ein Familienleben kannten wir nicht mehr. Alle kannten wir nicht – waren uns immer selbst überlassen. Denn die Frauen mussten ja die Arbeiten der Männer machen, die im Felde standen. (…). So sahen wir den Vater gar nicht, die Mutter aber nur des Abends. Doch dann konnte sie sich uns nicht widmen, weil sie ja das Haus noch zu besorgen hatte und auch müde war von der schweren Arbeit. So wuchsen wir heran, ohne rechtes Familienleben, voller Hunger, tiefe Not erlebend</i>“ (S. 538). Nach der Schulzeit (im Jahr 1917) kam er zunächst in die Lehre. Der Hunger und die Not wurden schließlich so groß, dass die Mutter ihren Sohn aufs Land zu einem Bauern schickte. „<i>15 Jahre war ich nun alt, aber arbeiten musste ich wie ein Erwachsener</i>“ (538). Aber immerhin, er hatte genug zu essen und hatte überlebt. </p><p>Der 1897 geborene <b>G. Goretzki</b> hat keine großen Einblicke in seine Kindheit gegeben. Er schreibt allerdings: „<i>Die Erziehung im Elternhaus war streng, die Jugend trotzdem aber schön und sorgenlos. Vom Vater lernte ich die Tugenden altpreußischen Beamten- und Soldatentums kennen</i>“ (S. 348).<br />Wie oft schon habe ich Sätze gelesen, in denen die Akteure dieser Zeit rückblickend auf ihre Kindheit blicken, von „Strenge“ in der Erziehung berichten und im gleichen Satz Wörter wie „schön“, „sorgenlose“ oder gar „Liebe“ verwenden? Meiner Auffassung nach ist diese Vermischung beider Ebenen bereits ein Anzeichen für die Folgen der „strengen Erziehung“. Die Strenge wird i.d.R. von dieser Generation nicht kritisiert und sogleich beschönigt. Was bedeutete elterliche Strenge um 1900? Wir können mit hoher Wahrscheinlichkeit auch von Körperstrafen ausgehen! Dass Goretzk durch seinen Vater preußisch-soldatisch erzogen wurde, ist ein weiteres Anzeichen für eine belastete Kindheit. </p><p>Ähnlich wie Goretzk berichtet auch der 1906 geborene <b>Friedrich Christian Prinz zu Schaumburg-Lippe</b> von seiner Erziehung, ohne dabei – wie so oft bei biografischen Darstellungen aus dieser Zeit - ins Detail zu gehen. Der Prinz wuchs in reichen Verhältnissen auf. „<i>Trotz dieser völligen Unabhängigkeit von irgendwelchen materiellen Schwierigkeiten war die Erziehung, die mir zuteil wurde, eine einfache, ja in mancher Weise soldatisch zu nennende, - immer, in allen Fragen des Lebens auf den Staat und das Volk gerichtet, der grossen Tradition einer tausendjährigen Familiengeschichte entsprechend</i>“ (S. 616). Eine „soldatische Erziehung“ wird eine strenge Erziehung mit manchen Belastungen für das Kind gewesen sein. </p><p>Der 1910 geborene <b>Edmnd Dienhart</b> hatte eine mehrfach belastete Kindheit. Als er fünf oder sechs Jahre alt war brach der Erste Weltkrieg aus. Er war das Jüngste von insgesamt sieben Kindern. An einer Stelle schreibt er etwas von einem bzw. seinem „<i>gestrengen Vater</i>“ (S. 592), ohne weitere Details zum väterlichen Umgang mit den Kindern zu schildern. Als er acht Jahre alt war, starb der jüngste seiner Brüder. Dienhart gibt dem jüdischen Chefarzt, der seinen Bruder operiert hatte, die Schuld am Tod des Bruders. „<i>Da ich meinen verstorbenen Bruder besonders liebte, stieg in mir Achtjährigen mit der Zeit ein Groll auf gegen den Chefarzt und dieser noch nicht recht begreifbare Hass steigerte sich mit meinem Alter zu einem Wiederwillen gegen alles, was jüdisch war</i>“ (S. 592). Infolge einer Kinderkrankheit nahm seine Sehkraft ab dem neunten Lebensjahr stetig ab. Seine jüngste Schwester kümmerte sich in der Folge verstärkt um ihren Bruder. Allerdings musste sie das Zuhause verlassen und er sei ab dann „<i>meist alleine</i>“ gewesen (S. 592). Ab dem zehnten Lebensjahr kam Edmund zu einem Onkel und verlor somit sein gewohntes Familienleben. Innerhalb der folgenden zwei Jahre hatte er wohl mehrere Klinikaufenthalte von jeweils mehreren Wochen zu überstehen. Durch die Behandlungen wurde seine Sehkraft verbessert und kam wieder zurück. </p><p>Der 1910 geborene <b>Paul Matter</b> war vier Jahre alt, als sein Vater im Ersten Weltkrieg fiel. In der Folge wurde er auch von seiner Mutter getrennt und zur Erziehung zu den Großeltern geschickt. Als er acht Jahre alt war, heiratete seine Mutter erneut. Mit seinem Stiefvater scheint er sich nicht gut verstanden zu haben, denn er berichtet: „<i>Als ich meinem 14. Lebensjahr aus der Schule kam, verließ ich sofort das Elternhaus, denn mein Pflegevater, war doch nicht der Vater, der im Weltkriege für´s Vaterland starb</i>“ (S. 680). Er begann dann eine Bäckerlehre in einem anderen Ort. </p><p>Der 1912 geborene <b>Karl Friedrich Nau</b> hat fast nichts aufschlussreiches über seine Kindheit geschrieben und beschreibt nur kurz Eckdaten. Ab dem 14. Lebensjahr ging er in die Lehre und war mit 17 Jahren ausgelernt. Er habe lange ersehnt, danach endlich seinen Heimatort verlassen zu können und weitere Teile Deutschlands kennen zu lernen. Er zog dann auch fort und schreibt: „<i>Bad-Nauheim war für mich etwas anderes als zu Hause, denn wir waren vier Geschwister und es musste in jeder Hinsicht dem väterlichen Willen gefolgt werden. Nun war ich für mich und konnte mich in meinen freien Stunden dem widmen, wonach ich mich sehnte</i> (…)“ (S. 718). <br />Auch hier erfahren wir wieder keine Details über das väterliche Erziehungsverhalten. Allerdings zeigen seine Ausführung überdeutlich in Richtung autoritäre Erziehung. </p><p>Der 1901 geborene <b>Fritz Keppner</b> berichtet im Grunde nichts über seine Familie und Kindheit. Was mir ins Auge stach war aber, dass er als Dreizehnjähriger (im Jahr 1914) eine Gelegenheit nutzte, um sich heimlich einer Maschinengewehrkompanie an der Front anzuschließen. Erst nach einer Woche fiel dies auf und man brachte ihn zurück. Er versuchte daraufhin erneut an die Front zu kommen, wurde aber aufgegriffen und musste zurück nach Hause. Er berichtet noch, dass er Mitglied der SS war und im Jahr 1930 seine Mutter Waffen versteckte, als die Polizei kam (S. 725f.). All diese Erzählungen deuten auf eine entsprechende Prägung im Elternhaus hin. Als Dreizehnjähriger unbedingt an die Front kommen zu wollen, ist schon bemerkenswert. </p><p>Der 1903 geborene <b>Paul Moschel</b> war das sechste von zwölf Kindern. Das entsprechend wenig Zeit der Eltern für ihn da gewesen sein wird, erschließt sich von selbst. Er selbst formuliert es so: „<i>Da unsere Familie so groß war und meine Eltern keinen Besitz hatten, musste ich mit meinen Geschwistern eine harte Kinderzeit durchmachen, aber die härteste während der Kriegsjahre. Wir waren durch meine guten Eltern echt deutsch erzogen, meine zwei älteren Brüder stellten sich bei Ausbruch des Krieges freiwillig in den Dienst unseres Vaterlandes mit 17 und 18 Jahren</i>“ (S. 730). Beide Brüder starben. Über die Kriegsjahre und die Not der Familie schreibt er noch, dass sie eine Zeit durchmachen mussten “<i>in der wir an Hunger, Entbehrung und Elend so viel erlebten, das in Worten nicht zu fassen ist</i>“ (S. 730). Als Vierzehnjähriger war er damals der älteste Sohn und versuchte mitzuhelfen, die Familie durchzubringen. Unter der Besetzung der Franzosen wurde Paul im Alter von sechszehn Jahren inhaftiert und saß eine Zeit lang im Gefängnis. Auch dies ist eine schwere Belastung für einen Minderjährigen. </p><p>Der 1882 geborene<b> Robert Friedrich</b> berichtet im Grunde fast gar nichts über sein Elternhaus (S. 741f.). Er sei als vierter Sohn seiner Eltern geboren und nach evangelischer Kirschensitte erzogen worden. Im Alter von nur zwölf Jahren ging er auf eine Militärschule und blieb dort bis zu seinem siebzehnten Lebensjahr. Auf diese Zeit geht er nicht weiter ein. Auf Grund der räumlichen Distanz zwischen seinem alten Heimatort und dem Sitz der Militärschule, gehen ich davon aus, dass er auch in der Schule lebte und wohnte (was eine andauernde Trennung von der Familie bedeuten würde). Danach wechselte er auf eine Unteroffiziersschule. Sein Weg blieb militärisch dominiert und er kämpfte im Ersten Weltkrieg. Schon seit seiner Kindheit war dieser Junge militärisch geprägt und erzogen worden. </p><p>Die 1898 geborene <b>Hedwig Eggert</b> war das achte Kind ihrer Eltern, die insgesamt elf Kinder bekamen. „(…) <i>davon sind 5 am Leben geblieben, die übrigen 6 sind teils klein, teils größer gestorben</i>“ (S. 753). Ein Bruder sei im Alter von dreizehn Jahren gestorben und dies sei ein „<i>herber Schlag für meine Eltern</i>“ gewesen (S. 753). Entsprechend werden die Todesfälle auch Hedwig geprägt und belastet haben. Ihr Mutter „<i>musste von früh bis spät in der Fabrik mitarbeiten, um all die hungrigen Mäuler stopfen zu können</i>“ (S. 753). Der ebenfalls berufstätige Vater hatte nur einen geringen Lohn, der kaum reichte. Die Kinder werden irgendwie gelernt haben müssen, unter diesen Mangelbedingungen klar zu kommen und zu überleben. </p><p>Der Vater des 1900 geborene <b>Fritz Junghanss</b> fiel 1917 im Krieg. Fritz muss zu der Zeit sechszehn oder siebzehn Jahre alt gewesen sein. Vermutlich war schon früh seine Mutter gestorben (oder hatte die Familie verlassen), denn er schreibt „<i>Meine natürliche Mutter hatte ich nicht gekannt, erhielt aber mit 10 Jahren eine Stiefmutter, zu der ich in einem schlechten Verhältnis stand, da sie kleinlich und gehässig war und ich mir ihr bald in jeder Beziehung überlegen fühlte. Mein Vater war nicht glücklich mit ihr und diese Stimmung im Elternhause war nicht dazu angebracht, Kinder (ich hatte noch einen drei Jahre jüngeren Bruder) mit Liebe und Vertrauen zu erziehen. Ich war daher darauf angewiesen, mich ohne die Stütze der elterlichen Hände charakterlich selbst zu bilden</i> (…)“ (S. 780). <br />Der Herausgeber des Bandes (zu dem ich im Schlussteil noch etwas anmerken werde), stellt den meisten Biografien (die oft im Original abgebildet sind) eine Zusammenfassung vor. Auffällig ist hier, wie auch an anderen Stellen, dass er diese besondere und herausstechende Belastung in Kindheit und Jugend des Akteurs nicht in die Zusammenfassung mit aufnimmt, was sich absolut angeboten hätte. Belastungen, die er in dem Band in den Zusammenfassungen mit aufnimmt, sind i.d.R. der Tod von Familienmitgliedern oder der Wechsel des Wohnorts/der Familie. Auf den Herausgeber und seine Herangehensweise komme ich noch zurück. </p><p>Der 1902 geborene <b>Alfred Buchholz</b> kam als viertes von insgesamt sechs Kindern seiner Eltern zur Welt. Er sei in „<i>bescheidenen Verhältnissen, unter liebereicher Pflege meiner mustergütigen Eltern</i>“ herangewachsen (S. 806). Diese anfängliche idealisierende Beschreibung seiner Eltern sollte uns sogleich im Gedächtnis bleiben, wenn wir uns seine weiteren Schilderungen anschauen!<br />Sein Vater war preußischer Unteroffizier bei einem Eisenbahnregiment. Entsprechend wird dieser militärische Einfluss auch das Familienleben geprägt haben. <br />Seine Mutter beschreibt er u.a. wie folgt: „<i>Ihr Augenspiel, das besonders auffallend bei öfter notwendig werdenden Ordnungsrufen in Erscheinung trat, ist mir und auch meinen Geschwistern tief in`s Herz geschrieben und glich doch allzusehr dem strengen Augenzuge unseres `Alten Fritz`. Wir meinten später manches Mal: `Der Alte Fritz geht um, der Knüppel wird gleich tanzen</i>`“ (S. 807).<br />Ganz offensichtlich hat diese strenge Mutter ihre Kinder mit einem Gegenstand misshandelt. Alfred Buchholz schmückt diese Erfahrungen geradezu schriftstellerisch aus und beschönigt sie dadurch deutlich. Kritik an dem Erziehungsverhalten gibt es seinerseits nicht. Im Gegenteil, er holt sogleich zu weiteren Höhenflügen aus, wenn es um die Eltern geht: „<i>Beide, Vater und Mutter, sind strenge, sittliche reine, züchtige und mit feinstem Liebesempfinden ausgestattete Menschen, deren Liebe sehr wohl ihre guten Grenzen kannte (…). Ihnen gilt schon seit meiner frühsten Jugend meine ganze Verehrung und stets bin ich bemüht, mich meinen Eltern gegenüber dankenswert zu erweisen</i>“ (S. 807). </p><p>Lobpreisungen und das Wort „Liebe“ gleich im Anschluss nach Schilderungen über mütterliche Gewalt und Strenge, erneut taucht dies hier auf. Es ist dies klassisch für das mit dem Aggressor identifizierte Kind, das nur so seine Misere ertragen kann. <br />Gleich nach seinen Lobpreisung berichtet er wieder über Gewalterfahrungen: „<i>Hässliche Worte, zänkisches Handeln, aufkommende schlechte Manieren wurden unter strengster Wacht der Eltern nicht geduldet sondern stets zu gutem Handeln und zum Verständnis ermahnt, was ich auch sehr beherzigte. Half jedoch die Milde und Güte nichts mehr, dann tanzte es eben reichlich fühlbar auf den Po</i>“ (S. 807). „Tanzte“ auf den Po, auch in dieser Formulierung steckt bereits die Verdrehung der Wirklichkeit, nämlich das es eigentlich Gewalt ist, was dieses Kind erfährt, die offensichtlich „reichlich“ ausgeteilt wurde. Als Kind erlebte er zudem den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und schwere Hungerzeiten. </p><p>Nach vielen Schilderungen u.a. über seinen Kampf für die Nazis schreibt er im Schlussteil:<br />„<i>Viele ereignisreiche Dinge meines Lebens, besonders auch im Kampf als Hitlerdeutscher, könnte ich noch aufweisen, doch müsste ich mich dann zu sehr verbreitern. Ich aber fühle, dass wir Deutsche heute echte und bester Ringer des Friedens sind in einem neuen Geiste (…). Schlägt und würgt man aber ein Volk, so schlägt und würgt man auch Gott und seine Himmel werden sich vernichtend rächen. Eines darf ich von mir noch sagen, denn es ist meine Kraftquelle: Ich blieb aufrecht und rein; und würde aber meinen Körper zu Füßen des Todes legen, ehe ich davon abwich</i>“ (S. 821).<br />Es bietet sich geradezu an, die Fantasien von einem <i>geschlagenen</i> und <i>gewürgten </i>Volk, das sich rächt, und für <i>Reinheit</i> kämpft mit seiner Misshandlungsgeschichte im strengen Elternhaus zu verbinden. Dieses sich „dreckig“ und sich „unrein“ fühlen, sind klassische Gefühle, die misshandelte Kinder haben, die aber später verdrängt werden. Die Umkehrung (bzw. Projektion) davon, also sich „rein“, „sauber“, „anständig“ fühlen zu wollen und gegen den „Dreck“ bei Anderen zu kämpfen (Die „dreckigen Juden“ oder DIE „dreckigen Ausländer), um „Reinheit“ herzustellen, ist etwas, das man oft bei Extremisten aller Arten beobachten kann. Und das halte ich nicht für einen Zufall!<br />Auch die Todessehnsucht, die Alfred Buchholz nebenbei zum Ausdruck bringt, sehe ich verbunden mit seinen Kindheitserfahrungen. Etwas, das ganz sicher viele damalige Nazis so oder so ähnlich empfunden haben werden. Hitler und sein Weltbild umgab schließlich ein Todeskult. Heute können wir diese Todessehnsucht u.a bei Islamisten beobachten. </p><p>Aufschlussreich sind die Anmerkungen des Herausgebers mit Blick auf die Erkenntnisse aus den vielen Biogrammen. Unter der Zwischenüberschrift „Warum wurden sie Nazis – Thesen“ schreibt er u.a.: „<i>Soziologen und Historiker versuchen heute mit unterschiedlichen Theorien und Erklärungsmodellen eine Antwort auf die Frage zu ergründen, warum jemand Nazi geworden ist: Traumatisierung durch den Ersten Weltkrieg, Demütigung des Nationalgefühls, Abrutschen der Mittelschicht, Isolation und Verunsicherung des Einzelnen, Existenzangst nach Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise. Kein Wissenschaftler kann aber erklären, warum eine junge Frau, die ein Biogramm schreibt, überzeugte, aktive, gnadenlose Nationalsozialistin geworden ist, sie sich selbst radikalisiert hat, ihre zehn Geschwister aber nicht</i>“ (S. 23). <br />Und: „<i>Meine These als Ergebnis der Auswertung dieser vielen hundert Biogramme ist: Wer Nazi werden wollte, wer sein Heil in dieser Ideologie mit überlegender Rasse und Untermenschen suchte und auf Hitler als Erlöser setzte, wurde Nazi – und war dafür allein verantwortlich. Es war eine ganz individuelle Entscheidung, Nazi sein zu wollen (…). Sie wollten das so</i> (S. 24).“</p><p>Ca. 82 Biogramme hat der Herausgeber für das Buch ausgewählt und vorgestellt, von ursprünglich fast 581 erhaltenen Biogrammen von damaligen Nazis. Davon wiederum habe ich 17 herausgesucht, die zumindest Andeutungen über Kindheitsbelastungen enthalten. Die restlichen Biogramme enthalten bzgl. der Kindheit im Prinzip keine Infos, die hier relevant wären. Was sich aber auch zeigte: kein einziger von den 82 beschreibt eine gänzlich unbelastete, gar liberale oder gewaltfreie Kindheit, auch dies muss man hier feststellen. <br />Man könnte jetzt meinen, dass es sehr spekulativ wäre, von den 17 Akteuren auf die Gesamtheit zu schließen. Ich halte dem entgegen, dass wir heute sehr wohl darum wissen, dass eine strenge, autoritäre Erziehung, die Kindern kaum eigene Freiheiten gestattete und sowohl im Elternhaus als auch in der Schule Körperstrafen üblich waren, die damaligen Normen waren. Die oben zitierten 17 Akteure deuten dies oftmals klar an oder bestätigen es manchmal sogar überdeutlich (vor allem im zuletzt genannten Fallbeispiel). Dass die anderen Akteure keine Details in dieser Hinsicht berichten, sagt nicht aus, dass sie es nicht ähnlich erlebt haben. Gerade Erziehungsnormen wurden von der damaligen Generation kaum hinterfragt, sondern als „normal“ und nicht erwähnenswert hingenommen. Ich sehe diese 17 Akteure eher als Sprachrohr für die Anderen, als die Minderheit, die ausnahmsweise Details aus der eigenen Erziehung Preis gibt. <br />Das Gleiche gilt übrigens auch bezogen auf die Hungererfahrungen im Ersten Weltkrieg und die Abwesenheit der überarbeiteten oder am Krieg beteiligten Elternteile. Es würde kaum Sinn machen, diese grundlegenden Erfahrungen der damaligen Generation für diejenigen Akteure auszuschließen, die hier nicht darüber berichtet haben. Nicht jeder möchte solch schlimmen Erfahrungen erinnern und in seinem Biogramm öffentlich festhalten, was nur all zu nachvollziehbar ist. </p><p>Ich selbst kannte - nebenbei bemerkt - mal einen Mann, der Anfang der 1930er Jahre geboren wurde. Durch Dritte (Verwandte von ihm) wusste ich, dass er als Kind von seinen Eltern schwer misshandelt worden war. Er selbst pflegte einmal zu sagen, dass er immer viel von seinen Eltern „kritisiert“ worden war. Das war genau die Art und Weise, wie diese Generation das Schweigegebot und den Gehorsam gegenüber den Eltern eingehalten hat. Es gehörte sich schlicht nicht, die Eltern zu kritisieren oder öffentlich Einblicke in elterliches Erziehungsverhalten zu geben. Insofern ist es schon fast ein Glücksfall, dass wir hier 17 Berichte haben, die manche Hinweise enthalten!</p><p>Kommen wir zu den Anmerkungen des Herausgebers. Ja, es gab viele Familien, in denen die einen Kinder der Familie Nazis wurden und die anderen nicht. Für mich ist das kein Widerspruch, weil die Einflüsse auf Wege von Menschen vielfältig sind. Für mich zählt viel mehr der Punkt, dass die, die Nazis wurden, keine nachweisbar unbelastet, geliebt und gewaltfrei aufgewachsenen Kinder waren (was uns ja auch <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2020/09/kindheitsursprunge-von.html">heutige Studien über entsprechende Akteure</a> eindrucksvoll aufzeigen). Das ist das Fundament, das Nazi-Deutschland überhaupt möglich machte. Und ja, ich gebe dem Herausgeber ein Stück weit Recht, dass die damaligen Akteure auch wollten, was sie taten, dass sie Entscheidungen trafen, für die sie verantwortlich waren. Hätten Sie diese Entscheidungen aber auch so getroffen, wenn sie eine unbelastete und liberale Kindheit erlebt hätten? Aus meiner Sicht: Nein!</p><p>Und genau deswegen halte ich diesen Band für besonders wertvoll. Auch wenn der Herausgeber selbst gar nicht bemerkt zu haben scheint, was hier auch nachgewiesen wird: Das diese Nazis belastete Kindheiten hatten. </p><p><br /></p><p><br /></p>Unknownnoreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-16293711446370484.post-41172575155921777672023-02-12T14:52:00.004+01:002023-02-12T14:54:26.922+01:00Islamistischer Terror: Die Kindheit der Brüder Merah<p><b>Mohamed Merah</b> verübte <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Anschlagsserie_in_Midi-Pyr%C3%A9n%C3%A9es" target="_blank">2012 in Frankreich islamistische Anschläge</a>, bei denen sieben Menschen getötet wurden, darunter drei Kinder. Der Täter wurde später von Sicherheitskräften erschossen. Sein Bruder, <b>Abdelkader Merah</b>, wurde 2017 für die Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung schuldig gesprochen und zu 20 Jahren Haft verurteilt. </p><p>Die Brüder Merah sind unter äußerst belastenden Umständen in einer dysfunktionalen Familie aufgewachsen. Beide entwickelten früh einen Hang zur Kriminalität.</p><p>Mohamed Merah musste sich erstmals im Alter von nur dreizehn Jahren vor einem Gericht verantworten. Er galt als äußerst gewaltbereit, was auch seine Mutter und die Geschwister zu spüren bekommen hatten. Seine Mutter ging er sogar derart hart an, dass Außenstehende ihre Verletzungen sehen konnten. <br />Seine aus Algerien stammende Mutter, Zoulikha Aziri, wurde im Alter von 18 Jahren gezwungen, einen Mann zu heiraten, der bereits verheiratet war und einige Kinder hatte. Sie folgte ihrem Mann 1981 mit einem Sohn und einer Tochter nach Frankreich, ihr Mann hatte dort Arbeit gefunden. Eine erste Tochter war noch in Algerien im Säuglingsalter verstorben, entweder krankheitsbedingt oder durch Vergiftung seitens der Mutter ihres Mannes, sie wisse es nicht genau, sagte sie vor Gericht aus (Sayare, S. 2018. <a href="https://newrepublic.com/article/151136/terrorist-association-french-law-criminalizes-islamist-ideas" target="_blank">Terrorist By Association</a>. <i>The New Republic</i>).</p><p>Es folgte die Geburt einer weiteren Tochter und ihres Sohnes Abdelkader. Sie wollte keine weiteren Kinder und versuchte zu verhüten. Dann wurde ihr Sohn Mohamed geboren, ein ungewolltes Kind. <br />Ihr Mann war gewalttätig, schlug seine Frau und sandte Geld zu seiner Zweitfrau in Algerien. Irgendwann hielt es Zoulikha Aziri nicht mehr aus: “<i>In 1992, she fled with her children to a women’s shelter, and a divorce was completed several months later, at which point whatever stability the family may have known seems to have evaporated</i>” (Sayare, S. 2018. <a href="https://newrepublic.com/article/151136/terrorist-association-french-law-criminalizes-islamist-ideas" target="_blank">Terrorist By Association</a>. <i>The New Republic</i>).</p><p>An Stelle ihres Mannes trat nun ihr eigener Bruder, er führte sich wie ein Patriarch auf, schlug seine Schwester und auch ihre Kinder. „<i>Her eldest son, Abdelghani, began drinking heavily; he too beat his mother and his siblings, especially Abdelkader, who was flagged by social workers as a “child in danger” as early as 1995. Various testimonies suggest Abdelkader was raped by an uncle, as well. As he grew older, the middle brother exhibited a distinct sadism and was once alleged to have tied Mohammed to a bed by his wrists and ankles and beaten him for two hours with a broomstick. For most of his childhood, Mohammed would be in and out of group homes, where he could be protected from his brother. Abdelkader beat his older sisters if they smoked or stayed out late; he beat his mother, too, and she took to locking herself in a bedroom when he was home</i>” (Sayare, S. 2018. <a href="https://newrepublic.com/article/151136/terrorist-association-french-law-criminalizes-islamist-ideas" target="_blank">Terrorist By Association</a>. <i>The New Republic</i>).<br />Mohamed “<i>was frequently sad, he reported—social workers indeed often found him crying, even as a teenager—and he sometimes thought of suicide. (In 2008, while in prison, he tried to hang himself.)</i>” (Sayare, S. 2018. <a href="https://newrepublic.com/article/151136/terrorist-association-french-law-criminalizes-islamist-ideas" target="_blank">Terrorist By Association</a>. <i>The New Republic</i>).</p><p>Nach seinem Selbstmordversuch in Haft wurde Mohamed in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Dort berichtet er den Psychologen von seiner Kindheit: „<i>Seine Eltern hätten sich im Jahr 1993, als er fünf Jahre alt war, geschieden. Der französische Vater sei im Jahr 2008 nach Algerien gezogen. Seine Mutter, so berichtet Merah, sei arbeitslos gewesen und habe große Schwierigkeiten gehabt die fünf Kinder – drei Töchter und zwei Söhne – alleine groß zu ziehen. Das jüngste Kind, Mohamed, habe die Algerierin daher ins Heim gegeben. Im Alter von 6 bis 13 Jahren habe er im Heim gelebt, so Merah. Seine Schulzeit sei chaotisch gewesen</i>“ (Flade, F. 2012. <a href="https://www.welt.de/politik/ausland/article13941581/Blick-in-die-Psyche-des-Moerders-Mohamed-Merah.html" target="_blank">Blick in die Psyche des Mörders Mohamed Merah</a>. <i>Welt-Online</i>.)</p><p>Alle drei Söhne dieser Familie tyrannisierten die eigene Mutter. Gewalt beherrschte offenkundig die gesamte Familie. Die Gewalt der Söhne traf auch den jüngsten der Brüder und die Schwestern. „<i>Aicha, die jüngste, nahm als 17 Jährige aus diesem, von ihr als „Hölle“ bezeichneten Familienmilieu Reißaus. (…) Die ältere Tochter Souad ging 2014 mit ihren Kindern nach Syrien, wo bereits ihr Mann beim „Islamischen Staat“ angedockt hatte. Zuvor hatte sie mehrmals gedroht, `sich in der U-Bahn mit ihren Kindern in die Luft zu jagen`. Ihre Opfer wären ja `keine Unschuldigen sondern Ungläubige`</i>“ (Leder, D. 2017. <a href="https://kurier.at/politik/ausland/bruder-gegen-bruder-im-terrorprozess/294.640.898" target="_blank">Bruder gegen Bruder im Terrorprozess</a>. <i>Kurier</i>).<br />Auch die Mutter hatte radikale Ansichten und war antisemitisch eingestellt. „(…) <i>als ihr jüngster, Mohamed, seine Morde begangen und als Täter identifiziert worden war, frohlockte sie: `Mein Sohn hat Frankreich in die Knie gezwungen`" </i>(Leder, D. 2017. <a href="https://kurier.at/politik/ausland/bruder-gegen-bruder-im-terrorprozess/294.640.898" target="_blank">Bruder gegen Bruder im Terrorprozess</a>. <i>Kurier</i>).</p><p>Scott Sayare bezieht sich an einer Stelle in seinem Artikel über die Brüder Merah auf den Anthropologen Ariel Planeix. Dieses Zitat erspart mir hier das Schlusswort, denn solcher Art Kindheiten finden sich regelmäßig bei Extremisten und Terroristen, was ich in meinem Blog vielfach aufzeigen konnte:<br />"<i>Planeix had been recruited by the French Ministry of Justice to produce an internal study on the lives of several dozen “radicalized” minors, some of whom had been before the courts, and others whose cases were handled by social workers. The upheaval and trauma of the Merahs’ lives were essentially average among the cases he’d seen, he said. He viewed Mohammed as a template for the generation of jihadists that has emerged since his killings. “He’s the new face of a sort of reactive violence,” he told me, violence that is politicized but that is hardly rooted in politics. The minors Planeix studied had all been abused, abandoned, or raped, and sometimes all three; if they remained in contact with their families, their families systematically denied the existence of any such problems. Their childhoods, like the Merahs’, were an almost absurd cumulation of horrors. A growing body of research suggests that, among this new generation of jihadis, this is indeed the norm</i>" (Sayare, S. 2018. <a href="https://newrepublic.com/article/151136/terrorist-association-french-law-criminalizes-islamist-ideas" target="_blank">Terrorist By Association</a>. <i>The New Republic</i>).</p><p><br /></p><div><br /></div>Unknownnoreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-16293711446370484.post-22571839959628473012023-02-03T15:49:00.003+01:002023-02-03T16:06:24.268+01:00Kindheit von Michail Gorbatschow<p>Michail Gorbatschow wurde am 02.03.1931 in einem Dorf im Nordkaukasus geboren. Er hatte keine einfache Kindheit. Seine erste Kindheitserinnerung war die an eine Suppe, in der Frösche gekocht wurden, weil eine Hungersnot herrschte (Taubman 2018, S. 38).</p><p>Während der Hungersnot 1932/1933 kamen zwei seiner Onkel und eine Tante ums Leben. Die Eltern waren zudem arm, die Kinder mussten früh mithelfen und arbeiten. Auch traf Stalins Terror die Familie, beide Großväter wurden zeitweise verhaftet. Als die deutsche Wehrmacht einmarschierte, besetzte diese einige Monate das Heimatdorf der Familie. „<i>Eine schrecklichere Zeit ist kaum vorstellbar</i>“, kommentiert sein Biograf (Taubman 2018, S. 33). <br />Er hängt dem aber sogleich an, dass Michail Gorbatschow „<i>in einem erstaunlichen Ausmaß</i>“ trotz des Schreckens um ihn herum „<i>eine glückliche Kindheit</i>“ hatte (Taubman 2018, S. 33). Beide Großväter hatten den Gulag überlebt, der Vater den Krieg. Ein Großvater leitete eine Kollektivfarm. Glückliche Umständen ließen größere Belastungen der (kurzen) deutschen Besatzung an der Familie vorüberziehen. Michail habe außerdem ein von Natur aus sonniges und optimistisches Gemüt besessen, schreibt Taubman. <br />„<i>Psychologen haben festgestellt, dass die potentiellen Opfer persönlicher Schicksalsschläge und sich anbahnender Tragödien, wenn diese durch Glück oder eigene Anstrengung ein positives Ende nehmen, von den Ereignissen profitieren und mit erhöhtem Selbstvertrauen, gesteigertem Optimismus und geringerer Anfälligkeit für Depressionen aus ihnen hervorgehen. Außerdem blieb Michail Gorbatschow nicht nur von den schlimmsten Dingen verschont, sondern wuchs in vieler Hinsicht auch unter Idealbedingungen auf. Sein Vater, Sergej Gorbatschow, war offensichtlich ein wundervoller Mann, geliebt und bewundert von seinem Sohn, der ihm `sehr nahe` stand. (…) Gorbatschows Großvater mütterlicherseits behandelte seinen Enkel mit `Zärtlichkeit`, und Zärtlichkeit ist kein Gefühl, zu dem sich russische Männer gern bekennen</i>“ (Taubman 2018, S. 33f.).</p><p>Der Großvater väterlicherseits galt hingegen als autoritär. Dennoch hatte auch dieser „<i>eine Schwäche für den kleinen Michail, und dasselbe galt für beide Großmütter</i>“ (Taubman 2018, S. 35). Dieser Großvater, „(…) <i>der alte Mann, den so viele fürchteten, wurde weich, wenn er es mit seinem Enkel zu tun hatte</i>“ (Taubman 2018, S. 37). Die Großmutter väterlicherseits beschreibt Gorbatschow in seinen Erinnerungen so: <i>Sie war „herzensgut und fürsorglich: Sie hatte mit allen Mitleid, besonders mit den kleinen Kindern. (…). Großmutter Stepanida und ich waren Freunde. Ich hatte Glück</i>“ (Gorbatschow 2013, S. 42f.). </p><p>Michails Mutter „<i>konnte kalt und strafend sein: Sie hatte Sergej eigentlich nicht heiraten wollen und disziplinierte ihren Sohn durch Schläge mit dem Gürtel, bis er dreizehn war</i>“ (Taubman 2018, S. 35). Michail Gorbatschow war demnach, wie die meisten seiner Generation, ein misshandeltes Kind! Dies wird ganz sicher deutliche Spuren in ihm hinterlassen haben. <br />Trotz des guten Verhältnisses zu seinem Vater wird es für das Kind sicher auch eine Art Schutz vor dieser strengen Mutter gewesen sein, dass er ab dem dritten Lebensjahr mehrere Jahre nicht bei seinen Eltern, sondern bei seinen Großeltern mütterlicherseits lebte. </p><p>Allerdings schreibt Michail Gorbatschow in seinen Erinnerungen auch: „(…) <i>immer war Mutter in der Nähe, immer unterstützte sie uns. Ich liebte sie. Und auch Vater liebte sie bis zu seinem Tod. Sie war eine wunderschöne Frau, sehr stark und zupackend. Vater war stolz auf sie, verzieh ihr ihre hektische Art und half bei allem</i>“ (Gorbatschow 2013, S. 50). Wenn wir ihm glauben wollen, dann hatte seine Mutter also auch durchaus positive Seiten. Das entschuldigt nicht ihre Gewalttätigkeit gegen das Kind, macht das Bild aber rund und detailreicher. Denn positive Ausgleichserfahrungen (auch mit Täter-Elternteilen), können ein Schutzfaktor sein (dagegen stehen z.B. Akteure wie <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2008/10/33-stalin-ein-diktator-der-einst-als.html">Stalin</a>, der keinerlei positive Ausgleichserfahrungen in seiner Familie machen konnte).</p><p>Über die Großeltern mütterlicherseits sagte Gorbatschow: Bei ihnen „<i>genoss ich völlige Freiheit</i> (…) <i>denn sie liebten mich abgöttisch. Bei ihnen hatte ich das Gefühl, das ich es sei, der die Hosen anhatte. Wie oft man daher auch versuchte, mich bei den Eltern wohnen zu lassen, und sei es nur für kurze Zeit, es gelang kein einziges Mal. Am Ende waren alle mit diesem Zustand sehr zufrieden</i>“ (Taubman 2018, S. 40). Die Großeltern waren relativ wohlhabend (was den Jungen offensichtlich auch gut durch die Hungernot brachte) und noch jung: die Großmutter war damals erst achtunddreißig Jahre alt. Sie prägten ganz wesentlich die frühen Jahre von Michail. </p><p>Als Michail zehn Jahre alt war, begann der Krieg. Sein Vater wurde eingezogen und die Kinder mussten fortan die Männer ersetzen, arbeiten und ihre Kindheit überspringen, wie es Michail Gorbatschow später formulierte (Taubman 2018, S. 47). </p><p>Er selbst bezeichnet sich als Kriegskind: „<i>Meine Generation ist die Generation der Kriegskinder. Wir sind gebrannte Kinder, der Krieg hat auch unseren Charakter und unserer ganzen Weltanschauung den Stempel aufgedrückt. Was wir in unserer Kindheit durchgemacht haben, ist wohl die Erklärung dafür, warum gerade wir Kriegskinder die Lebensweise von Grund auf ändern wollen</i>“ (Gorbatschow 2013, S. 46). </p><p>Der Vater kam wie bereits beschrieben lebend zurück. Eine Besonderheit sticht ins Auge. Der Vater hat nicht – wie so viele seiner Generation – über seine schrecklichen Kriegserlebnisse geschwiegen und diese in sich vergraben. Er erzählte häufig davon, auch und gerade gegenüber seinem Sohn Michail (Taubman 2018, S. 53). Das Grauen fand also Ausdruck in dieser Familie und sein Sohn hatte – dies ist meine Deutung – die Möglichkeit, seinen Vater dadurch besser nachzuvollziehen (denn die Kriegserlebnisse werden ganz sicher psychische Spuren hinterlassen haben). </p><p>Ab 1946 arbeitete Michail fünf Sommer hintereinander schwer und lange Tage mit seinem Vater auf dem Feld zusammen. Sie hatten dabei Gelegenheit für zahlreiche Gespräche. „<i>Wir redeten über Gott und die Welt, über unsere Angelegenheiten, über das Leben. Das war keine Vater-Sohn-Beziehung im alten Sinne mehr, sondern ein Verhältnis zwischen Männern, die gemeinsam arbeiteten, und der Vater verhielt sich mit gegenüber respektvoll. Wir wurden jetzt noch etwas anderes, nämlich Freunde</i>“ (Taubman 2018, S. 62).</p><p>Ich habe nach dem Kriegsbeginn Russlands gegen die Ukraine damit begonnen, etliche Kindheiten von politischen Führern bzw. Zaren in Russland zu beschreiben (siehe das <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2016/10/index.html">Inhaltsverzeichnis</a>). Die Kindheiten von historischen russischen Führungspersonen waren alle samt schwer belastet. Dies gilt auch für Michail Gorbatschow. Den wesentlichen Unterschied hat sein Biograf William Taubman deutlich hervorgehoben: <b>Michail Gorbatschow hat während seiner Kindheit und Jugend <i>gleichzeitig</i> auch eine Fülle von positiven Erfahrungen mit nahen Bezugspersonen gemacht</b>. Das ist genau das, was Resilienz bedingt, wie wir heute wissen. Das <a href="https://developingchild.harvard.edu/science/key-concepts/resilience/" target="_blank"><i>Center on the Developing Child</i> </a>der Harvard Universität schreibt dazu: "<i>The single most common factor for children who develop resilience is at least one stable and committed relationship with a supportive parent, caregiver, or other adult.</i>" <br />Das ist auch ein Unterschied im Vergleich zu <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2022/05/die-kindheit-von-wladimir-putin.html">Putin</a>, in dessen Kindheit ich keinerlei Lichtblicke ausmachen konnte. </p><p>Michail Gorbatschow war ohne Frage ein ganz außergewöhnlicher Mensch und Politiker. Er sticht unter allen bisherigen politischen Führern seines Landes hervor. Seine außergewöhnliche Kindheit wird ihren Anteil daran haben. Kindheit ist politisch!</p><p><br /></p><p><b>Quellen:</b></p><p>Gorbatschow, M. (2013). Alles zu seiner Zeit. Mein Leben. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg. </p><p>Taubman, W. (2018). Gorbatschow. Der Mann und seine Zeit. C. H. Beck, München. </p><div><br /></div>Unknownnoreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-16293711446370484.post-65372789952803674732023-01-29T14:45:00.007+01:002023-01-29T15:02:30.952+01:00Das Schwarze da unten (von Jens Söring)<div><a href="https://jens-soering.de/" target="_blank"><i>Jens Söring</i></a><i> hat mir einen weiteren Text aus seinem früheren Blog geschickt, in dem es vertiefend um das Verstecken, Verdrängen und Vergessen von Kindheitstraumata von Inhaftierten geht. Der Text ergänzt sehr gut seinen Beitrag "<a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2023/01/das-geheimnis-das-niemand-wissen-will.html">Das Geheimnis, das niemand wissen will</a>"! </i></div><div><br /></div><div>--------------------------------------------------</div><div><br /></div><div><b>Das Schwarze da unten</b> (von Jens Söring)</div><div><br /></div><div>Ein Mitglied meines Freundeskreises hat mich gebeten, einen Blogeintrag über die verschiedenen „Typen“ von Gefangenen zu schreiben. Ein mir persönlich nicht bekannter Leser meines Blogeintrags über meinen Freund Lumpen schrieb einen Kommentar, dass ich Lumpen zu menschlich darstelle und mich nicht ausreichend mit den Opfern befasse. Eine Bekannte aus meiner Zeit an der University of Virginia vor sechsundzwanzig Jahren schrieb mir zum selben Blogeintrag, sie freue sich, dass ich nun einen Freund hätte, mit dem ich mich verstehen könnte, jetzt sei ich nicht mehr so einsam.</div><div><br /></div><div>Ach, liebe Leute, manchmal macht Ihr es mir wirklich schwer. Sieben Bücher, rund fünfzig Artikel und 59 Blogeinträge habe ich mittlerweile veröffentlicht, aber wenn ich Kommentare wie die drei obigen lese, habe ich das Gefühl, dass Euch mein Leben und die Gefängniswelt immer noch vollkommen fremd sind. Vielleicht bin ich einfach nur ein schlechter Schriftsteller.</div><div><br /></div><div>Möglicherweise ist das Problem auch, dass ich zurzeit die Einsamkeit meines Lebens besonders schmerzhaft spüre. Ende Juli wurde meine Entlassung auf Bewährung („parole“) abgelehnt und nur vier Tage, nachdem ich darüber informiert wurde, erhielt ich Besuch von drei Mitgliedern meines Freundeskreises aus Deutschland, siehe B55 - Besuch bei Jens im Sommer 2011. Mir wurde also die Tür wieder einmal ins Gesicht geschlagen – und dann gleichzeitig vor Augen geführt, was ich nun nicht bekommen werde.</div><div><br /></div><div>Richtige menschliche Beziehungen nämlich. Mit Menschen, die ich umarmen kann, ohne dass dabei immer gleich der Komplex „Vergewaltigung in der Knastdusche“ mitschwingt. Mit Menschen, die nicht innerlich auf irgendeine Weise so vollkommen zerstört worden sind, dass sie mir letztlich ewig fremd bleiben müssen. </div><div><br /></div><div>Mit ... ach, in meinen Gedanken nenne ich alle meine Besucher aus der Außenwelt immer „drei-dimensionale Wesen“. Weil sie echt sind, während meine Mithäftlinge alle, ausnahmslos, irgendwie unecht sind, zwei-dimensional wie eine Zeichnung in einem Comic-Buch. Das Leben, die Welt, hat so unglaublich hart auf sie eingeprügelt, dass sie plattgeschlagen worden sind, flach wie ein Blatt Papier, zwei-dimensional eben. Ihnen fehlt etwas, diese dritte Dimension, die Menschen erst zu Menschen macht.</div><div><br /></div><div>Was ist dieses gewisse Etwas, was meine Besucher aus der Außenwelt haben, aber meinen Mitgefangenen fehlt, und was deshalb mein Leben so entsetzlich einsam macht? Sie werden lachen: Es ist die Liebe. Oder, um es etwas genauer auszudrücken. Es ist das Vertrauen, welches ja die Voraussetzung zur Liebe ist. Der Mut, sich auf einen anderen Menschen einzulassen – also ihn oder sie zu umarmen.</div><div><br /></div><div>Aus diesem Grund habe ich die Umarmung zu meiner Lebensphilosophie gemacht – denn ich kann und will umarmen. Sie können diese Lebensphilosophie schon in meinem ersten Buch finden, das ich 2001 schrieb, und Sie werden es in meinem achten Buch finden, welches ich im Frühling dieses Jahres schrieb und das im Frühling 2012 veröffentlicht wird.</div><div><br /></div><div>Der Clou: Man muss den spezifischen Mut haben, ausgerechnet seine Feinde zu umarmen, und zwar die inneren Feinde wie die äußeren. Die eigenen Schwächen und Ängste muss man umarmen, und die schwierigen Menschen und gefährlichen Situation im täglichen Leben auch.</div><div><br /></div><div>Das erfordert Courage und eben vor allem Vertrauen – in sich selbst, in den Feind, ins Leben, in die Welt. Man muss Hoffnung haben: den Glauben, dass das jeweilige Wagnis, sich zu öffnen, ein gutes Ende haben könnte.</div><div><br /></div><div>Genau das haben meine Besucher aus der Außenwelt, und meine Mitgefangenen haben es nicht. Ohne den Mut und das Vertrauen, sich selbst gegenüber und mit anderen Menschen offen zu sein, kann man aber letztlich keine richtigen, menschlichen Beziehungen haben. Und deshalb bin ich so schrecklich einsam hier, als Drei-dimensionaler im Land der Zwei-dimensionalen.</div><div><br /></div><div>Wieso sind meine Mithäftlinge zwei-dimensional? Den Grund nannte ich in meinem Blogeintrag <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2023/01/das-geheimnis-das-niemand-wissen-will.html">B26 - Das Geheimnis, das niemand wissen will</a>: Alle, aber wirklich alle Gefangenen sind als Kinder körperlich und/oder sexuell misshandelt worden. Nur eben ich nicht, was mich hier so fremd macht.</div><div><br /></div><div>Natürlich hatte auch ich ein paar schwierige Phasen und Umstände in meiner Kindheit und Jugend, genau wie die Leser dieses Blogs und meine Besucher aus der Außenwelt auch. Der Unterschied ist jedoch, dass unsere Kindheitstraumata nicht so schrecklich waren, dass wir uns innerlich davor verbergen mussten. Unser Schmerz war nicht so entsetzlich, dass wir ihn in ein kleines seelisches Kästchen einschließen mussten, um uns davor zu schützen.</div><div><br /></div><div>Zum Beispiel habe ich einen amerikanischen Freund und Besucher, dessen Eltern Schauspieler waren. Sie können sich vorstellen: Das war eine ziemlich neurotische, schwierige Familie. Aber dann ist er selber Schauspieler geworden, und zwar ohne selber ein großer Neurotiker zu werden, und nun verarbeitet er den ganzen seelischen Mist aus seiner Kindheit künstlerisch auf der Bühne. Genau dies meine ich, wenn ich sage, man muss die inneren Feinde, die eigenen Schwächen und Ängste, letztlich umarmen und lieben lernen.</div><div><br /></div><div>Ich mache fast genau dasselbe schriftstellerisch, und zwar seit Jahrzehnten. Eine meiner Brieffreundinnen meint, es sei manchmal geradezu schockierend, wie ich mich entblöße, aber ich meine, das einzig Ungewöhnliche ist die Öffentlichkeit meiner Offenheit. Künstler teilen sich eben allen mit, doch jeder gesunde Mensch hat Bezugspersonen, denen er sich privat mitteilen kann.</div><div><br /></div><div>Das ist einfach ein notwendiger Teil des Menschseins: Wir alle haben irgendeinen Freund, bei dem wir uns irgendwann ausgeweint haben, dass unsere Mamas uns nicht genug geliebt haben, unsere Papas immer so gemein zu uns waren, und wir zu Weihnachten auf unsere Geschwister neidisch wurden, weil sie schönere Geschenke bekamen. Und wir alle sind unseren Freunden solche Freunde gewesen, bei denen sie sich über den gleichen Kindheitsmist ausweinen konnten.</div><div><br /></div><div>Der Unterschied zwischen uns und meinen Mitgefangenen ist, dass deren „Kindheitsmist“ so grausam und entsetzlich war, dass sie selber sich nicht daran heranwagen und ihn deshalb auch nicht anderen mitteilen können. An dem normalen zwischenmenschlichen Bejammern familiären Beziehungsproblemen können die Häftlinge also nicht teilnehmen. Sie sind sich selbst fremd, weil sie einen riesigen Teil der Vergangenheit vor sich selbst verstecken, und deshalb bleiben sie auch anderen fremd.</div><div><br /></div><div>Nun bin ich ja, wie oben erwähnt, der große Umarmer: Ich habe keine Scheu und keine Angst, ich gehe auf alle zu und tue so, als ob wir Freunde sind. Und siehe da, innerhalb kürzester Zeit sind wir dann auch zumindest freundschaftlich miteinander. </div><div>Das mache ich mit großem Erfolg nun seit einem Vierteljahrhundert mit allen: Massenmördern, Serienvergewaltigern, echten Terroristen, sadistischen Wächtern, eiskalten Gefängnisleitern, und zynischen Journalisten. Wer meinen neuesten Newsletter gelesen hat, der weiß, dass es mir am 1. September sogar gelang, zwei erfahrene Kriminalpolizisten a. D. innerhalb von neunzig Minuten auf meine Seite zu ziehen, einfach, indem ich vollkommen offen war. Das Umarmen – also die mutige, vertrauensvolle Bereitschaft, sich ehrlich und offen auf andere einzulassen – ist wirklich praktisch!</div><div><br /></div><div>Ganz am Anfang meiner Gefängniskarriere Ende der achtziger Jahre, als ich in London, England, in Auslieferungshaft war, habe ich damit angefangen. Damals wurde ich in einem besonderen Abteil gehalten für Terroristen und „organisierte Kriminalität“, davon schrieb ich in B6 - Terrorismusprozess in Stuttgart-Stammheim. </div><div>In meinem ersten Buch schrieb ich, wie ich mich meinen Mitgefangenen anbot als eine Art freundlicher (und etwas junger!) Beichtvater, dem sie ihre Sorgen mitteilen konnten. Es war das Einzige, was ich tun konnte, um ihnen zu helfen. Und für mich war es natürlich auch ganz interessant, denn meine damaligen Mithäftlinge waren so ungefähr die schwersten und gefährlichsten Jungs, die es gab.</div><div><br /></div><div>Letztendlich ging es bei diesen Gesprächen aber fast immer um aktuelle Probleme und Sorgen. Zwar erzählte mir ein irischer Terrorist, mit dem ich gut befreundet war, ein bisschen von seiner Kindheit und den Problemen mit seinem Vater, aber er war die Ausnahme. Damals, vor fünfundzwanzig Jahren, fiel es mir gar nicht so sehr auf, dass meine Mitgefangenen kaum über ihre Herkunft und Erziehung sprachen. Heute meine ich, dass dies bezeichnend war, gewissermaßen symptomatisch. Diese Menschen konnten mir nicht von ihren Vergangenheiten erzählen, weil sie selbst keinen inneren Zugang dazu hatten.</div><div><br /></div><div>Heutzutage bohre ich etwas nach und erfahre zumindest ein wenig mehr. Zum Beispiel erzählte mir ein Häftling in meinem jetzigen Abteil, dass seine Mutter starb, als er noch sehr klein war. Sein Vater war schwer alkoholkrank, oft gab es abends einfach nichts zu essen, dann lag er nachts im dunklen, kalten Schlafzimmer und weinte vor Hunger.</div><div><br /></div><div>Jahrelang „erzogen“ ihn seine vier älteren Schwestern, die selber noch Kinder waren. Sie zogen ihrem Bruder die eigenen, zu klein gewordenen Kleider an und flochten ihm Rüschen ins Haar, wie einer lebenden (weiblichen) Spielpuppe eben. Erst als er zehn oder elf war, kam eine Tante, die sich zumindest gelegentlich (wenn auch nicht regelmäßig) um die verwahrlosten und vernachlässigten Kinder kümmerte.</div><div><br /></div><div>Mit dreizehn fing er an, regelmäßig zu koksen: „Selbstmedikation“ nennt man so etwas, zumindest in Amerika; er betäubte sich selber, um den Schmerz und die gefährlichen Emotionen nicht fühlen zu müssen. Er schloss seine Vergangenheit mit Hilfe der Drogen weg, er versteckte sich vor sich selbst. Das lief so lange gut, bis er seinen Drogendealer tötete. Die Vergangenheit hatte ihn eingeholt.</div><div><br /></div><div>Ein anderer Mitgefangener wurde von seiner allein stehenden Mutter erzogen, die drogenabhängig, analphabetisch und vollkommen überfordert war. Also peitschte sie ihren Sohn regelmäßig mit einem ausgefransten Elektrokabel aus, an den Beinen, bis er blutete. Er zeigte mir die Narben. Um den Schmerz auszuhalten, stellte er sich innerlich einfach ab, wie mit einem Schalter waren die Gefühle weg.</div><div><br /></div><div>Jahre später fand seine Mutter dann zu Jesus, der sie von ihrer Drogenabhängigkeit heilte, und sie nahm sogar Nachtkurse, um das Lesen und Schreiben zu lernen. Ein neuer Mensch! Eines Tages, als sie mit ihrem mittlerweile erwachsenen Sohn in dessen Auto saß, bekam sie einen Weinanfall und bat ihn um Verzeihung. Er umarmte sie und sagte ihr, er wisse doch, dass sie es nur gut gemeint habe. Was hätte es genützt, fragte er mich, wenn er mit seiner Mutter offen über seine Gefühle gesprochen hätte?</div><div><br /></div><div>Kurz danach schlug er seine Ehefrau dermaßen brutal zusammen, dass er dafür zwanzig Jahre Haft ohne Bewährung bekam. Auch ihn hatte die Vergangenheit eingeholt.</div><div><br /></div><div>Noch ein weiterer Mithäftling wurde vom Freund seiner geschiedenen Mutter geschlagen und mit dem Stil einer Klobürste als Bestrafung anal vergewaltigt. Jedes Mal, als der Freund abends vorbeikam, um die Mutter ein bisschen zu bumsen, versteckte das Kind sich im Kleiderschrank. Und jedes Mal fand ihn der Freund seiner Mutter dort und bestrafte ihn – nicht immer mit der Klobürste, aber oft genug.</div><div><br /></div><div>Doch er konnte der Mutter ja nichts davon sagen, denn der Freund gab der Mutter Geld, und sie waren so arm, dass sie dieses zusätzliche Einkommen dringend brauchten. Also schwieg der gute Sohn der Mutter und des Geldes zuliebe. </div><div><br /></div><div>Jahre später, in seiner dritten Ehe, entdeckte er, dass die eigene Ehefrau sich einen Freund zugelegt hatte. Also erschoss er den Freund und vergewaltigte seine untreue Ehefrau mit dem Lauf seiner Pistole. Da war sie wieder, die Vergangenheit – bloß mit Pistole statt Klobürste.</div><div><br /></div><div>Man würde meinen, diese Menschen könnten zumindest jetzt im Gefängnis über ihre bisher weggekokste, verdrängte oder verschwiegene Vergangenheit sprechen. Doch das können sie nicht, immer noch nicht.</div><div><br /></div><div>Der ehemalige Kokser hat Drogen mit Süßigkeiten ersetzt, heutzutage frisst und frisst und frisst er, völlig haltlos, genau wie früher mit dem Kokain. Er verschuldet sich beim Kredithai, arbeitet Überstunden in seinem jämmerlichen Knastjob – alles nur für ein paar extra Kekse und Schokoladentafeln.</div><div><br /></div><div>Der ehemalige Frauenverprügler hat eine ganz heiße briefliche Romanze mit der Schwester seiner ehemaligen Ehefrau, nur ist diese Schwester leider verheiratet. Er sucht also immer noch die große Liebe, die er nie hatte, selbst im Knast. Mit der Mutter, die ihn als Kind auspeitschte, hat er weiterhin wenig Kontakt.</div><div><br /></div><div>Der betrogene Ehemann, Mörder und Vergewaltiger hat natürlich Jesus gefunden, in der erzkonservativen Variante. Das bedeutet anscheinend: Montags bis Samstags bestaunt er die Pornohefte, die die Wächter einschmuggeln, aber am Sonntag sieht er sich die Fersehprediger im TV an und wird richtig aggressiv, wenn man das Thema „Sex“ auch nur erwähnt.</div><div><br /></div><div>Um sie dazu zu bringen, überhaupt nur ein bisschen über ihre Kindheit zu erzählen, musste ich ganz, ganz sanft mit ihnen sein, ihnen viel Zeit geben, und den richtigen Augenblick abwarten. Dann habe ich von meinem eigenen Trauma erzählt, die schreckliche Geschichte von Elizabeth Haysom – ich habe mich also als Erster offenbart. Das gab ihnen dann den Mut, ein wenig zu sprechen.</div><div><br /></div><div>Nur war ich ja schon achtzehn Jahre alt, als Elizabeth in mein Leben kam; zwar war ich sehr unreif, aber ich war kein Kind mehr, ich war zumindest etwas innerlich gefestigt. Deshalb konnte ich das Trauma mit Elizabeth letztlich auch verarbeiten, ich musste es weder in mir verschließen noch mich davon innerlich verbergen, ich konnte darüber sprechen und natürlich viel schreiben.</div><div><br /></div><div>Doch die psychischen Schocks, die diese Männer erlitten, fanden in ihrer Kindheit statt, als sie noch ungeformt und ungefestigt waren. Wenn sie sich an diese Erinnerungen heranwagen, dann kommen die Gefühle eines Achtjährigen hoch, und diese Emotionen sind so stark und unkontrolliert, dass sie sofort wieder versteckt, verdrängt und vergessen werden müssen. Das Schwarze da unten, in den Tiefen der Seele, ist einfach zu gefährlich.</div><div><br /></div><div>Vermutlich könnte man einige dieser Männer heilen – mit viel Geld und langjähriger, individueller Therapie. Aber warum? Sie alle werden Jahrzehnte, beziehungsweise den Rest ihrer Leben hinter Gittern verbringen. Und sie haben alle ganz schreckliche Verbrechen begangen. Sie sind hier, um bestraft zu werden; denn Strafe muss sein.</div><div><br /></div><div>Ich finde es verständlich und richtig, dass sich die Gesellschaft und das Justizsystem zuerst um die Opfer dieser Männer kümmert: Keines der Opfer hat es „verdient“, getötet, verprügelt oder vergewaltigt zu werden (selbst der Drogendealer nicht). Auch finde ich es verständlich, dass die Gesellschaft nicht sonderlich an den Kindheitstraumas dieser Männer interessiert ist: Es gibt wahrlich sympathischere Objekte des Mitleids, von Somalia über Bangladesch bis Haiti. </div><div><br /></div><div>Aber wir sollten auch ehrlich sein: Genau wie diese Männer ihre Traumas innerlich verstecken, verdrängen und vergessen, so versteckt, verdrängt und vergisst die Gesellschaft diese Männer im Gefängnis. Man spricht nicht über Gefangene und ihre Leiden, genau wie Häftlinge selber nicht über ihre Kindheitstraumas sprechen.</div><div><br /></div><div>Wenn das Thema dann doch mal erwähnt wird, dann gibt es oft eine aggressive Gegenreaktion – so wie Leser dieses Blogs mich in der Kommentarspalte angreifen, oder so wie der dritte Gefangene oben sehr grantig wird, wenn irgendwer das Thema „Sex“ am heiligen Sonntag erwähnt.</div><div><br /></div><div>Viel öfter ist die Reaktion jedoch Nichtbeachtung: Meine Bücher verkaufen sich äußerst schlecht, weil niemand wirklich Häftlinge als Menschen sehen will. Und die Gefangenen, denen ich ein paar Details über ihre entsetzlichen Vergangenheiten entlocke, wechseln so schnell wie möglich das Gesprächsthema und reden dann nie wieder darüber.</div><div><br /></div><div>Weil ich jedoch seit einem Vierteljahrhundert mit diesen Menschen zusammen lebe, kann ich sie und ihre Kindheitstraumas eben nicht verstecken, verdrängen und vergessen. Im Gegenteil, ich sehe es sogar als meine Aufgabe, das Schwarze da unten, in den Tiefen der Seele und in den tiefsten Gefängnissen der Gesellschaft, ans Tageslicht zu bringen. Ich glaube nämlich an die reinigende und heilende Kraft des Lichts und der Liebe.</div><div><br /></div><div>Ich habe das Schwarze da unten umarmt und mich mit ihr angefreundet. Und ich schreibe von dieser Umarmung, weil die Schriftstellerei eben meine kleine halbneurotische, künstlerische Sublimierungsmasche ist.</div><div><br /></div><div>Ich werde mit meinen eigenen Problemchen durch das Schreiben fertig und wähne mich glücklich, dass ich in meiner Kindheit nur ein bisschen Stress mit meinen Eltern hatte – nichts im Vergleich zu Hunger und Mädchenkleider, nichts im Vergleich zu Peitschen mit Elektrokabeln, nichts im Vergleich zur analen Vergewaltigung mit Klobürste. Ich hatte es leicht, so leicht, und ich bin dankbar dafür.</div><div><br /></div><div>Und ich verneige mich beschämt vor meinen Mitgefangenen, deren Kindheiten so viel schrecklicher waren – so entsetzlich, dass ich es letztlich gar nicht nachempfinden kann. Würde ich behaupten, ich hätte Mitgefühl, wäre das eine Lüge:</div><div><br /></div><div>Die Qualen dieser Männer, als sie noch Kinder waren, stehen einfach zu weit außerhalb der weitesten Grenzen meiner eigenen Erfahrungen. Ich kann sie letzten Endes nicht verstehen.</div><div><br /></div><div>Deshalb kann ich diese Mithäftlinge auch nicht einfach so verdammen für die schlimmen Verbrechen, die sie begangen haben. Ich wiederhole: Die Opfer dieser Verbrechen haben es nicht „verdient“, getötet, verprügelt und vergewaltigt zu werden! Aber ich schaffe es einfach nicht, die Täter dafür zu verachten. Ich weiß einfach nicht, ob sie wirklich eine „Wahl“ hatten, diese Verbrechen zu begehen.</div><div><br /></div><div>Was ich aber sehr wohl weiß, ist, dass das Verstecken, Verdrängen und Vergessen ihrer Vergangenheiten zumindest zu den Taten beigetragen haben. Und genau da habe ich meinen Angriffspunkt: Ich kann das Verstecken, Verdrängen und Vergessen mit meinen Büchern und diesem Blog bekämpfen.</div><div><br /></div><div>Aber das ist einsame Arbeit. Denn diese Menschen, meine Mitgefangenen, sind mir so fremd. Ich verstehe, dass sie sich weiter vor ihrem Kindheitstrauma schützen müssen, sie können nicht einfach so darüber reden. Aber das trennt uns letzten Endes voneinander.</div><div><br /></div><div>Am Anfang dieses Blogeintrags schrieb ich, dass Menschen wie die Leser dieses Blogs, meine Besucher aus der Außenwelt und ich „drei-dimensional“ sind, während meine Mithäftlinge „zwei-dimensional“ bleiben – ihnen fehlt etwas. Was ihnen fehlt, ist der Zugang zur eigenen Vergangenheit und deshalb zu sich selbst. Sie können es nicht wagen, sich auf andere einzulassen, weil sie sich nicht auf sich selber einlassen können. Ihnen fehlt also die Voraussetzung zur Liebe: die Offenheit und das Vertrauen, das man braucht, um andere umarmen zu können. Und um sich selbst, das eigene Leben, zu umarmen.</div><div><br /></div><div>Es ist verdammt kalt und einsam, das Schwarze da unten.</div>Unknownnoreply@blogger.com2tag:blogger.com,1999:blog-16293711446370484.post-24914802842964050562023-01-25T11:30:00.109+01:002023-01-25T11:53:12.922+01:00Das Geheimnis, das niemand wissen will (von Jens Söring)<p>Bereits 2016 habe ich <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2016/01/basiswissen-fur-die-kriminologie-direkt.html">auszugsweise </a>den großartigen Blogbeitrag "<b>Das Geheimnis, das niemand wissen will</b>" aus dem Jahr 2011 von <b><a href="https://jens-soering.de/" target="_blank">Jens Söring</a></b> besprochen. Ich habe nun den Autor darum gebeten, seinen Text in meinem Blog veröffentlichen zu dürfen und er hat heute zugesagt! </p><p>Da Jens Söring seinen Blog schon länger eingestellt hat, wäre sein Text ansonsten dauerhaft verloren. Der Inhalt stellt seine persönlichen Erfahrungen dar. Allerdings zeigen <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2017/03/kindheit-von-gewalt-und-straftatern.html">diverse Studien</a>, dass StraftäterInnen sehr häufig in der Kindheit belastetet waren. Sein Erfahrungsbericht ergänzt diese Studienlage auf ganz besondere, ja wohl einmalige Weise. Außerdem wird in dem Text auch überdeutlich, wie schwierig es für die Wissenschaft sein kann, die ganze Wahrheit des Kindheitsleids von Tätern zu ergründen. </p><p><br /></p><p>-------------------------------------</p><p> <b>B26 - Das Geheimnis, das niemand wissen will (mit freundlicher Genehmigung von Jens Söring)</b></p><p> (<i>Hinweis: Der Originaltext wurde ursprünglich am 23. Februar 2011 von Jens Söring online veröffentlicht)</i></p><p style="text-align: left;">In meinem letzten Blogeintrag ("Ein Kuss") habe ich über die Parallelen zwischen meiner Beziehung zu meiner Komplizin Elizabeth Haysom und der sexuellen Misshandlung von Minderjährigen geschrieben. Dort habe ich ganz ausdrücklich gesagt, dass es sich dabei natürlich nicht um tatsächliche Kinderschänderei gedreht hat, sondern eben nur um Parallelen. Im heutigen Blogeintrag möchte ich aber über die echte, wirkliche Misshandlung von Kindern schreiben. </p><p style="text-align: left;">Ich werde Ihnen ein Geheimnis verraten. Sie können dieses Geheimnis ruhig anderen weiter sagen – ich bitte Sie sogar darum – aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass sich fast niemand für dieses Geheimnis interessieren wird. Niemand will wissen, was ich Ihnen gleich sagen werde. Deshalb ist es ja ein Geheimnis: Keiner will es wissen, also ist es unbekannt. </p><p style="text-align: left;">Vielleicht wollen Sie es auch nicht wissen. Wenn dem so sein sollte, dann können Sie das Geheimnis gleich nach dem Lesen dieses Blogeintrags wieder vergessen. Vermutlich ist das sowieso besser. </p><p style="text-align: left;">Hier ist das Geheimnis: Alle Gefangenen – alle, ohne Ausnahme (na, vielleicht mit einer Ausnahme) – sind als Kinder Opfer sexueller oder körperlicher Misshandlung gewesen. Alle. </p><p style="text-align: left;">Hm, also, vielleicht doch nur fast alle – denn ich wurde als Kind nicht misshandelt. Aber ich bin ja auch unschuldig, ich habe das Verbrechen, für das ich verurteilt wurde, nicht begangen. Doch die ganz überwältigende Mehrheit meiner Mitgefangenen, die "ihre" Verbrechen sehr wohl begingen und zurecht verurteilt wurden – die sind alle Opfer ganz entsetzlicher Gewaltverbrechen gewesen, als sie Kinder waren. Übrigens in den allermeisten Fällen über Jahre oder Jahrzehnte hinweg, bis sie von zuhause wegliefen oder straffällig wurden. </p><p style="text-align: left;">Das ist keine Behauptung meinerseits. Vor einigen Jahren habe ich ein sehr interessantes Buch über die Psychologie des Strafvollzugs gelesen, von einem renommierten Experten der (mit Philip Zimbardo) das berühmte "Stanford Prison Experiment" unternahm und – im Gegensatz zu Zimbardo – dann seine gesamte Karriere uns Knackis widmete: Dr. Craig Haney. Sein Buch heißt: "Reforming Punishment", und es wurde 2005 von der nationalen Dachorganisation American Psychological Association veröffentlicht.<br />Nebenbei: Auf der Prozess bzw. Trial Seite dieser Website ist ein Interview mit Dr. Haney über die psychologischen Probleme von Justizopfern, die sich nach ihrer Befreiung durch DNS-Tests in der freien Welt nicht mehr zurechtfinden können. </p><p style="text-align: left;">Dr. Haneys Buch bespricht mehrere Studien, die belegen, dass ein hoher Prozentsatz der befragten Gefangenen zugab, als Kinder sexuell und/oder körperlich misshandelt geworden zu sein. An die genaue Zahl kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ich glaube es waren etwa zwei Drittel. Schon damals, als ich das Buch las, war ich davon beeindruckt, dass so viele Häftlinge das zugegeben hatten. </p><p style="text-align: left;">Denn gerade für Gefangene ist es besonders schwer, irgendeine Schwäche zuzugeben – vor allem gegenüber Außenseitern wie Psychologen, die plötzlich in den Knast hereinrauschen, Fragebögen verteilen und äußerst persönliche Informationen wissen wollen. Grundsätzlich werden solche Typen erst einmal belogen, denn man kann ja nie wissen, wem sie die Fragebögen dann geben! Knastpsychologen haben sowieso einen besonders schlechten Ruf unter Häftlingen, selbst ich würde denen nichts wirklich Wichtiges anvertrauen.</p><p style="text-align: left;">Und trotzdem hatte ein überraschend hoher Prozentsatz - der befragten Gefangenen - so etwas zugegeben. Selbst unter besten Umständen ist das sehr, sehr schwer, denn – das habe ich ja versucht, in meinem letzten Blogeintrag zu erklären – als Opfer schämt man sich so schrecklich. Man will es doch gar nicht zugeben. </p><p style="text-align: left;">Dazu kommt noch etwas anderes, was für Nichtopfer vielleicht besonders schwer zu verstehen ist: Zumindest einige der Opfer wissen gar nicht, dass sie Opfer sind. Damit meine ich nicht, dass die Erinnerung an die Misshandlung verdrängt wurde; es ist ziemlich zweifelhaft, ob es überhaupt möglich ist, so etwas zu verdrängen. (Die Expertin auf diesem Gebiet ist übrigens Dr. Elizabeth Loftus; ich habe mich, wie gesagt, ziemlich tief in diese Thematik eingelesen.) Nein, was ich meine ist nicht die Verdrängung, sondern die Unfähigkeit, Misshandlung als solche überhaupt zu erkennen. </p><p style="text-align: left;">Lassen sie mich ein Beispiel geben: Seit Jahrzehnten sitze ich nun in verschiedenen Gefängnissen im Gemeinschafts- oder TV-Raum herum. Manchmal kommen dann abends um 18 Uhr die örtlichen Fernsehnachrichten, meist mit irgendeiner schrecklichen Geschichte über einen 14-jährigen Burschen, der eine 72 Jahre alte Oma vergewaltigt und verprügelt hat. Über so etwas regen sich auch Häftlinge auf, selbst Sexualverbrecher, denn wir haben ja alle unsere eigenen Omas. Und dann besprechen die Gefangenen miteinander, was sie dem 14-jährigen Täter alles antun würden, bzw. wie der Junge von der Tat abgehalten hätte werden können. </p><p style="text-align: left;">Diese Gespräche laufen immer nach dem gleichen Schema. Wie gesagt, ich höre dabei seit fast 25 Jahren zu! Ich würde schätzen, dass ich an solchen Unterhaltungen mehrere hundert Mal teilgenommen habe. Und sie sind alle ganz genau gleich. </p><p style="text-align: left;">Die Häftlinge prahlen zuerst einmal damit, wie sie von ihren Erziehern gezüchtigt wurden, wenn sie als Kinder etwas falsch machten. Oft waren es übrigens nicht die Eltern, sondern die Stiefeltern oder Großeltern, die die Kinder folterten – vielleicht erklärt das die Quälerei... Wie dem auch sei: Das Auspeitschen mit dicken Ledergürteln ist noch das Mindeste. Absichtliches Verbrennen mit Bügeleisen oder kochendem Wasser kommen überraschend häufig vor. Auch das stundenlange Knien auf scharfen Steinen. Und Stöcke – nun ja, genug davon! </p><p style="text-align: left;">Was dabei für mich zumindest anfänglich überraschend war: dass die Gefangenen diese körperliche Misshandlung für gut und richtig hielten. "Genau so würde ich es mit meinen eigenen Kindern tun, wenn ich nicht im Knast wäre!" So etwas hat ihnen selber ja auch nie geschadet, sie sind doch prächtige Kerle geworden. (Dabei übersehen sie ausnahmslos, dass sie – die "prächtigen Kerle" – hinter Gittern sitzen.) Und solch ein ordentliches Auspeitschen mit Ledergürteln, genau das habe dem 14-jährigen Täter in den Fernsehnachrichten gefehlt! </p><p style="text-align: left;">Aus der Sicht der Häftlinge war das, was ihnen angetan wurde, also keine Misshandlung. Anfänglich versuchte ich gelegentlich, diese Männer zu fragen, ob sie denn nicht den Zusammenhang zwischen den eigenen Straftaten und dieser schrecklichen Tortur durch ihre Erzieher sehen. "Nein, natürlich nicht, völliger Quatsch – ich hatte das verdient!" Genau dies sagen natürlich die meisten Kinder, die Opfer von Misshandlung sind. </p><p style="text-align: left;">In den Studien der Fragebögen verteilenden Knastpsychologen würde diese sehr große Gruppe von ehemaligen Opfern also gar nicht erfasst werden. Auch gibt es andere Formen der Misshandlung, die von den allermeisten Gefangenen nicht als solche erkannt wird. Zum Beispiel wurde ein ziemlich guter Freund von mir – der übrigens vor einigen Jahren Selbstmord beging – als 8-jähriges Kind von seiner älteren Schwester zum wiederholten Drogenkonsum verleitet; anfänglich gegen seinen Willen. Natürlich wurde er abhängig, und natürlich landete er letztlich im geschlossenen Vollzug für besonders junge Straftäter, wegen Beschaffungskriminalität. Dort wurde er von den anderen Jugendlichen sexuell und körperlich gefoltert (das Wort "misshandelt" reicht einfach nicht – es hatte mit Besenstielen zu tun), und natürlich von den Wächtern auch. Dann wurde er etwas älter, etwas stärker, und stieg in der Hierarchie auf – bis er selber jüngere Kinder foltern konnte. Aber aus seiner Sicht war das selbst 30 oder 40 Jahre später nicht als Misshandlung zu erkennen; das war einfach das "normale" Knastleben. </p><p style="text-align: left;">Ein anderer Freund von mir wuchs ohne Eltern auf, er wurde vom Sozialamt von einer Pflege-Familie zur nächsten geschickt. Viele der Pflegeeltern waren anscheinend Sadisten, die besonders heißes Duschen als bevorzugtes Strafmittel einsetzten – weil das keine Wunden hinterlässt. Auch wurde regelmäßig zur Strafe das Essen gekürzt oder völlig vorenthalten. </p><p style="text-align: left;">Als ganz kleines Kind lernte mein Freund also, welche Abfalleimer hinter welchen Restaurants am ergiebigsten sind, um zusätzliches Essen zu finden. Sein Geheimtipp: Man reserviert einen Tisch und bestellt eine besonders ungewöhnliche Mahlzeit per Telefon – geht aber nicht hin. Die Restaurantküche kocht die ungewöhnliche Mahlzeit, aber weil der Gast nicht erscheint, wird das Essen weggeworfen, weil es sonst niemand will. Wenn man gut aufpasst, kann man auf diese Weise eine fast-vollständige Mahlzeit aus dem Abfalleimer hinter dem Restaurant frühmorgens herausfischen! </p><p style="text-align: left;">Misshandlung ist das alles natürlich nicht. Es ist einfach so, das Leben als Pflegekind. </p><p style="text-align: left;">Abgesehen von Menschen wie diesen, die gar nicht erkennen (können), dass sie misshandelt wurden, gibt es noch eine weitere Gruppe, von denen die Knastpsychologen nicht wissen: jene, die sich nur mir, einem Mitgefangenen, offenbaren. Ich will gar nicht schätzen, wie viele Häftlinge mir gestanden haben, dass sie sexuell misshandelt wurden – und hinzuzufügten, dass ich der erste Mensch sei, dem sie das sagen. Solche Zwischenfälle hat es besonders in den letzten acht Jahren gegeben, nach der Veröffentlichung meines ersten Buches: "The Way of the Prisoner" (Lantern Books 2003). Seitdem bin ich immer mehr zur Anlaufstelle geworden für Häftlinge, die eine Vertrauensperson brauchen (und für Wächter, die mir irgendwelche pikanten Details über das Gefängnis verraten wollen – aber das ist ein Thema für einen zukünftigen Blogeintrag, vielleicht). Jedenfalls habe ich, als zufällige Vertrauensperson und als Mitgefangener, unzählige Male gehört: "Hör mal, mir ist da mal als Kind was passiert – das kannst Du aber niemandem sagen, o.k.? Also, es war so...." </p><p style="text-align: left;">Mittlerweile gebe ich meinen Bekannten ganz absichtlich die Gelegenheit dazu, weil ich einfach gelernt habe, dass viele Menschen das brauchen. Ich muss gar nicht direkt fragen, ich warte einfach, bis das Thema in einem allgemeinen Zusammenhang auftaucht – was im Gefängnis oft geschieht, denn es gibt hier ja viele Kinderschänder. (Meiner Erfahrung nach sind übrigens auch fast alle Kinderschänder als Kind selber Opfer gewesen.) </p><p style="text-align: left;">Ich kann Ihnen sagen: Ich war in den vergangenen (fast) 25 Jahren mit hunderten Häftlingen mehr oder weniger gut befreundet – gut genug, um gelegentlich ein ernsthaftes Gespräch zu führen. Und ich kann Ihnen sagen: Jeder Gefangene, mit dem ich etwas befreundet war, wurde als Kind sexuell oder körperlich misshandelt. Jeder, ohne Ausnahme, in (fast) 25 Jahren! Natürlich könnte das ein Zufall sein, aber das glaube ich nicht. </p><p style="text-align: left;">Warum soll das wichtig sein, weshalb schreibe ich darüber einen Blogeintrag? Weil ich einen direkten Zusammenhang sehe zwischen der Misshandlung und der Kriminalität. </p><p style="text-align: left;">Wenn man als Kind entsetzlichen Qualen ausgesetzt wird, dann führt dies zu psychologischen Schäden, und zwar in allen Fällen. Niemand würde dem Kind, dem Opfer, die Schuld dafür geben, dass es an den Folgen der Misshandlung leidet. Auch verstehen wohl die meisten Menschen, wozu solch ein psychologisches Trauma führen kann: Alkoholismus, Depressionen, "kleine" Neurosen und so weiter. All das wird akzeptiert von der Gesellschaft, weil es anderen Menschen nicht schadet – man kann sogar Mitleid dafür haben. </p><p style="text-align: left;">Was gesellschaftlich nicht akzeptabel ist, das ist die Minderheit der Misshandlungsopfer, die mit ihrem psychologischen Trauma auf rechtswidrige Art fertig werden. Statt Alkohol benutzen sie Drogen; statt Depression (die psychodynamisch als Aggression, die auf einen selbst gerichtet ist, verstanden werden muss) richten sie ihre Aggression auf andere; statt "kleine" Neurosen entwickeln sie Persönlichkeitsstörungen, die bekanntlich öfters zu Verbrechen führen. Für all dies gibt es kein Mitleid, kein Verständnis. </p><p style="text-align: left;">Natürlich muss die Gesellschaft sich vor Kriminalität schützen, das bezweifele ich hier überhaupt nicht. Im Grunde geht es mir sogar genau um den Schutz vor Verbrechen! Aber wie kann die Gesellschaft wirklich effektiv die Kriminalität bekämpfen, wenn sie sich nicht mit den Ursachen befasst? <br />Nun gibt es ja alle möglichen kriminologischen Theorien, die versuchen zu erklären, warum manche Menschen Verbrechen begehen und andere nicht: Armut, Drogenabhängigkeit, schlechte Schulen, Geisteskrankheit, gewalttätige Videospiele, zum Beispiel. Bestimmt tragen alle diese Dinge auch dazu bei, dass es Kriminalität gibt. Was bei solchen Ursachenlisten jedoch immer fehlt, ist die Tatsache, dass alle Verbrecher als Kinder sexuell oder körperlich misshandelt wurden! Und wenn man sich mit diesem unbequemen Fakt nicht befasst, darf man sich nicht wundern, dass die Kriminalitätsbekämpfung nie so richtig erfolgreich ist. </p><p style="text-align: left;">Ich weiß nicht, warum niemand darüber sprechen will, dass alle Verbrecher erst Opfer der Kindesmisshandlung waren, bevor sie zu Tätern wurden. Vielleicht ist es für die Gesellschaft bequemer und einfacher, die Bösewichter auszugrenzen und einzusperren, statt ihnen mit Mitleid zu begegnen. Vielleicht will man einfach nicht das Geld ausgeben um all die inhaftierten Verbrecher zu therapieren. Vielleicht glaubt man, dass solchen Menschen sowieso nicht zu helfen ist – und vielleicht stimmt das sogar. Eines ist sicher: Sie werden niemanden finden können, der sich mit diesem Thema befassen will. Und dann werden Sie es mit der Zeit auch selber vergessen. </p><p style="text-align: left;">Dies ist das Geheimnis, das niemand wissen will.</p>Unknownnoreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-16293711446370484.post-17330310657027992792022-12-31T09:13:00.002+01:002022-12-31T09:13:25.940+01:00Das Buch "Tyrannen" und die Kindheit des Sultans Ibrahim (1615-1648). <p>Das Buch „<b>Tyrannen. Eine Geschichte von Caligula bis Putin</b>“ (Krischer & Stollberg-Rilinger, Hrsg.), das 2022 bei C-H. Beck erschienen ist, brachte für mich nicht wirklich viele neue Erkenntnisse bzgl. Kindheits- und Traumahintergründen von Diktatoren und politischen Führern. </p><p>Was haben diverse "Tyrannen" gemeinsam, wird im Klapptext gefragt. Nun, dass sie Tyrannen sind und sich ähnlich verhalten könnte - dem Buch folgend - die Antwort sein...</p><p>Der Blickwinkel im Buch ist stark klassisch historisch: Man erfährt schlicht, was war. </p><p>Psychohistorisch wäre die Antwort auf die Frage nach Gemeinsamkeiten gewesen: "Destruktive Kindheiten". Bzgl. 11 der Akteure, die im Buch „Tyrannen“ besprochen wurden, habe ich bereits entsprechend deutliche Details recherchiert und zwar für: Nero, IvanIV., Napoleon, Franco, Mao, Pinochet, Mugabe, KimIlsung, Erdoğan, Trump und Putin. Für im Buch besprochene Akteure wie Idi Amin, Assad, und Kim Jong Un habe ich in der Vergangenheit Infos über die Kindheit gesucht, aber diese scheint fast gänzlich unbeleuchtet.</p><p>Neu für mich und interessant waren die Infos über die <b>Kindheit des</b> <b>Sultans İbrahim</b> (genannt "der Wahnsinnige"), der unter der ständigen Angst aufwuchs, so wie etliche seiner Brüder, umgebracht zu werden. Leider der einzige Akteur im Buch, dessen Kindheit etwas näher beleuchtet wurde. Es bestätigt sich erneut das Bild, dass klassische HistorikerInnen oftmals wenig Interesse für die Folgen von kindlichen Belastungen ihrer „Untersuchungsobjekte“ zeigen. </p><p>Kommen wir aber zurück zur Kindheit von <b>Sultan Ibrahim (1615-1648)</b>. Besprochen wird dieser Herrscher von Christine Vogel unter dem Titel „<i>Ibrahim `der Wahnsinnige` - die osmanische Dynastie am Abgrund"</i> (S. 106-120). </p><p>Ibrahim hatte sein Dasein bis zu seinem 24. Lebensjahr im „<i>Kafes, dem Prinzengefängnis, gefristet, einem abgeschlossenen und streng bewachten Bereich im Inneren des Topkapi-Palasts. (…). Im abgeschotteten Bereich des Kafes lebten die osmanischen Prinzen seit dem frühen 17. Jahrhundert (…) abseits von repräsentativem Prunk und weitgehend ohne Kontakte zur Außenwelt. Umgeben von Pagen, Eunuchen und Konkubinen, deren Schwangerschaften konsequent unterbunden wurden, um zu verhindern, dass die potentiellen Thronfolger Nachwuchs zeugten, blieben die Prinzen nahezu unsichtbar, fern von jeglicher politischen Funktion und Verantwortung</i>“ (Vogel 2022, S. 109).</p><p>Ibrahim war der der jüngste von neun Söhnen Sultan Ahmeds I. Seit seiner frühsten Kindheit hatte er miterlebt, wie im Laufe der Jahre alle seine Brüder verschwanden. Anlass für das Verschwinden war in zwei Fällen die jeweilige Thronbesteigung. Beide Thronfolger ließen allerdings fünf ihrer Brüder erdrosseln, damit diese nicht den Thron besteigen konnten. Ein weiterer Bruder starb krankheitsbedingt. (Vogel 2022, S. 109). </p><p>Dass im Palast potentielle Thronfolger von ihren jeweiligen Brüdern umgebracht wurden, hatte eine lange Tradition im Herrscherhaus. „<i>Die als legale Maßnahme zur Herrschaftssicherung verstandene Praxis des Brudermords war gewissermaßen die blutige Kehrseite der durch Konkubinat verursachten `Überproduktion` männlicher Nachfahren</i>“ (Vogel 2022, S. 110). Im historischen Verlauf setzte sich später durch, dass der jeweils Älteste Thronfolger wurde, wodurch der Brudermord schließlich obsolet wurde. </p><p>„<i>Ibrahim wurde nur deshalb als Einziger am Leben gelassen, weil er als geistesschwach galt und daher nach allgemeiner Auffassung als Konkurrent um die Sultanswürde für Murad IV. keine ernstzunehmende Gefahr darstellte</i>“ (Vogel 2022, S. 110). </p><p>Nachdem Murad IV. gestorben war (und keine eigenen Nachkommen hinterlassen hatte) und die politischen Würdenträger seine Gemächer betraten, soll Ibrahim zunächst panisch reagiert haben. Er rechnete wohl damit, umgebracht zu werden und weigerte sich zunächst, das “Prinzengefängnis“ zu verlassen. <br />„<i>Dass die jahrzehntelange Haft unter ständiger Todesangst sich wohl negativ auf Ibrahims ohnehin labilen Geisteszustand ausgewirkt hatte, wird dabei von niemandem bezweifelt</i> (…)“ (Vogel 2022, S. 112). </p><p>Als Herrscher sicherte sich Ibrahim den Ruf eines grausamen Despoten, der zu irrationalen Entscheidungen neigte. Wenn wir auf seine potentiell traumatische Kindheit schauen, wird dies erklärbar. </p><div><br /></div>Unknownnoreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-16293711446370484.post-38763161286834333742022-12-13T11:48:00.010+01:002022-12-20T12:31:32.186+01:00Trotz viel Empirie: Kindheiten von Extremisten sind oft kein Thema in der Extremismusforschung<p>Für mich ist immer wieder erstaunlich, dass es kaum Übersichtsarbeiten bzw. fokussierte Fachbeiträge über den speziellen Bereich <b><i>Kindheit & Extremismus</i></b> gibt. Ganz im Gegenteil ist es oftmals so, dass entsprechende Handbücher und Sammlungen von Expertisen über Extremismus/Terrorismus keine Schwertpunktbeiträge über Kindheit/Trauma/Familie enthalten. Beispiele dafür sind:<br /></p><ul style="text-align: left;"><li>„<b>Handbuch Extremismusprävention</b>“ (Ben Slama & Kemmesies 2020)</li><li>„<b>Handbook of Terrorism Prevention and Preparedness</b>“ (Schmid 2020)</li><li>"<b>The Oxford Handbook of Terrorism"</b> (Chenoweth et al. 2019)</li><li>„<b>Extremismusforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis</b>“ (Jesse & Mannewitz 2018)</li><li>„<b>Handbuch Politische Gewalt: Formen - Ursachen - Legitimation – Begrenzung</b>“ (Enzmann 2013</li><li>„<b>Terrorismusforschung in Deutschland</b>“ (Spencer, Kocks & Harbrich 2011). </li></ul><p></p><p>Auch in titelstarken Einzelarbeiten wie z.B. „<b>Extremismus und Radikalisierung - Kriminologisches Handbuch zur aktuellen Sicherheitslage</b>“ (Dienstbühl 2019) findet sich – trotz umfassender und systematischer Struktur und Gliederung - kein eigenes Kapitel über Kindheit/Trauma/Familie und Extremismus. In dem genannten Band taucht nach meiner Suche (per E-Book Suchfunktion) sogar nicht ein einziges Mal das Wort „Kindheit“ auf. </p><p>Im recht komplexen Handbuch über Rechtsextremismus von Armin Pfahl-Traughber (2019). „<b>Rechtsextremismus in Deutschland - Eine kritische Bestandsaufnahme</b>“ gibt es im Kapitel 24 "Erklärungsansätze" kurze Einlassung auf den Autoritarismus, aber Kindheit & Trauma ist wie so oft kein Thema, wenn es um Ursachen geht.</p><p>Der Extremismusforscher Matthias Quent (2020) hat eine Art populärwissenschaftliche Handreichung unter dem aussagekräftigen Titel „<b>Rechtsextremismus: 33 Fragen - 33 Antworten</b>“ abgeliefert. Nicht in einer einzigen Frage bzw. Antwort geht er auf Kindheitshintergründe der Extremisten ein, was auch für etliche andere Einzelarbeiten von entsprechend Forschenden gilt. </p><p><b>Das aktuellste Beispiel (und Auslöser für diesen Blogbeitrag!) ist das Buch </b>„<b><i>Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis</i></b>“ (Rothenberger, Krause, Jost & Frankenthal 2022), das Mitte diesen Jahres erschienen ist. Im umfassenden Index taucht das Wort „Kindheit“ gar nicht auf, was an sich schon deutlich macht, wie wenig Bedeutung man diesem Bereich zukommen lässt. Dabei hätte der Index das Wort sogar aufnehmen können, denn an einer einzigen Stelle im Buch wird – innerhalb von zwei bis drei Sätzen - eine Verbindung hergestellt: <br />„<i>Eine entwicklungspsychologische Perspektive interessiert sich für die Auswirkungen ungünstiger früher Beziehungserfahrungen auf die spätere Identitätsentwicklung. Wenn in der Kindheit Vernachlässigung und Gewalt eine Rolle spielten, besteht ein erhöhtes Risiko für spätere psychosoziale Probleme</i> <i>(Schulabbrüche, Delinquenz, Substanz- und Alkoholmissbrauch, Risikoverhalten)</i>“ (Sischka 2022, S. 360). Dass Kindheitseinflüsse nebenbei in kurzen Sätzen erwähnt werden und nicht als eine der zentralsten Ursachen hervorgehoben werden, erlebe ich immer wieder. </p><p>Unter dem Begriff „Trauma“ finden sich im Index zwar sechs Stellen im Buch, aber keine von diesen bezieht sich auf mögliche Traumahintergründe der Terroristen/Extremisten. <br />Und wo wir gerade dabei sind: In dem Handbuch werden etliche Terroristen besprochen oder erwähnt, von Anders Breivik, Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Osama Bin Laden bis hin zu Timothy McVeigh. All diese genannten Akteure hatten nach meiner Recherche eine traumatische Kindheiten, nur scheint es keinen für das Handbuch gewonnenen Experten zu geben, der/die sich damit befasst hat. </p><p>Ganz im Gegenteil findet sich an einer Stelle (Kapitel: „<i>Prozesse und Faktoren von Radikalisierung: Ein Überblick</i>“ von Daniela Pisoiu) sogar quasi die Negierung von Kindheitseinflüssen. Zunächst geht Pisoiu auf die psychische Situation von Anders Breivik ein und unterstreicht, dass dieser voll für seine Taten zur Rechenschaft gezogen bzw. als voll schuldfähig eingestuft wurde. Sie schließt dem an: <br />„<i>Die `Normalität` von Terroristen bezieht sich jedoch nicht nur auf den Aspekt der psychischen Gesundheit. Denn die Auffälligkeiten, die gegebenenfalls in ihren Lebensläufen auftauchen (z.B. problematische Kindheit, keine abgeschlossene Schulbildung) reichen nicht aus, um einen signifikanten Unterschied zur Gesamtbevölkerung aufzuzeigen und so eine bestimmte Teilmenge der Bevölkerung zu definieren, die für Terrorismus prädestiniert sein könnte – das sogenannte Spezifitätsproblem</i>“ (Pisoiu 2022, S. 344). Einige Zeilen weiter zitiert sie dann noch eine Studie von Donatella della Porta über 29 ehemalige linke Militante, die die „<i>Atmosphäre in ihrer Familie als gut oder sehr gut bezeichneten</i>“ (ebd.). <br />Diese zitierte Quelle habe ich mir durchgesehen. Donatella della Porta schreibt kurz vor ihrem Hinweis auf die 29 Militanten sogar noch folgendes: „(…) <i>past research has found no sign of any typical pattern in the primary socialization of militants, no sign of particular family problems or of an authoritarian upbringing</i>. (…)” (della Porta 2012, S. 233). Die zitierte Studie über die 29 Militanten kann ich leider nicht bzgl. Methodik etc. überprüfen, da sie auf italienisch ist. Schaut man sich den Beitrag von della Porta aber genau an, dann greift sie rein auf Quellen zurück, die <b>alle zwischen 1950 und 1990</b> veröffentlicht wurden. Für diesen Zeitraum stimmt ihr zuvor zitierter Satz, denn es gab noch viel zu wenig Material über Kindheitshintergründe von Extremisten. Heute sieht dies ganz anders aus und ich kritisiere erneut, dass dies in einem Handbuch aus dem Jahr 2022 über Terrorismus nicht deutlich aufgeführt wurde. Gleichzeitig wundere ich mich darüber, dass della Porta in dem Buch "<i>Terrorism Studies. A Reader</i>", das im Jahr 2012 erschienen ist, einen solchen Satz schreibt. Zwischen 1990 und 2012 liegen schließlich über 20 Jahre! Auch in diesem Zeitraum sind so einige Arbeiten erschienen, in denen es um Kindheiten von Extremisten geht. </p><p>Merkwürdig ist auch - um wieder auf das Handbuch "Terrorismusforschung" zurückzukommen -, dass Pisoiu zusammen mit anderen AutorInnen (Srowig et al. 2018) in dem Heft „<i><a href="https://www.hsfk.de/fileadmin/HSFK/hsfk_publikationen/prif0618.pdf" target="_blank">Radikalisierung von Individuen: Ein Überblick über mögliche Erklärungsansätze</a></i>“ vor allem im Kapitel 4.2 Studien besprochen hat, die ein hohes Maß an Belastungen in der Kindheit von Extremisten aufzeigen. Auf diese Veröffentlichung wollte ich innerhalb meines Blogbeitrags hier sogar ursprünglich gesondert hinweisen: Als ein seltenes Positivbeispiel für das Hinsehen auf die Kindheitshintergründe von Extremisten! Erst dann entdeckte ich, dass Pisoiu ja sogar Mitautorin war. Vor diesem Hintergrund verwundert es umso mehr, dass sie nun gerade im Handbuch „<i>Terrorismusforschung</i>“ Kindheitseinflüsse quasi beiseiteschiebt.</p><p>Es bleibt Fakt, dass es auf der anderen Seite viele Einzelstudien und Arbeiten gibt, die zusammengetragen ein sehr aussagekräftiges Gesamtbild ergeben. Dies sieht man z.B. in meinem Beitrag „<a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2020/09/kindheitsursprunge-von.html">Kindheitsursprünge von Rechtsextremismus: DIE gesammelten Studien</a>“ bzw. im <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2016/10/index.html">Inhaltsverzeichnis meines Blogs</a>.<br />Man kann auf der einen Seite also nicht sagen, dass sich DIE Extremismusforschung blind gegenüber Kindheitseinflüssen stellt. Sonst hätte ich ja nicht all die Daten und Fakten zusammentragen können, die ich fand. Auf der anderen Seite wird das Thema immer wieder ausgeblendet oder offensichtlich als zu "banal" zur Seite geschoben (was die Inhalte bzw. nicht vorhandenen Inhalte dazu in den kritisierten Übersichtsarbeiten zeigen). Das Missverhältnis zwischen auf der einen Seite viel empirischem Material (durch diverse Einzelarbeiten oder auf Grund von Biografieforschung wie von mir <a href="https://kriegsursachen.blogspot.com/2016/10/index.html">in meinem Blog</a> vielfach gezeigt) und fehlender Zentriertheit vieler Forschender auf Kindheitseinflüsse ist also an sich erklärungsbedürftig. </p><p>Die fehlende Zentriertheit der Extremismusforschung auf Kindheitserfahrungen findet ihren Widerhall auch bei der Bereitstellung von Mitteln für die Prävention. Die Bundesregierung hat beispielsweise am 25.11.2020 den „<i>Maßnahmenkatalog des Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus</i>“ (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2020) veröffentlicht. Insgesamt werden 89 Maßnahmen aufgeführt, die wiederum verschiedenen Ministerien zugeordnet wurden. Eine Milliarde Euro wurde zur Verfügung gestellt, um die Maßnahmen umzusetzen. In dem Katalog gibt es keine einzige Maßnahme, die in Richtung Kinderschutz als Extremismusprävention geht. Würde Kinderschutz bzgl. der Maßnahmen der Regierung als Extremismusprävention verstanden, dann würde eine Milliarde Euro allerdings wohl kaum ausreichen. Große Investitionen würden sich hier allerdings lohnen und dies nicht nur im Kampf gegen Extremismus. Eine wirkliche und nachhaltige Zentriertheit der Gesellschaft auf den Schutz und die Unterstützung von Kindern hätte insgesamt viele positive Effekte, was der Gesellschaft am Ende eine Menge an Folgekosten für Gesundheit, Jugendhilfe, Sozialhilfe, Polizei, Verfassungsschutz und Justiz sparen würde.</p><p>Dass es in der Forschung auch anders gehen kann, zeigt der herausragende und wegweisende Beitrag „<b><a href="https://books.google.de/books?id=QzJ3DwAAQBAJ&pg=PA185&lpg=PA185&dq=%22From+Childhood+Trauma+to+Violent+Extremism%22&source=bl&ots=zTsuuZ9WGM&sig=ACfU3U0UvJr4QQfWFXCVbQBA8H3nx9xYfA&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwjUnLvLtfb7AhUF57sIHTqMA6UQ6AF6BAgYEAM#v=onepage&q=%22From%20Childhood%20Trauma%20to%20Violent%20Extremism%22&f=false" target="_blank">From Childhood Trauma to Violent Extremism: Implications for prevention</a></b>“ von Lundesgaard & Krogh (2018) in dem Handbuch „<b>Violent extremism in the 21st century: International perspectives</b>“. Beiträge wie dieser sind eine Seltenheit. Offensichtlich gibt es kaum etablierte Fachleute, die sich auf den Bereich Kindheit und Extremismus fokussiert haben und überhaupt als BeitragsautorInnen für entsprechende Fachbücher infrage kommen. </p><p>Insofern wünsche ich mir für die kommenden Jahre eine Öffnung der Extremismusforschung für Kindheitseinflüsse beim Thema Extremismus, eine Öffnung für Psychohistorie, Psychoanalyse, Traumaforschung und ganz besonders auch die <i>Adverse Childhood Experiences</i> Forschung. Nur dann werden wir die Ursachen umfassend verstehen und langfristig betrachtet nachhaltige Prävention möglich machen können. </p><p><b><br /></b></p><p><b>Quellen:</b></p><p>Ben Slama, B. & Kemmesies, U. (Hrsg.) (2020). <a href="https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Publikationsreihen/PolizeiUndForschung/1_54_HandbuchExtremismuspraevention.html" target="_blank">Handbuch Extremismusprävention. Gesamtgesellschaftlich. Phänomenübergreifend</a>. (Polizei + Forschung, Band-Nummer 54) Bundeskriminalamt Wiesbaden. </p><p>Chenoweth, E., English, R., Gofas, A. & Kalyvas, S. (Hrsg.) (2019). The Oxford Handbook of Terrorism. Oxford University Press, Oxford.</p><p>Della Porta, D. (2012). On individual motivations in underground political organizations. In: Horgan, J. & Braddock, K. (Hrsg.). <i>Terrorism Studies. A Reader</i>. Routledge, London & New York.</p><p>Dienstbühl, D. (2019). Extremismus und Radikalisierung - Kriminologisches Handbuch zur aktuellen Sicherheitslage. Richard Boorberg Verlag, Stuttgart. Kindle E-Book Version.</p><p>Enzmann, B. (Hrsg.) (2013). Handbuch Politische Gewalt: Formen - Ursachen - Legitimation – Begrenzung. Springer VS, Wiesbaden. Kindle E-Book Version. </p><p>Jesse, E. & Mannewitz, T. (Hrsg.) (2018). Extremismusforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden.</p><p>Lundesgaard, A. & Krogh, K. (2018). From Childhood Trauma to Violent Extremism: Implications for prevention. In: Overland, G., Andersen, A. J., Førde, K. E., Grødum, K. & Salomonsen, J. (Hrsg.). <i>Violent extremism in the 21st century: International perspectives</i>. Cambridge Scholars Publishing, Newcastle-upon-Tyne, S. 180-198.</p><p>Pfahl-Traughber, A. (2019). Rechtsextremismus in Deutschland - Eine kritische Bestandsaufnahme. Springer VS, Wiesbaden.</p><p>Pisoiu, D. (2022). Prozesse und Faktoren von Radikalisierung: Ein Überblick. In: Rothenberger, L., Krause, J., Jost, J. & Frankenthal, K. (Hrsg.). <i>Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis</i>. Nomos, Baden-Baden. S. 343-350.</p><p>Presse und Informationsamt der Bundesregierung (2020, 25. Nov.). <a href="https://www.bundesregierung.de/resource/blob/974430/1819984/4f1f9683cf3faddf90e27f09c692abed/2020-11-25-massnahmen-rechtsextremi-data.pdf?download=1" target="_blank">Maßnahmenkatalog des Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus</a>. </p><p>Quent, M. (2020). Rechtsextremismus: 33 Fragen - 33 Antworten. Piper Verlag, München. </p><p>Rothenberger, L., Krause, J., Jost, J. & Frankenthal, K. (Hrsg.) (2022). Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos, Baden-Baden.</p><p>Schmid, A. P. (Hrsg.) (2020). Handbook of Terrorism Prevention and Preparedness. ICCT Press, Den Haag. (freie Onlineversion), <a href="https://icct.nl/handbook-of-terrorism-prevention-and-preparedness/">https://icct.nl/handbook-of-terrorism-prevention-and-preparedness/</a>.</p><p>Sischka, K. (2022). Identitätsprozesse und Radikalisierung. In: Rothenberger, L., Krause, J., Jost, J. & Frankenthal, K. (Hrsg.). <i>Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis</i>. Nomos, Baden-Baden. S. 359-366.</p><p>Spencer, A., Kocks, A. & Harbrich, K. (Hrsg.) (2011). Terrorismusforschung in Deutschland. <i>Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik</i>, Sonderheft 1.</p><p>Srowig, F., Roth, V., Pisoiu, D., Seewald, K. & Zick, A. (2018). Radikalisierung von Individuen: Ein Überblick über mögliche Erklärungsansätze. PRIF Report 6/2018. Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) & Peace Rresearch Institute Frankfurt (PRIF), Frankfurt am Main. <a href="https://www.hsfk.de/fileadmin/HSFK/hsfk_publikationen/prif0618.pdf">https://www.hsfk.de/fileadmin/HSFK/hsfk_publikationen/prif0618.pdf</a></p><p>Wahl, K. & Wahl, M. R. (2013). Biotische, psychische und soziale Bedingungen für Aggression und Gewalt. In: Enzmann, B. (Hrsg.). <i>Handbuch Politische Gewalt: Formen - Ursachen - Legitimation – Begrenzung</i>. Springer VS, Wiesbaden. Kindle E-Book Version. </p><p><br /></p><p><br /></p><p><br /></p><p><br /></p>Unknownnoreply@blogger.com1tag:blogger.com,1999:blog-16293711446370484.post-66333017423940308712022-12-11T17:04:00.001+01:002022-12-11T17:06:57.829+01:00Fallstudie über den Nazi "Tom"<p>Ich habe erneut eine Fallstudie über einen Nazi gefunden:</p><p><b>Smith, A. F. & Sullivan, C. R. (2022). Exiting far-right extremism: a case study in applying the developmental core need framework. <i>Behavioral Sciences of Terrorism and Political Aggression</i>. Onlineveröffentlichung vom 13.06.2022. <a href="https://doi.org/10.1080/19434472.2022.2076718">https://doi.org/10.1080/19434472.2022.2076718</a></b></p><p>Tom war fast 20 Jahre Teil einer sehr bekannten und gewalttätigen Neo-Nazi Organisation in den USA. Die Forschenden trafen ihn für ein langes Interview. Fragen waren vorbereitet, das Gespräch verlief aber auch offen. In dem Forschungsbericht werden auch einige Details aus seiner Kindheit erwähnt.</p><p>Tom traf im Alter von elf Jahren erstmals auf die rechtsextreme Gruppe, genau zu der Zeit, als sein Vater gestorben war. Was ihn an der Gruppe sofort beeindruckte, war der – wie er sagt – „Respekt“, den die Gruppe durch ihr Auftreten bekam. Man könnte auch einfach sagen: Die Leute hatten Angst vor ihnen. „<i>I liked that people feared me … I liked it when people saw me coming, they crossed the street</i>” (S. 8)</p><p>Tom wuchs in einer Nachbarschaft auf, wo er und seine Familie die einzigen „Weißen“ waren. Als Kind hatte er zunächst viele „Schwarze“ als Freunde. Mit den Jahren fühlte er sich aber als „Weißer“ nicht gleich und auch rassistisch behandelt. „<i>In addition to his feelings of social and racial alienation, Tom’s home life was characterized by conflict. He described his biological father as hard-working but largely absent. Tom noted, ‘ … there wasn’t a lot of communication with him [his father], except for when we [Tom and his brother] got in trouble.’ Tom described his father as a former Navy-man, who was a physically abusive disciplinarian. (Tom described being given ‘twenty-five to thirty spanks with a big-ass leather belt’ by his father for relatively minor infractions and childhood pranks.)</i>” (S. 9).<br />Er entschuldigte seinen Vater sogleich für dessen Gewalt und Verhalten, weil dieser ganz ähnlich aufgewachsen sei (sprich mit Gewalt).</p><p>Später trat noch ein Stiefvater in Toms Leben. Tom spricht bewundernd von seiner Mutter. Die Beziehung zu ihr oder ihr Erziehungsverhalten wird aber nicht deutlich. An einer Stelle wird erwähnt, dass seine Mutter Brustkrebs hatte und behandelt werden musste. Es wird leider nicht deutlich, ob diese Situation noch in Toms Kindheit eintraf (was eine weitere schwere Belastung für das Kind bedeuten würde, das ja bereits seinen Vater früh verloren hatte).</p><p>Als er der Nazi-Szene beitrat wurde er innerhalb seiner Familie zum Außenseiter. Da er bereits ab dem 11. Lebensjahr in Kontakt mit der Szene kam, wird es – so meine Vermutung - zu etlichen Konflikten mit Mutter und Stiefvater gekommen sein.</p><p>Schwere traumatische Erlebnisse (väterliche Misshandlungen, Tod des Vaters) sind deutlich belegt, weitere Belastungen sind nicht ausgeschlossen. </p><p>Innerhalb der Nazi Gruppe machte Tom dann sowohl als Täter als auch als Opfer weitere traumatische Erfahrungen. </p><div><br /></div>Unknownnoreply@blogger.com0